21. Dezember 2021 3 Likes

Weisheit

Zu Weihnachten: der bescheidene Vorschlag, mit offenen Augen und Ohren durch die Welt zu gehen

Lesezeit: 5 min.

Es ist wieder Weihnachten, und in den Medien herrscht Bedarf an der Klärung grundsätzlicher Fragen. Was ist Weisheit?, fragte etwa kürzlich eine Radiosendung, und auch wenn diese Frage einen Bart hat, der so lang wie der des ältesten Propheten ist, finde ich sie dennoch interessant. Nicht weil sie so schwer zu beantworten ist, sondern im Gegenteil: Weil sie eigentlich recht leicht zu beantworten ist.

Das mag Sie überraschen, denn beißt sich die Philosophie nicht schon seit mehr als dreitausend Jahren an der Frage, was Weisheit nun genau sei, die Zähne aus? Und man käme zu nichts anderem mehr, möchte man all die Bücher studieren, die allein in den letzten zehn Jahren über die Weisheit geschrieben wurden. (Erwartungsgemäß ist der Ferne Osten in dieser Bücherflut stark vertreten, und so habe ich mir fest vorgenommen, nächstes Jahr endlich Meister Sheng Yens unbestrittenes Meisterwerk „Shattering the Great Doubt: The Chan Practice of Huatou“ zu lesen. Oder übernächstes Jahr.)

Auch wer nicht die nötige Zeit zum Studieren all dieser Weisheitsbücher hat, kennt natürlich das Bild, das die Märchen und Mythen von einem weisen Menschen malen: ein älterer Mann (mitunter, aber nicht sehr häufig, auch eine ältere Frau), der die Leidenschaften seiner Mitmenschen durchschaut, zu jedem Problem eine salomonische Lösung parat hat und sich seiner eigenen Mängel stets bewusst ist. Wir dagegen, die wir ehrgeizig und verbissen durch den Tag hetzen und am Wochenende Fußball oder Netflix schauen – wir sind in diesem Sinne nicht weise und werden es vielleicht nie sein.

Ja, vielleicht. Vielleicht aber haben wir einfach eine falsche Vorstellung von der Weisheit. Es ist ausgesprochen klug, sich etwa seiner eigenen Mängel bewusst zu sein, schon deshalb, weil unsere Sinne nur einen Bruchteil der Welt wahrnehmen können. Aber so wie man nicht unbedingt klug sein muss, um anständig zu handeln, muss man auch nicht unbedingt klug sein, um weise zu sein.

Wirklich weise nämlich nenne ich jene, die verstehen, dass der Mensch – also wir, Sie, ich, die Menschheit in all ihren schönen und fragwürdigen Ausprägungen – nicht das alleinige Maß der Welt ist. Und also auch nicht das alleinige Maß der Zukunft. Auch das hört man manchmal von alten grauen Männern oder Frauen, und man könnte meinen, man müsse selbst erst alt und grau werden, um es wirklich zu verstehen. Aber das stimmt ganz und gar nicht. Zum Beispiel war ich einmal mit einem Bekannten und seiner zehnjährigen Tochter spazieren. Ich sah am Himmel eine interessante Wolkenformation, deutete darauf und sagte: „Schaut mal, die Wolke da sieht aus wie ein Mann mit einem Zylinder auf dem Kopf.“ Worauf die zehnjährige Tochter höflich erwiderte: „Die Wolke sieht aus wie eine Wolke.“

Ich halte das für einen sehr weisen Satz. Vielleicht nehmen Sie sich ja an Weihnachten etwas Zeit und denken über diesen Satz nach.

Auch sonst übrigens ist mir in meinem Leben schon allerlei Weisheit begegnet. Hier eine kleine Auswahl:

Die Botanikerin und Autorin Robin Wall Kimmerer empfiehlt in ihrem Buch „Braiding Sweetgrass“, nicht das von der Natur zu nehmen, was man braucht, sondern das, was einem gegeben wird. Und wenn man es nimmt, sollte man sich dafür bedanken. Ganz ernsthaft. (Kimmerers Buch ist dieses Jahr endlich auch auf Deutsch erschienen, und wenn Sie noch ein Weihnachtsgeschenk für einen lieben Menschen suchen, wäre das meine Empfehlung.)

