19. Juli 2023

„Der Skandal“ – die Leseprobe zum neuen Thriller

Was werden wir in Zukunft essen? Hier ein Vorgeschmack auf den großen Science-Thriller von T. S. Orgel

Lesezeit: 18 min.

Mit „Der Skandal“ (im Shop) wagen sich Tom und Stephan Orgel alias T. S. Orgel weit in unsere Gegenwart vor. Weiter als in ihren bisherigen High-Fantasy- („Die Blausteinkriege“), Far-Future- („Behemoth“) und historischen Stoffen („Die Schattensammlerin“) jedenfalls.

T. S. Orgel: Der SkandalIn ihrem neuesten Roman geht es nun nicht mehr um Magie oder Raumschiffe, sondern um das Alltäglichste von der Welt: das Essen. Genauer gesagt, um künstlich erzeugtes Fleisch – und um eine tödliche Intrige … Im großen diezukunft.de-Interview haben sie bereits über die Entstehung von „Der Skandal“ gesprochen, Hier ist nun eine erste Leseprobe aus dem Roman:
 

*

DER SKANDAL

Prolog

Gebannt starrte Peter auf den Bildschirm seines Laptops. Ihm wurde gleichzeitig heiß und kalt. Ganz langsam dämmerte ihm die Bedeutung der Informationen, die er gerade gefunden hatte, versteckt in einem unzureichend gesicherten Back-up-File. Er schluckte, zögerte einen winzigen Moment und tippte dann einen Befehl ein. Gehorsam startete sein Rechner den Download. Es war viel. Hunderte Dokumente, fein säuberlich in Unterordnern verpackt, von denen das Back-up die meisten in weitere komprimierte Dateien verpackt hatte. Spielte keine Rolle. Es war mehr als genug Zeit, das alles gründlich zu sichten. Das wenige, was er bis jetzt geöffnet hatte, war mehr als genug, um ein deutliches Bild zu zeichnen. Dieses Verzeichnis enthielt Daten, die wie die Schockwelle eines Erdbebens um die ganze Welt gehen würden.

Er lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und atmete langsam, beinahe zögerlich aus. Von diesem Augenblick hatte er geträumt, immer und immer wieder, während er sich über Monate immer tiefer in die Bürokratie dieses sterbenslangweilig hippen Großraumbüros gegraben hatte. Diesen Moment des Triumphs, der die Krönung seiner jungen Journalistenkarriere werden sollte. Bilder von Ehrungen schossen ihm durch den Kopf. Hände, die geschüttelt wurden, Auszeichnungen, die man verlieh, und unzählige Liveberichte und TV-Interviews, die er mit einem geduldigen Lächeln über sich ergehen lassen würde. Er, der Mann, der dem Bösen eigenhändig die Maske vom Gesicht gerissen hatte.

Im nächsten Augenblick zuckte allerdings schon ein Funken Schuldbewusstsein durch seinen Kopf. Fuck, es ging hier doch nicht um ihn. Das Ding hier war größer als ein paar Ehrungen. Es ging um Menschenleben! Hatte er denn nichts von Lisa gelernt? Instinktiv sah er sich um und runzelte noch in der Bewegung die Stirn. Natürlich war er allein. Es war seine Wohnung. Klein, kahl, schon viel zu lange temporär. Das würde sich auch ändern, wenn das hier endlich einmal vorbei war. Er seufzte, beugte sich nach vorn und griff nach seinem Handy, das neben dem Rechner auf der Tischplatte lag. Mit dem Daumen entsperrte er das Display und klickte auf das Symbol, das den abgesicherten Messenger öffnete. Gleich an erster Stelle stand Lisas Kennung und daneben als Profilbild ein winziges Anarchiesymbol. Mit zitternden Fingern tippte er eine Nachricht ein. »Ich habe das File gefunden. Es ist alles da. Wir haben die Schweine!«

Keine zehn Sekunden später kam schon die Antwort. Ein Emoji, das große Augen machte. Dann die Worte: »Bin gleich da!«

Schnell flogen seine Finger über das Display: »Bleib! Ich komm zu dir.«

Lisa antwortete prompt mit einem erhobenen Daumen und einer stilisierten Explosion.

