22. März 2018 2 Likes

Carries Schwester aus dem hohen Norden!

„Thelma“: Vorne toll, hinten (ein bisschen) oll!

Lesezeit: 3 min.

Auf dem ersten Blick möchte man meinen, eine Variante von Stephen Kings Roman „Carrie“, beziehungsweise dessen 1976 veröffentlichter, kongenialer Verfilmung von Brian De Palma, vor sich zu haben, denn der Plot geht so: Das schüchterne Landei Thelma lässt ihr hyperchristliches Elternhaus hinter sich, um in der Großstadt zu studieren, und wie jeder ordentliche Student weiß, ist das eigentlich Reizvolle am Studentenleben natürlich nicht die Studiererei, sondern Wein, Weib und Gesang. Und so wird das Mauerblümchen mit allerlei Verlockungen der gänzlich unchristlichen Art konfrontiert, am meisten bringen sie die aufkeimenden Gefühle für Mitstudentin Anja in einen inneren Konflikt, der durch die ständigen Kontrollanrufe der überbesorgten Eltern nicht gerade besser wird. Doch plötzlich wird Thelma von epilepsieartigen Anfällen heimgesucht, die Ärzte stehen vor einem Rätsel. Als Aja plötzlich spurlos verschwindet, sucht Thelma Zuflucht bei den Erzeugern und entdeckt ein gut gehütetes Familiengeheimnis, offenbar verfügt das junge Mädchen über telekinetische Kräfte, die sich nun den Weg an die Oberfläche gebannt haben…

Auch wenn De Palmas Film unübersehbar seine Fußstapfen in Joachim Triers vierter Regie-Arbeit hinterlassen hat – in einer Szene gibt es eine deutliche, aber dennoch erfreulich subtile Hommage an das große Vorbild –, sondert sich Trier, ganz kühler Skandinavier, vom exaltierten Stil De Palmas völlig ab und fährt eine ganz andere Route. Er ist weniger interessiert an der fantastischen Komponente, sondern rückt gänzlich die sensibel erzählte Coming-Of-Age-Story einer jungen Frau in den Vordergrund, die zwischen religiöser Repression und den unzähligen Versprechen der ganz großen Freiheit zu sich selbst finden muss. Das wird von Newcomerin Eili Harboe absolut glänzend gespielt, Thelma wirkt tatsächlich so, als ob sie ihren Emotionen immer einen Schritt hinterherhinkt, und von Trier einfühlsam mit großen, symbolisch aufgeladenen Bildern inszeniert.

Als Charakterporträt funktioniert das Ganze über weite Teile sehr gut, der Punkt ist aber, dass „Thelma“ keinen wirklichen Punkt hat. So opulent und vielschichtig das Ganze auch daherkommt, Trier will ebenso einen Genrefilm abliefern, traut sich aber nicht die Karten auszuspielen, sondern verliert sich schlussendlich in einem überraschend konventionellen letzten Viertel, das mit einer enttäuschend banalen „Steh zu Dir!“-Message die Zuschauer nach Hause schickt und dessen Enthüllung der tragischen Vergangenheit der Protagonistin weiterhin nicht so ganz durchdacht wurde: Einerseits nehmen die Eltern als verknöcherte Religionsheinis durch die Bank weg den Part der Antagonisten ein, anderseits kann man zum Ende deren Sorgen, Nöte und auch Handeln durchaus verstehen, immerhin wurden die beiden mit einer Tochter gesegnet, die praktisch innerhalb eines Augenblinzelns Menschen verschwinden lassen kann – da muss es einem ja Angst und Bange werden!

Sicher, „Thelma“ ist trotzdem absolut sehenswert und wartet mit einer Reihe ikonischer Momente auf (besonders toll der Epilepsietest beim Arzt, eine Sequenz, die förmlich die Leinwand sprengt), aber er wirkt unrund und zudem ein wenig selbstgefällig, wie ein Genrefilm, der sich zu fein für einen Genrefilm ist.

Dass man einen Stoff dieser Art eleganter, schlüssiger und vor allem rotziger über die Bühne bringen kann, hat erst vor ein paar Monaten Julia Ducournaus ähnlicher, allerdings in der Horrorabteilung beheimateter, absolut famoser „Raw“ bewiesen, der bei uns gnadenlos direkt auf Scheibe verramscht wurde. Aber gut, zugegeben, angeknabberte Finger und pinkelnde Frauen sind nun mal nicht jedermanns Sache.

„Thelma“ startet am 22.03.2018 im Kino.

Thelma (Norwegen/Frankreich/Dänemark/Schweden 2017) • Regie: Joachim Trier • Darsteller: Eili Harboe, Kaya Wilkins, Henrik Rafaelsen, Ellen Dorrit Petersen, Anders Mossling, Vanessa Bogli, Steinar Klouman Hallert, Oskar Pask, Grethe Eltervåg

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