„Black Mirror“: Innovation als Geisel der eigenen Ambitionen
Dystopie, die sich kläglich neu erfinden will
Es war lange Zeit still um Charlie Brookers dystopische Gesellschaftskritik-Anthologie „Black Mirror“. Brooker selbst zweifelte während der Pandemie gar daran, ob es noch weitere Episoden geben würde, da die Realität und die Pandemie im Besonderen, die satirischen Blicke eingeholt hätte und er warf die Frage auf, ob die Zuschauer aktuell so etwas wie „Black Mirror“ überhaupt verdauen könnten. Daraus entwuchs nun eine anderweitig ausgerichtete sechste Staffel mit ganzen fünf Folgen (zur Erinnerung: die fantastische fünfte Staffel hatte nur drei). Brooker gab zu Protokoll, dass „Black Mirror“ sich stetig fortentwickeln solle und dass mit dieser Staffel „grundlegende Annahmen“, die bei der Serie gemacht wurden, diesmal absichtlich über den Haufen geworfen wurden und er und sein Team gar Richtungen einschlugen, in die „Black Mirror“ vehement niemals gehen sollte. Die daraus resultierende sechste Staffel bietet ein Potpourri aus gewohnter gesellschaftskritischer Sci-Fi-Dystopie mit etwas mehr Humor – an die ersten in Großbrittanien produzierten Staffeln erinnernd – und halbgarem Horror, der leider großteils auf der Strecke hätte bleiben können.
Mit „Joan is awful“ („Joan ist schrecklich“) eröffnet „Black Mirrors“ sechste Staffel in gewohnter Stärke. Die titelgebende Joan (gemimt von Annie Murphy) kommt nach einem aufwühlenden Tag nach Hause, nur um auf der hiesigen Streaming-App, Streamberry genannt, plötzlich eine neue Serie zu entdecken mit dem Namen „Joan is awful“, die ihre akuten Ereignisse des Tages in nahezu Echtzeit dramaturgisiert wiederzugeben scheint, während Joan in der Streaming-Serie von der „echten“ Salma Hayek gespielt wird. Nachdem die Serie über Nacht zum Hit wird, geht selbstverständlich Joans Leben in Windeseile den Bach runter, und der Schleier um blind akzeptierte Nutzungsbedingungen, mithörende Mobil- und Smartgeräte, K.I-generiertem Content und personalisierte Werbungen beginnt zu fallen. Dabei bleibt es aber nicht bloß und in der Laufzeit der Stunde kommt es noch zu weiteren Enthüllungen und Twists, die mal mehr oder auch weniger zünden – übrigens ein wiederkehrendes Motiv in dieser Staffel. „Joan is awful“ spielt häufiger mit der Absurdität der Situation und drückt beim Humor aufs Gas, allerdings fühlt es sich häufig amerikanisch-erzwungen an und man nimmt nicht allen Schauspielern ihre leicht überzogenen Rollen ab, denn auch Annie Murphy und Salma Hayek können eigentlich mehr abliefern. Auf der anderen Seite könnte dieser gespielte Exzentrismus auch mit einem der späteren Wendungen erläutert werden, was bei manchen Zuschauern zur Genialität angerechnet werden könnte – oder für andere Beobachter bloß überzogen und amerikanisiert wirken. Ein Vorwurf, den sich „Black Mirror“ häufig seit dem Übergang zu Netflix gefallen lassen muss.
