20. März 2018

Abends in der Mondbar

Eine exklusive Leseprobe zu Andy Weirs neuem Roman „Artemis“

Lesezeit: 7 min.

Eine Stadt ohne Kneipen und Ausgehviertel ist wie eine Suppe ohne Salz. Das ist in der ersten und einzigen Stadt auf dem Mond nicht anders. Auch Jazz Bashara, die clevere, kleinkriminelle Heldin aus Andy Weirs neuem Roman „Artemis“ (im Shop), entspannt sich nach getaner Arbeit (aka Schmuggelei) gerne mal in der Bar um die Ecke. Doch eine Kneipe auf dem Mond zu betreiben ist gar nicht mal so unkompliziert …

 

Am Abend suchte ich meine bevorzugte Tränke auf: Hartnell’s Pub. Ich saß auf dem gewohnten Platz, der vorletzte am Ende des Tresens. Der letzte hatte früher Dale gehört, aber diese Zeiten waren vorbei.

 Das Hartnell’s war kaum mehr als ein Loch in der Wand. Keine Musik, keine Tanzfläche. Nur der Tresen und ein paar wacklige Tische. Das einzige Zugeständnis an die Behaglichkeit war der schallschluckende Schaum an den Wänden. Billy wusste, was seine Gäste schätzten: Alkohol und Ruhe. In dieser Bar herrschte eine absolut asexuelle Stimmung. Im Hartnell’s baggerte man keine Leute an. Wenn man das wollte, ging man in die Nachtclubs in Aldrin. Das Hartnell’s war da, um etwas zu trinken. Und man konnte jeden Drink bekommen, den man haben wollte – solange es sich um Bier handelte.

 Ich mochte den Laden. Teilweise, weil Billy ein angenehmer Barkeeper war, aber hauptsächlich, weil es von meinem Sarg aus die nächstgelegene Bar war.

 »’n Abend, Schätzchen«, sagte Billy. »Hab gehört, dass es heute einen Brand gab. Du bist anscheinend da rein.«

 »Queensland Glas«, erklärte ich. »Ich bin klein, also bin ich freiwillig gemeldet worden. Die Fabrik ist kaputt, aber wir haben alle Arbeiter wohlbehalten rausgeholt.«

 »Gut so. Das Erste geht auf mich.« Er schenkte mir mein deutsches Lieblingsbier ein. Die Touristen sagen, es schmeckt beschissen, aber es ist das einzige Bier, das ich kenne, und für mich ist es in Ordnung. Irgendwann kaufe ich mir mal ein echtes deutsches Bier, um zu sehen, was ich da verpasse. Er stellte das Glas vor mir ab. »Danke für deinen Einsatz, Schätzchen!«

 »He, da sage ich nicht Nein.« Ich nahm das spendierte Bier und trank einen Schluck. Angenehm und kalt. »Danke.«

 Billy nickte freundlich und ging ans andere Ende des Tresens, um einen weiteren Gast zu bedienen.

 Ich aktivierte mein Gizmo, rief einen Webbrowser auf und suchte nach DAGL. Es gab absolut keine Sprache, in der dies etwas bedeutete. DAGL wurde allerdings groß geschrieben, wahrscheinlich handelte es sich also um eine Abkürzung. Aber wofür? Ich bezweifelte stark, dass Mr. Jin aus Hongkong ein Päckchen vom italienischen Justizministerium mitgebracht hatte.

 Was es auch war, online konnte ich keine Erklärung dafür finden. Das bedeutete, dass es ein Geheimnis war, und jetzt wollte ich erst recht wissen, worum es sich handelte. Ich bin nun mal ein neugieriges kleines Biest. Aber in diesem Moment hatte ich keine weitere Spur, die ich verfolgen konnte, also ließ ich die Sache vorerst auf sich beruhen.