Der Yogalehrer Otana Mirza, der ein so guter Yogalehrer ist, dass ich ihn einmal fragte, ob er nicht, wie alle anderen Yogalehrer, ein Yogabuch schreiben wolle. Nein, das wolle er nicht, erwiderte Otana. Und dann empfahl er mir, nicht zu viele Yogabücher zu lesen. Oder gar keine. Weil, so Otana: „Es ist deine Praxis.“

Der Manul im Münchner Tierpark Hellabrunn. Ein Manul ist eine asiatische Wildkatze, deren weltweiter Bestand so stark zurückgegangen ist, dass sie vom Aussterben bedroht ist. Man kann im Münchner Zoo ein Exemplar bewundern. Heißt es. Aber kein einziges Mal, als ich den Manul dort besucht habe, hat er sich mir gezeigt. Offenbar hat er keine große Lust, sich dem Menschen, der seine Art vernichtet, zu zeigen. Ich hätte das auch nicht.

Reinhard Kapfer hat viele Jahre lang für den Heyne-Verlag Science-Fiction-Bücher Korrektur gelesen. Außerdem hat er an der Universität Ethnologie gelehrt. Im September dieses Jahres ist er gestorben. Das letzte Mal, als wir miteinander telefonierten, erzählte er mir, dass er einmal einen afrikanischen Stamm besucht hat, der nichts von Astrophysik versteht und dennoch weiß, dass praktisch alles in der Welt unendlich weit von uns entfernt ist. Ich werde Reinhard Kapfer nie vergessen.

Der amerikanische Performancekünstler Andy Kaufman ist leider schon 1984 gestorben, doch seine Shows sind glücklicherweise auf YouTube archiviert. In einer davon rennt er eine Treppe rauf und runter, die für den Zuschauer nicht sichtbar ist. Aber sie muss ja irgendwo sein, diese Treppe, oder bilden wir sie uns etwa nur ein? (Miloš Forman hat Kaufmans Leben in „Man on the Moon“ verfilmt, und wenn Sie sich selbst ein Geschenk zu Weihnachten machen wollen, dann sehen Sie sich diesen Film an.)

Die buddhistische Nonne und Aktivistin Shih Chao-hwei antwortete einmal in einem Interview auf die Frage, ob man mit Meditation die Welt verbessern könne: „Wer meditiert, wird mit großer Wahrscheinlichkeit seine körperliche und geistige Gesundheit verbessern, und das ist an sich eine gute Sache. Um den Kapitalismus zu reformieren, brauchen wir mehr Rechte für Arbeiterinnen und Arbeiter, starke Gewerkschaften, Gesetze gegen Überstunden und so weiter.“

Mein Lektorenkollege Kristof Kurz. Um genau zu sein, mein ehemaliger Kollege Kristof Kurz, denn er hat sich vor geraumer Zeit aus dem Angestelltendasein verabschiedet und sich als Übersetzer selbstständig gemacht. Man könnte sagen, er hat sich vom Sicheren ins Prekäre begeben, und als ich ihn einmal fragte, ob das wirklich eine gute Entscheidung war, meinte er: „Es ist großartig, wenn man am Tag nur zwei oder drei E-Mails bekommt.“

Und dann habe ich vor einigen Monaten ein Anzughemd zu Frau Amini gebracht, die bei mir ums Eck einen kleinen Schneiderladen betreibt. Frau Amini ist Iranerin, und fast immer, wenn man ihren Laden betritt, hat sie das Handy in der Hand und unterhält sich mit jemandem auf Persisch. Ich verstehe natürlich kein Wort von ihren Gesprächen, aber was ich verstehe, ist, dass sich überall auf der Welt Menschen umeinander sorgen. Jedenfalls habe ich Frau Amini mein Hemd gebracht, weil es am Ärmel ein Loch hatte, das ich sie zu stopfen bat. Eine Woche später kam ich wieder, um das Hemd abzuholen, und sie hatte beide Ärmel gekürzt und aus dem Anzughemd ein Sommerhemd gemacht. Als sie meinen erschrockenen Blick sah, entschuldigte sie sich für den Irrtum. Dann hielt sie das Hemd hoch und sagte: „Aber eigentlich ist es doch viel besser so, Herr Mamczak.“

Ja, ist es.

Ich wünsche Ihnen schöne Weihnachten.

 

Sascha Mamczak ist Autor von „Die Zukunft – Eine Einführung“ und des Jugendsachbuchs „Eine neue Welt“. Zuletzt ist bei Reclam sein Buch „Science-Fiction. 100 Seiten“ erschienen. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

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