10. Dezember 2017 6 Likes

Wenn Ohnmacht zu Macht wird

Naomi Aldermans „Die Gabe“ ist DER gesellschaftskritische Ideenroman des 21. Jahrhunderts.

Lesezeit: 2 min.

Sie sind leider so selten wie Regen in der Wüste, doch es gibt sie: Romane, denen es gelingt, ein kontroverses Thema in eine spannende Geschichte zu verpacken, sodass man nicht umhinkommt, darüber nachzudenken – und dabei merkt, wie sich die Grenzen des eigenen Denkens verschieben. Romane, bei denen man nicht anders kann, als sich nach der Lektüre vor den Autoren zu verneigen und zu sagen: „Das ist genial!“. Ursula K. Le Guins „Die linke Hand der Dunkelheit“ (im Shop) ist gewiss so ein Buch, ebenso wie Margaret Atwoods „Der Report der Magd“.

Nun hat sich die britische Schriftstellerin Naomi Alderman nahtlos in die Riege der Grandes Dames der Ideenliteratur eingereiht. Der Kniff, mit dem ihr das gelingt, basiert auf einer ebenso einfachen wie brillanten Idee: In ihrem neuen Roman „Die Gabe“ (im Shop) dreht sie die Geschlechterverhältnisse radikal und konsequent um. Sie erzählt die Geschichte von Allie, Roxy, Tunde und Jocelyn, die in einer Welt leben, in der Mädchen und Frauen von einem Tag auf den anderen mit den Händen Stromstöße verteilen können. Sie können ihre Mitmenschen damit verletzen, ja, sogar töten. Plötzlich haben Jungen Angst vor Mädchen. Plötzlich sind es Männer, die nach einer wilden Partynacht Angst haben müssen, in einer dunklen Gasse von einer Horde Frauen vergewaltigt zu werden. Niemand weiß, woher diese Fähigkeit kommt, wieso Frauen sie haben und Männer nicht bzw. nur schwach, doch allen ist klar, dass diese Gabe die Welt für immer verändern wird. Was als Chance für Gleichberechtigung beginnt, droht schon bald in einer Katastrophe zu enden.

„Die Gabe“ ist ein mutiges und wichtiges Buch. Ein Buch, das in einer Zeit, in der Hollywood von einem Sexskandal ungeahnten Ausmaßes erschüttert wird und selbst das britische Parlament nicht davor gefeit ist, noch einmal an Brisanz gewinnt. Dafür ist Naomi Alderman dieses Jahr mit dem Baileys Women’s Prize for Fiction ausgezeichnet worden. Aber „Die Gabe“ ist nicht einfach „nur“ ein feministischer Roman. Es geht nicht lediglich um die Gleichberechtigung von Mann und Frau oder – ganz banal heruntergebrochen – um die Frage, ob nun Männer oder Frauen die besseren Menschen sind. Es geht darum, wie wir verantwortungsbewusst mit Macht umgehen. Wie wir uns vermeintlich Schwächeren gegenüber verhalten. Und das ist eine Frage, die uns alle betrifft.

„Die Gabe“ erscheint im März 2018 auf Deutsch.

Naomi Alderman: „Die Gabe“ ∙ Roman ∙ Aus dem Englischen von Sabine Thiele ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2017 ∙ 464 Seiten ∙ Preis des E-Books € 13,99 (im Shop)

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.