»Boom!«, murmelte Peter. »Das kannst du laut sagen.« Schnell klappte er den Laptop zu, steckte ihn in seine Umhängetasche und warf sie sich über die Schulter. Während er die Treppen hinunterstürmte, kam er sich vor wie Jason Bourne mit einer Atombombe in der Tasche, die jeden Augenblick hochgehen konnte. Die alte Frau Nowak aus dem zweiten Stock sah ihm missbilligend hinterher. Ihr Dackel stieß ein kurzes Bellen aus, als er an ihnen vorbeistürmte, immer zwei Treppenstufen auf einmal nehmend. Er warf den beiden ein triumphierendes Grinsen zu. Frau Nowak schüttelte stumm den Kopf.

Peter rannte die Straße hinunter zur S-Bahn-Station. Vorbei an Fast-Food-Restaurants, kleinen Lebensmittelgeschäften und unzähligen Modeläden, in denen sich die Menschen der Leichtigkeit ihres Daseins hingaben, ohne dabei auch nur einen Gedanken an den Preis zu verschwenden, den sie für ihr bisschen Luxus bezahlten. Nicht der offizielle Preis, dachte Peter, der auf dem Preisschild aufgedruckt war, sondern die wirklichen Kosten, die vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen blieben. Den weit höheren. Die Kinderarbeit in den Kobaltminen Afrikas, die menschenunwürdigen Lebensverhältnisse in kambodschanischen Nähereien und die tiefen Wunden, die all dieser sinnlose Konsum an jedem Tag aufs Neue in ihre Umwelt schlug. Sein Blick blieb an der vor wenigen Tagen neu eröffneten Filiale von »Light Foods BestBurgers« hängen, vor deren goldfarbenen Türen sich bereits eine lange Schlange gebildet hatte. Hirnlose Zombies, die mit leeren Blicken auf ihre iPhones starrten, während sie geduldig auf einen Platz im angesagtesten Fresstempel der Stadt warteten. Insgeheim freute er sich schon auf ihre entsetzten Blicke, wenn die Bombe endlich hochgehen würde. »Boom!«

Er musste lachen, weil er plötzlich feststellte, dass er sich nun schon selbst wie Lisa anhörte. Aber das war nun mal ihre Art – ihre eigene Art von Magie, mit der sie die Menschen für eine Sache entzünden konnte, die ihr am Herzen lag. Er stürmte die Treppe zur S-Bahn-Station hinunter. In der Zwischenebene ging es wesentlich ruhiger zu als oben auf der Straße, allerdings war es hier auch nicht unbedingt einladend. Schmutzig, schlecht beleuchtet und über allem der allgegenwärtige Gestank von altem Essen und Urin. Einige Jugendliche musterten ihn interessiert, als wollten sie abschätzen, ob sie ihn als Opfer oder als Täter einsortieren sollten. Unbewusst zog er die Kapuze seines Hoodies über den Kopf und beschleunigte erneut seine Schritte. Hinter der nächsten Ecke stand ein Anzugträger und sprach in sein Handy. Als Peter an ihm vorüberhastete, unterbrach er das Gespräch und wandte sich von ihm ab. Wieder dachte Peter daran, dass er eine Atombombe über der Schulter trug. War er denn von allen guten Geistern verlassen?

In der Gleisebene drückte er sich schnell an eine Säule und sah sich unauffällig um. Ganz in der Nähe stand eine Gruppe Handwerker in Arbeitskleidung, etwas weiter entfernt ein Rentnerpärchen mit Rollkoffern. Am Ende des Bahnsteigs durchwühlte ein Obdachloser systematisch die Mülleimer nach Pfandflaschen, und ganz in der Nähe tauchte erneut der Anzugträger mit dem Handy am Ohr auf. Irritiert fragte sich Peter, wie der Mann so schnell dort hingekommen war. Als sich ihre Blicke kreuzten, wandte sich der Anzugträger erneut von ihm ab. Peter musterte ihn misstrauisch. Auf den ersten Blick machte die Kleidung einen geschäftsmäßigen und gepflegten Eindruck. Bei genauerem Hinsehen schien sie allerdings von der Stange zu sein. Außerdem war sie mindestens eine Nummer zu groß. Auch die dunkelbraunen Lederschuhe schienen schon bessere Tage gesehen zu haben. Peter sah zur Anzeige hoch, die jetzt eine neue Zeit anzeigte. Der Zug verspätete sich um fünf Minuten. Er stieß einen stillen Fluch aus und warf einen nervösen Blick auf sein Handy. Der Anzugträger hatte in der Zwischenzeit seinen Platz verlassen und war hinter den Fahrplan getreten. Nur noch seine Hosenbeine und die abgewetzten Lederschuhe waren zu sehen. Der Bahnsteig füllte sich langsam. Der Obdachlose arbeitete sich langsam bis zu Peter heran und starrte ihn mit blutunterlaufenen Augen an.