 Ich habe die schlechte Angewohnheit, jeden Tag mein Konto zu überprüfen, als wüchse das Guthaben schneller, wenn ich die Zahlen zwanghaft anstarrte. Aber die Banksoftware interessierte sich nicht für meine Träume, sondern übermittelte mir die traurige Wahrheit:

KONTOSTAND: 11 916 μ

Mein gesamtes Vermögen belief sich auf etwa 2,5 Prozent von meinem Ziel: 416 922 μ. So viel wollte ich haben. Ich brauchte es. Nichts war wichtiger als das.

 Wenn ich nur in die bescheuerte EVA-Gilde aufgenommen würde! Dann würde ich wirklich gutes Geld verdienen. Mit den Touren konnte man reich werden. Acht Kunden pro Tour, 1500 μ pro Nase. Das machte 12 000 μ pro Tour. Nun ja, 10 800 μ, nachdem man der Gilde zehn Prozent überwiesen hatte.

 Ein EVA-Meister darf nur zwei Touren pro Woche durchführen – diese Beschränkung wird von der Gilde überwacht. Sie sind vorsichtig, damit die Mitglieder nicht zu oft der harten Strahlung ausgesetzt werden.

 Trotzdem würde ich mehr als achtzigtausend Motten im Monat verdienen. Und das allein mit den Touren. Außerdem wollte ich versuchen, einen Job als Containerführer zu bekommen. Das waren die EVA-Meister, die die Frachtbehälter zur großen Schleuse bugsierten und entluden. Dann hätte ich Zugang zu den Lieferungen, ehe Nakoshi sie inspizierte. Ich konnte die Konterbande nach Artemis schmuggeln oder verstecken und später holen, wenn ich mitten in der Nacht heimlich eine EVA unternahm. Je nachdem, was besser funktionierte. Der entscheidende Punkt war, dass ich Nakoshi komplett umgehen konnte.

 Ich würde weiter wie ein armer Schlucker leben, bis ich das Geld gespart hatte, das ich brauchte. Abzüglich meines Lebensunterhalts würde ich es wahrscheinlich in sechs Monaten schaffen. Vielleicht sogar in fünf.

 Mit meinem Einkommen als Trägerin und ein wenig Schmuggelei als Nebenjob würde es dagegen eine Ewigkeit dauern.

 Verdammt, wie wünschte ich mir, ich hätte die Prüfung bestanden!

 Und sobald ich die 416 922 μ zusammenhatte, würde ich weiter gutes Geld verdienen. Dann konnte ich mir eine schöne Unterkunft leisten. Mein dreckiger Sarg kostete nur achttausend im Monat, aber dort konnte ich nicht einmal aufrecht stehen. Und ich wollte ein eigenes Bad. Das mag alltäglich klingen, aber auf dem Mond ist das etwas Besonderes. Zum hundertsten Mal hielt ich mir vor Augen, dass ich nachts zum Pinkeln im Schlafanzug durch einen öffentlichen Gang laufen musste.

 Für fünfzigtausend im Monat – was ich mir mit meinem zukünftigen Einkommen leicht erlauben konnte – bekam ich ein Apartment in der Bean-Blase. Eine schöne Wohnung mit Wohnzimmer, Schlafzimmer, Bad und eigener Dusche. Keine Gemeinschaftsräume mehr. Ich konnte mir sogar eine Kochnische leisten. Keine richtige Küche, das wäre unverschämt teuer gewesen; eine Küche musste in einen eigenen Brandschutzraum eingebaut werden. Aber der Herd in einer Kochnische durfte eine Mikrowelle bis fünfhundert Watt haben und bis zu achtzig Grad heiß werden.

 Ich schüttelte den Kopf.

 Eines Tages vielleicht.

