23. März 2020 2 Likes

Die Menscheit? Kannste vergessen

„Der Schacht“ - Zwischen Kapitalismuskritik und Splattergroteske

Lesezeit: 3 min.

Das sich „Der Schacht“ innerhalb kürzester Zeit zu einem der beliebtesten Filme auf Netflix mauserte, ist kein Wunder, denn die garstige Dystopie wirkt wie ein zutiefst sarkastischer Kommentar auf all die völlig Bekloppten da draußen in ihren Klopapier-Palästen.

Achtung! Die Review enthält sanfte Spoiler!

In einem gefängnisartigen, unterirdisch gelegenen Turm müssen sich je zwei Insassen, von denen jeder nur einen Gegenstand nach Wahl mitnehmen durfte, ein Stockwerk teilen. Einmal am Tag fährt eine Plattform durch ein Loch in der Mitte der Böden und Decken, auf der sich Essen befindet, das theoretisch für alle reichen würde. Jeder hat zwei Minuten um sich zu verköstigen, nichts darf behalten werden, ansonsten wird das jeweilige Stockwerk entweder extrem erhitzt oder extrem gekühlt. Es wird zwar reichlich und vom Feinsten aufgetischt, so wirklich haben aber nur die in den obersten Bereichen was davon, da sich jede Etage mit den Resten der oberen zufrieden geben muss, was natürlich bedeutet, dass die, die als Erste dran sind, schaufeln, als ob’s kein Morgen gibt. Sicher können sich die Oberen aber auch nicht fühlen, denn am Ende eines jeden Monats wird die Belegschaft in unterschiedliche Bereiche verfrachtet, wer erst oben war, kann kurze Zeit später schon wieder unten sein. In diesem zur Realität gewordenen Alptraum wacht eines Tages Goreng auf, der sich freiwillig (und ahnungslos) in die Institution begeben hat, um mit dem Rauchen aufzuhören und ein Buch zu lesen, aber jetzt feststellen muss, dass er zwar „Don Quixote“ dabei hat, sein Mitbewohner Trimagasi aber ein großes scharfes Messer …

Die politische Allegorie liegt natürlich klar auf der Hand, der Debütfilm von Galder Gaztelu-Urrutia, der ein klein wenig wie „Snowpiercer“ (2013) in der Vertikalen mit einem Schuss „Das große Fressen“ (1973) anmutet, kommt als wenig subtile Kritik ans kapitalistische Klassensystem daher, kann aber ebenso als pechschwarzer Blick auf die conditio humana verstanden werden, denn trotz Wechsel der Ebenen lernen die Insassen nicht das Geringste draus und machen gerade so weiter wie vorher und selbst die, die meinen das System ändern zu können, werden scheitern, denn der Mensch ist so wie er ist, helfen kann da nur ein Reboot.

Was das Ganze aber trotzdem so ungemein sehenswert macht, ist seine herrlich wilde Unberechenbarkeit. Das macht bereits die Porträtierung von Goreng deutlich, der sich mal naiv, mal emotional, mal irrational – eben menschlich – verhält und trotz aufkeimender guter Absichten nicht gerade zur uneingeschränkten Identifikation einlädt. In Kombination mit den anderen, ebenso nur schwer einzusortierenden Charakteren und diversen Drehbuch-Kniffen (es purzeln zum Beispiel immer mal wieder Menschen überraschend runter), zieht ein wunderbares, nahezu hysterisches everything-goes-Klima auf, das das Geschehen in Bewegung hält. Zudem pendelt Gaztelu-Urrutias in atmosphärischen, grün-blau oder intensiv-roten Bildern eingefangene und mit 90 Minuten erfreulich schlank gehaltene Dystopie hemmungslos zwischen Mystery, philosophischen Einsprengseln, überraschend brachialen, bluttriefenden (der Film ist selbst auf Netflix ab 18), aber nie wirklich selbstgefälligen Gewaltszenen und Gross-Out-Satire (Achtung! Es wird nicht nur Menschenfleisch gegessen, es wird auch gepisst und gekackt – empfindliche Gemüter sollten sich’s fünfmal überlegen!) ohne je auseinander zufallen, sämtliche Elemente werden mit bedacht eingesetzt und greifen ineinander über.

Der spanische Höllentrip hätte in all seiner Galligkeit und seinem Irrsinn das Zeug zu einer Art Splatter-Buñuel, leider aber fehlt im letzten Drittel dann doch etwas der Mut zur allerletzten Konsequenz und es werden ein paar zu viele der bis dato so reizvollen Leerstellen im Plot gefüllt, was letztendlich nicht nötig gewesen wäre und sich vor allem in Form eher überflüssiger Flashbacks bemerkbar macht.

Dennoch: „Der Schacht“ zeigt dem größten Teil der seit ein paar Jahren so populären Dystopien mühelos einen kotverschmierten Mittelfinger, so muss Science-Fiction sein, der Realität voraus und doch gleichzeitig so nahe dran, dass man regelrecht Beklemmungen in der Brust bekommt.

Da gibt’s natürlich mit Nachdruck einen Anguckbefehl – direkt vom obersten Stockwerk!

„Der Schacht“ ist seit dem 20.03.2020 auf Netflix abrufbar.

Der Schacht (Spanien 2019) • Regie: Galder Gaztelu-Urrutia • Darsteller: Ivan Massagué, Zorion Eguileor, Antonia San Juan, Emilio Buale, Alexandra Mansangkay, Zihara Llana

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