»Haste ma’ Wechselgeld? Zum Telefonieren?«

Peters Hand fuhr ganz automatisch zur Hosentasche, in der er seinen Geldbeutel aufbewahrte. Er öffnete ihn und fand zu seiner Enttäuschung nur einen Fünfzigeuroschein. Entschuldigend schüttelte er den Kopf.

»Ick nehm auch ’n Fuffziger«, sagte der Obdachlose ohne eine Spur Humor im Blick.

»Sorry.«

»Arschloch«, murmelte der Obdachlose und schlurfte weiter zum nächsten Mülleimer.

Peter fühlte sich trotzdem ein bisschen schuldig. Als er aufsah, stellte er fest, dass der Anzugträger ihn vom anderen Ende des Bahnsteigs her finster taxierte. Er zog die Kapuze tiefer ins Gesicht und ging erneut hinter der Säule in Deckung.

Die S-Bahn war fast voll und furchtbar stickig. Der herbe Geruch zahlreicher müder Menschen hing in der Luft. Nur noch ein, zwei Plätze waren frei. Der Anzugträger stieg ebenfalls ein und presste das Handy wieder ans Ohr. Die Jugendlichen aus der Zwischenebene folgten ihm. Sie blieben an den Türen stehen und begannen, sich gegenseitig herumzuschubsen. Einige Passagiere schauten verärgert, aber niemand brachte den Mut auf, sie zurechtzuweisen. Ein paar Stationen weiter stiegen sie glücklicherweise aus.

Der Zug leerte sich zusehends. Der Anzugträger saß noch immer auf seinem Platz. Jetzt war sich Peter beinahe sicher, dass er ihn verfolgte. An der nächsten Station wartete er bis zum allerletzten Augenblick, um dann kurz vor dem Schließen der Türen aufzuspringen und mit einem Satz nach draußen zu treten, während sich die Türen mit einem düsteren Zischen hinter ihm schlossen. Als der Zug anfuhr, warf er einen Blick über die Schulter. Der Anzugträger erwiderte ihn finster, überrascht und verärgert.

Eilig strebte Peter auf die Treppen zum Ausgang zu. Sein Atem ging stoßweise. Seine Hände zitterten. Draußen hatte es zu regnen begonnen. Menschen hasteten mit eingezogenen Köpfen an ihm vorüber. Scheinwerfer zuckten über Hauswände und Schaufenster hinweg. Er zwang sich, nicht zu rennen. Er lief die Straße hinunter und nahm die Fußgängerbrücke zur anderen Seite des Flusses. Ein Polizeiauto raste mit eingeschaltetem Blaulicht an ihm vorüber. Er wartete, bis es zwischen den Häuserreihen verschwunden war, ehe er die Straßenseite wechselte und auf den Wohnblock zuhielt, in dem Lisa zu Hause war. In ihrer Wohnung im dritten Stock brannte Licht. Erst jetzt wagte er, erleichtert aufzuatmen. Mit immer noch zitternden Händen zog er den Haustürschlüssel aus der Hosentasche. Hinter ihm bog ein Auto in die Straße ein, seine Scheinwerfer streiften ihn kurz und erloschen. Zu spät bemerkte er, dass es nicht angehalten hatte, sondern mit ausgeschaltetem Licht weiter direkt auf ihn zuhielt.