 Offenbar war mein schmerzlicher Gesichtsausdruck auch am anderen Ende des Tresens gut zu erkennen. Billy kam herüber. »He, Jazz, warum so betrübt?«

 »Geld«, antwortete ich. »Das Geld reicht nie.«

 »Das kannst du laut sagen, Schätzchen.« Er beugte sich vor. »Hör mal … weißt du noch, wie ich für etwas reines Ethanol deine Dienste in Anspruch genommen habe?«

 »Klar«, antwortete ich. Als Zugeständnis an die menschliche Natur erlaubt Artemis Schnaps, obwohl er brennbar ist. Bei reinem Ethanol zieht man allerdings eine Grenze, weil es äußerst leicht brennbar ist. Ich hatte es auf die übliche Weise hereingeschmuggelt und Billy nur zwanzig Prozent Aufschlag berechnet. Das ist mein Satz für Freunde und Verwandte.

 Er sah sich nach links und rechts um. Ein paar Stammgäste kümmerten sich um ihren eigenen Kram. Abgesehen davon waren wir allein. »Ich will dir was zeigen.«

 Er griff unter den Tresen, holte eine Flasche mit braunem Schnaps hervor und schenkte ein Pinnchen ein. »Hier, probier mal.«

 Ich konnte den Fusel aus einem Meter Entfernung riechen. »Was ist das?«

 »Bowmore Single Malt Whisky. Fünfzehn Jahre alt. Probier mal, das geht aufs Haus.«

 Einen kostenlosen Drink habe ich noch nie ausgeschlagen. Ich nahm einen Schluck.

 Dann spuckte ich das Gebräu angewidert aus. Es schmeckte wie Satans brennende Rosette. »Das ist garantiert kein Scotch!«

 Mit gerunzelter Stirn betrachtete Billy die Flasche. »Äh … ich habe jemanden auf der Erde gebeten, die Flüssigkeit zu verdampfen und mir den Extrakt zu schicken. Dann habe ich das Pulver mit Wasser und Ethanol wieder aufgegossen. Es müsste genau das Gleiche sein wie vorher.«

 »Ist es nicht«, keuchte ich.

 »Also, gerade bei Scotch muss man sich erst mal an den Geschmack gewöhnen …«

 »Billy, ich habe schon angenehmere Sachen geschluckt, die aus Menschen herausgekommen sind.«

 »Hm, schade.« Er stellte die Flasche wieder weg. »Daran muss ich wohl noch arbeiten.«

 Ich stürzte mein zweites Bier hinunter, um den üblen Geschmack aus dem Mund zu spülen.

 Mein Gizmo piepste. Eine Nachricht von Trond.

 Bist du gerade frei? Kannst du vorbeikommen?

 Hoppla. Ich hatte doch gerade erst mit dem Feierabendbier begonnen.

 Es ist schon spät. Kann das nicht warten?

 Es wäre besser, es sofort zu erledigen.

 Ich sitze gerade beim Abendessen …

 Das Abendessen kannst du später trinken. Ich verspreche dir, es ist der Mühe wert.

 Klugscheißer.

 »Anscheinend muss ich noch mal los«, sagte ich zu Billy.

 »Du hattest doch erst ein Glas, wenn man meins abzieht.«

 »Die Pflicht ruft.« Ich gab ihm mein Gizmo.

 Er nahm es mit zur Kasse. »Das ist die niedrigste Zeche, die du je gemacht hast.«

 »Ich lasse es nicht zur Gewohnheit werden«, versprach ich ihm.

 Er strich mit meinem Gizmo über die Kasse und gab es mir wieder zurück. Damit war die Transaktion erledigt, denn ich hatte das Hartnell’s schon vor langer Zeit als Bezahlpunkt eingerichtet, bei dem die Verifizierung überflüssig war. Ich steckte das Gerät in die Tasche und ging hinaus. Die anderen Gäste sagten nicht Lebewohl, sie nahmen mich nicht einmal zur Kenntnis. Gott, ich liebe das Hartnell’s.

Andy Weir: „Artemis“ ∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Jürgen Langowski ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 ∙ 432 Seiten ∙ Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

 

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