Mit „Loch Henry“, der zweiten Episode, beginnt Charlie Brooker neue Richtungen einzuschlagen, während sich die Protagonisten, Davis und Pia, ein Pärchen und liebende Filmstudenten, in Davis‘ alte schottische Heimat begeben, um eine Dokumentation zu drehen. Nach kurzem Aufenthalt bei Davis‘ Mutter überdenken sie jedoch ihr Thema und möchten eine True-Crime-geartete Dokumentation über einen Serienkiller drehen, dem Davis‘ Vater zum Opfer fiel. Der Humor in „Loch Henry“ fühlt sich deutlich britischer an als noch in „Joan is awful“ und fügt sich nach gewohnter, gar makabrer „Black Mirror“-Art ins Geschehen. „Loch Henry“ ist eine wunderschön anzusehende Episode, die besonders durch Myha’la Herold und Samuel Blenkin strahlt, die Pia und Davis spielen, und deren Unsicherheit und Nervosität in ungewohnten Umgebungen spürbar machen. Das Problem ist jedoch, dass viele der Wendungen und Ablauf der Folge schlichtweg absurd durchschnittlicher Horror sind, und auch für jeden gewohnten Krimi-Liebhaber zehn Meilen gegen den Wind zu riechen sind – und sich irgendwie einfach nicht nach „Black Mirror“ anfühlen. Aber dazu gleich noch mehr.
Bei „Beyond the Sea“ handelt es sich neben „Joan is awful“ um die beste Episode der Staffel, die Astronauten eines alternativen Geschichtsverlaufs im Jahre 1969 in Avatar-artigen Replika-Körpern auf unserer Erde leben lässt, während sich ihre echten Körper um eine Raumstation im Weltall kümmern müssen über etliche Jahre hinweg. Cliff (Aaron Paul) und David (ein energischer Josh Hartnett) sind immer wenige Stunden der Woche im Weltall aktiv, und fristen ihr Dasein jedoch in menschlich aussehenden Roboterkörpern bei ihren Familien auf der Erde, bis eines Nachts ein Charles Manson ähnlicher Kultanführer (gespielt vom fantastischen und zu wenig genutzten Rory Culkin) in Davids Zuhause einbricht, seine Replika zerstört und die Familie umbringt. David muss nun die restlichen Jahre der Mission im Weltall verbringen, ohne Chance auf eine Rückholung oder den Bau einer neuen Replika. Aus Mitleid bietet Cliff dem vereinsamenden Witwer jedoch an, seine Replika für wenige Stunden nutzen zu dürfen, während Cliff sich um die Raumstation kümmert… „Beyond the Sea“ ist eine Mischung einer Robert-A.-Heinlein-Story, fiktiver Historie und einem Hauch Pastoralprosa, die besonders mit ihrer eindringlichen und zunächst ruhigen Atmosphäre besticht. Selbst wenn man erahnt, in welche Richtungen sich das Narrativ bewegen wird, überzeugt das menschliche Drama dennoch mit Tiefe und durch bestechende ruhige, malerische Momente. Besonders der viele Jahre fürs öffentliche Auge verschollene Josh Hartnett brilliert als sichtlich liebender Ehemann, der alles verliert. Lediglich das Ende der Folge wirkt etwas zu plakativ und voraussehbar, bleibt aber insgesamt ein starker Erfolg für „Black Mirror“.
Mit der vierten Episode, „Mazey Day“, erreicht die sechste Staffel leider ihren Tiefpunkt und legt alle Schwächen des neuen Ansatzes dar. Bo (Zazie Beetz) treibt als fragwürdige Paparazzi, einen Schauspieler in den Selbstmord und kehrt daraufhin ihrem Beruf den Rücken. Ein äußerst lukratives Angebot lockt sie jedoch wieder in den moralischen Morast zurück und Bo begibt sich auf die Suche nach der abgetauchten Schauspielerin Mazey Day, die immer weiter dem Alkohol und Drogen verfällt, nachdem sie ohne das Wissen anderer einen Menschen eines Nachts überfuhr… „Mazey Day“ ist leider schwer zu besprechen, ohne auf die Wendungen zu sprechen zu kommen, die sich in den letzten 5-10 Minuten der Folge abspielen, und genau daran hinkt die Episode auch, denn der Plot driftet unerwartet in gänzlich absurde Richtungen, die zu allem Überfluss auch noch so klischeehaft fortgeführt werden, dass man sich für „Black Mirror“ beinahe fremdschämen kann. Ganz besonders, weil das Gezeigte in keiner Form neu, zerebral oder auch nur clever ist – und wir die Art von Geschichte seit den 1940ern in unzähligen Variationen bis zum Erbrechen bereits kennen – gänzlich ohne Humor oder auch nur ein Augenzwinkern wird der Plot bis zum gähnenden Finale brachial auf der totgefahrenen Spur zum Stillstand gebracht. Zurück bleibt die Frage, warum zum Teufel Charlie Brooker und sein Team so etwas erzählen wollten.