Den Aufprall spürte er seltsamerweise gar nicht. Nur dass er herumgeschleudert wurde und so hart gegen irgendetwas prallte, dass er glaubte, irgendwas zerbrechen zu hören. Glas splitterte, und er flog erneut durch die Luft und landete auf dem Asphalt. Er wartete auf den Schmerz, doch nichts geschah. Er spürte überhaupt nichts, nur einen leichten Druck in der Magengegend. Ihm wurde kurz schwarz vor Augen, doch gleich darauf wurde die Welt in grelles Licht getaucht. Benommen blinzelte er. Jemand beugte sich über ihn, dann wurde es erneut dunkel. Danach wechselten sich die Lichter in schneller Folge ab. Erst weiß, dann rot, dann blau. Eine engelhafte Gestalt beugte sich über ihn. Sie schien etwas zu sagen, allerdings kam kein einziger Laut über ihre Lippen. Dunkelheit kroch von allen Seiten auf die Gestalt zu und hüllte alles ein, bis nur noch ein winziger Fleck übrig blieb, das Blitzen in einem Auge. Dann flackerte es auf und verlosch.
 

Eins

Gegen Mitternacht erreichte Anna das Krankenhaus im Westen Berlins. Sie war sich nicht sicher, was sie erwartet hatte, aber Menschenleere war es nicht gewesen. Abgesehen von einer übermüdeten Nachtschicht im gläsernen Verschlag des Empfangs schien das Gebäude beinahe verlassen. Der leicht säuerlich-scharfe Geruch nach Desinfektionsmitteln, Krankenhausessen und warm gehaltenem Pfefferminztee hing in der stickigen Luft. Für einige lange Minuten fühlte sie sich an einen schlechten Horrorfilm erinnert, und während die Nachtschicht quälend langsam ihre Daten in ein Besucherformular tippte, erwartete sie beinahe, den ersten Untoten um die ferne Gangbiegung schlurfen zu sehen. Endlich schob ihr die Nachtschicht einen ganzen Stapel Papiere zur Unterzeichnung durch ein Ausgabefach und wies ihr anschließend die Richtung zum nächsten Aufzug, der sie unter leisem Quietschen und Rumpeln bis zu der Station brachte, auf der ihr Bruder lag. Die Stille hier oben wurde durch ferne Pinggeräusche irgendwelcher Überwachungsmonitore hinter geschlossenen Türen unterstrichen. Irgendwo keuchte rhythmisch ein Beatmungsgerät, eine der Leuchtröhren über ihr summte hörbar, und vom anderen Ende des nur schummrig beleuchteten Gangs kam das unablässige, monotone Stöhnen eines Patienten, das ihr schon nach wenigen Augenblicken auf die Nerven ging. Leere Betten standen abgedeckt auf dem Gang, dessen dicker, zerkratzter Linoleumboden die Geräusche ihrer Schritte aufzusaugen schien. Noch bevor sie das Pflegedienstzimmer am anderen Ende des Gangs erreicht hatte, piepte in einem der Zimmer ein Alarm. Wenige Augenblicke später hastete eine Pflegerin mit tiefen Rändern unter den Augen an ihr vorüber, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Im Glaskasten am Ende des Gangs saß lediglich eine weitere Person, und Anna hoffte im Stillen, dass dies nicht die gesamte Belegschaft während dieser Nachtschicht war. Nach allem, was sie über den Zustand der Berliner Krankenhäuser gehört hatte, konnte das allerdings gut sein.

Sie parkte ihr Gepäck auf einem Stuhl neben dem Teekocher, ließ sich etwas Wasser aus dem Spender in einen Plastikbecher ein und wartete, bis die Pflegerin schließlich die Zeit fand, sie zu Peters Zimmer zu weisen. Das gequälte Stöhnen des Patienten war hier deutlicher zu hören. Ihre Erleichterung war nicht gering, als sie feststellte, dass es nicht aus Peters Zimmer, sondern aus einem der angrenzenden Räume kam.

Leise, zögerlich öffnete sie die Tür. Der Raum lag in tiefem Halbdunkel. Nur eine Nachtbeleuchtung über dem Bett brannte und ließ Peters Gesicht hager, eingefallen und entsetzlich fahl wirken. Oder vielleicht war es das tatsächlich. Schläuche waren auf die Wangen geklebt, schienen in seiner Nase zu verschwinden oder zusammen mit einem Gewirr aus bunten Kabeln unter seinem gepunkteten Krankenhaushemd zu verschwinden. Pflaster und Verbände bedeckten viel von dem, was übrig blieb, und machten es schwer, ihn überhaupt zu erkennen. Eine halb leer gelaufene Infusion verschwand in einer leise piependen Maschine, von der wiederum Schläuche in die Wand und in seinen Arm zu führen schienen, und auf einem Monitor neben dem Kopfende seines Betts flackerten arrhythmisch wechselnde Zahlen. Puls, Blutdruck, Sauerstoffsättigung oder was immer hier überwacht wurde. Immerhin bedeuteten sie wohl, dass irgendwo noch Leben in dieser wächsernen Gestalt war. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie seit dem Betreten des Zimmers die Luft angehalten hatte, und sie atmete tief durch. Die schale Luft in ihrer Mischung aus Medikamentengerüchen, Seife und Urin schnürte ihr sofort die Kehle zu und ließ sie husten.

Ein leises Geräusch ließ sie zusammenfahren. In einem Sessel am Fenster rührte sich mit einem verschlafenen Seufzen eine zierliche Gestalt.

Lisa musste geschlafen haben, aber sie sah nicht aus, als sei es besonders erholsam gewesen. Ihre Augen waren rot unterlaufen und von so tiefen Schatten umgeben, dass sie selbst auf ihrer dunkelbraunen Haut deutlich zu sehen waren. Eigentlich sah sie aus, als hätte sie seit Tagen gar nicht mehr geschlafen, und ihre zu Rastas geflochtenen Haare klebten in wirren Strängen am Kopf. Die perfekte Lisa. Aus irgendeinem Grund war es ihr Anblick, nicht der ihres Bruders, der Anna die gesamte Tragweite des Unglücks mit einem Schlag bewusst machte. Plötzlich schwankte sie, als hätte sie einen Tritt in den Magen bekommen. Sie griff nach dem Fußende des Betts, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und versuchte verzweifelt, Luft zu bekommen.

Lisa richtete sich auf. »Anna! Alles in Or…« Sie sprach das Wort nicht fertig, so als wäre ihr im selben Augenblick selbst klar geworden, wie höhnisch es klang. Nichts war in Ordnung.

Stattdessen stemmte sie sich aus ihrem Sessel und manövrierte Anna hinein. Dann holte sie aus der kleinen Nasszelle des Zimmers ein Glas Wasser und drückte es Anna in die zitternde Hand.

Anna stürzte es gierig hinunter.

»Besser?«

Sie nickte, stellte das Glas ab und wischte sich mit der Hand über das Gesicht. »Wie lange bist du schon hier?«, fragte sie dann leise.

Lisa zog sich einen der zwei Krankenhausstühle heran und setzte sich neben sie, wobei sie Peters fahles Gesicht nicht aus den Augen ließ. »Seit sie ihn eingeliefert haben.«

»Seit vorgestern Abend schon?«

Lisa zuckte mit den Schultern. »Ich mein, ich war kurz zu Hause, duschen und frische Klamotten und so, aber …« Sie wiederholte das Schulterzucken, als wüsste sie nicht, was sie sonst tun sollte. »Sie haben gesagt, ich soll nach Hause gehen. Er liegt im Koma, und es sieht nicht so aus, als würde er in den nächsten Stunden aufwachen. Oder Tagen. Oder …«, sie schluckte und ließ den Kopf hängen. »Jedenfalls«, sagte sie dann leiser, »kann es dauern, bis die Schwellung in seinem Kopf und den Nerven zurückgegangen ist, erst dann können sie irgendwas sagen. Aber … aber es ist mir einfach nicht richtig vorgekommen, ihn ganz allein hier liegen zu lassen. Was, wenn er doch aufwacht?«