Mit „warum zum Teufel“ sind wir auch schon bei der letzten Episode, „Demon 79“, angekommen, die sich, wie viele der neuen Episoden erneut dem Horror widmet und die junge, indisch-stämmige Schuhverkäuferin Nida zeigt, die sich täglich neuen rassistischen Äußerungen ihrer Mitarbeiter und des Chefs aussetzen muss, während sie in Gewaltfantasien schwelgt und aus ihrer Rolle ausbrechen will. Zum Mittagessen in den Keller abgeschoben, stößt sie auf einen kleinen Talisman, der dem Dämonen Gaap zu gehören scheint, der sich ihr schnurstracks offenbart und eine unabdingliche Aufgabe erteilt. Nida muss innerhalb von drei Tagen drei Menschen opfern, da sonst die Welt untergehen soll. Im Verlauf der Episode kommen dann aber natürlich noch weitere Schwierigkeiten dazu. Das in „Mazey Day“ vermisste Augenzwinkern ist hier zumindest im Vollen auszukosten und mit „Demon 79“ offenbart sich die vermutlich „britischste“ Episode der Staffel, zumindest wenn es um den Humor geht. Anjana Vasan spielt eine äußerst überzeugende, sichtlich zerrüttete und verunsicherte Nida, die sich trotz ihrer Fantasien ungläubig ihrer fragwürdigen Aufgabe stellen muss und selbstverständlich den Wahrheitsgehalt des Dämonen Gaap hinterfragt, aber nicht mit der Last des Weltuntergangs auf ihrem Gewissen leben will. „Demon 79“ zündet aber letzten Endes nicht ganz, weil es wie auch bei „Mazey Day“ und „Loch Henry“ Parallelen zu anderen, bereits lange etablierten Horrorwerken aufwirft, die es schlicht und einfach besser oder cleverer lösten. Erschwerend kommt hinzu, dass hier der Plot ungewollt frappierende Ähnlichkeiten zu Paul Tremblays Roman „Das Haus am Ende der Welt“ (im Shop) aufweist (als „Knock at the Cabin“ von M. Night Shyamalan verfilmt) und sich erneut nicht so ganz in „Black Mirror“ einfügen lassen will, auch wenn es ein bewundernswerter Versuch ist.
Alles in allem hinterlässt die sechste Staffel von „Black Mirror“ einen fahlen Beigeschmack und wirft die Frage auf, warum Charlie Brooker unbedingt das Rad neu erfinden wollte mit solch ausgelutschten und abgedroschenen Ideen. Dies wäre alles nicht so schlimm, hätten es Serien wie „Geschichten aus der Gruft“, „Twilight Zone“ oder Werke wie „Creepshow“ und unzählige andere nicht schon deutlich besser gezeigt. Gerade, weil „Black Mirror“ in einer stagnierenden TV-Welt lange das innovativste Licht war, das nun aber spürbar zu flackern beginnt.
„Black Mirror“ Staffel 6 läuft seit dem 15. Juni 2023 exklusiv beim Streamingdienst Netflix.
Black Mirror • Großbritannien/USA 2023 • Regie: Ally Pankiw, Sam Miller, John Crowley, Uta Briesewitz, Tobey Haynes • Darsteller: Zazie Beetz, Josh Hartnett, Myha’la Herrold, Annie Murphy, Aaron Paul, Anjana Vasan, u.v.m.
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