Anna sah sie an und rieb sich dann über das Gesicht. Das Schwindelgefühl war verschwunden und mit ihm die Enge in ihrer Brust. Lisa war der Inbegriff einer Powerfrau. Die kleine schwarze Frau mit den unglaublich vielen Haaren war geradezu unverschämt sportlich, konnte klettern und surfen und fuhr Snowboard wie eine junge Göttin. Anna hatte das Paar vor einigen Jahren einmal zu einem Skiwochenende begleitet. Während sie selbst damit zu kämpfen hatte, ihre Skier einigermaßen parallel zu halten, war Lisa allen anderen aus der Gruppe davongefahren und hatte sich schließlich ein Rennen mit den einheimischen Skilehrern geliefert. Anna hatte sie dafür gehasst. Damals und auch danach hatte sich immer alles nur um Lisa gedreht. Die schöne Lisa, die herzensgute Lisa, die talentierte, die perfekte Lisa, die selbstlose … Die Frau machte Peter glücklich, soff mit Skilehrern um die Wette, sammelte Sportpokale wie Anna Strafzettel und brachte ihre eigene Mutter dazu, ihr zu sagen, sie solle sich ein Beispiel an Lisa nehmen. Es war der letzte gemeinsame Ausflug gewesen. Ab dann hatte Anna Begegnungen, soweit es ging, vermieden. Mit Ach und Krach hatte sie sich durch ihren Bachelor gekämpft und sich bei jedem Besuch zu Hause anhören dürfen, wie erfolgreich Peter doch geworden war, was für ein bezauberndes Paar die beiden doch seien, in welchen Vereinigungen und Gremien Lisa inzwischen schon wieder saß und wie nobel es doch von ihr war, dass sie sich so der Rettung der Umwelt verschrieben habe, wo sie es doch selbst schon aufgrund ihrer Hautfarbe – wir sehen das ja gar nicht mehr, aber du weißt, wie die Leute sind – so viel schwerer habe als Anna.

Kurz: In Lisas Gegenwart fühlte sich Anna immer ein bisschen minderwertig. Und selbst jetzt schien Lisa stärker zu sein als sie.

Für einen Moment wallte Zorn in ihr auf und trieb ihr Tränen in die Augen. Wieso lag ihr Bruder hier, und seine perfekte …?

In diesem Moment sank Lisa in sich zusammen, nahm einen tiefen, bebenden Atemzug, und plötzlich hatte auch sie Tränen in den Augen. Gleich darauf zog sie Anna an sich und schlang die Arme um ihren Hals, wie eine Ertrinkende, die sich an einem Stück Holz festklammerte. Für eine Weile hielt sie sich an Anna fest, und ihre Schultern bebten in leisem Schluchzen. Anna tätschelte ihr unbeholfen den Rücken und kam sich schäbig vor. Konnte sie nicht einmal jetzt das mit der Eifersucht sein lassen? Nach einer Weile beruhigte sich Lisa wieder. Sie schniefte und löste sich mit einem schüchternen Lächeln von Anna. »Entschuldige. Du musst dich selbst beschissen genug fühlen, und ich heule dich hier so voll …«

Anna wischte sich mit dem Handballen über die Augen. »Schon okay. Es ist«, sie rang um Worte, »halt beschissen.«

»Was, wenn er nicht mehr aufwacht?« Lisa starrte sie mit blutunterlaufenen Augen an, und Anna kam sich schlagartig um Jahre gealtert vor.

Zögernd zuckte Anna mit den Schultern. »Darüber dürfen wir nicht nachdenken. Was haben die«, sie nickte in Richtung Tür, »gesagt?«

Lisa zuckte müde mit den Schultern und ließ sich in ihrem Stuhl zurücksinken. »Eigentlich gar nichts. Es ist noch zu früh. Er hat Glück gehabt, war die Aussage.« Sie schnaubte abfällig. »Ein gebrochenes Bein, drei Brüche im linken Arm, zwei im rechten und in der Hand, Haarrisse in der Hüfte, ein paar Rippen«, sie deutete auf die Halskrause, die Peters Kopf fixierte, »drei angebrochene Wirbel und eine Schädelfraktur. Aber angeblich keine lebensbedrohlichen Verletzungen oder innere Blutungen. Ob seine Nerven …« Sie schluckte und beugte sich dann nach vorn, um Peter liebevoll eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen. Ihre Hand zitterte. Sie schniefte leise und brachte den Anflug eines Lächelns zustande, das wohl tapfer sein sollte. »Sie wissen es nicht. Es ist noch zu früh«, wiederholte sie. »Aber ich weiß, dass er es schafft.«

Immer noch die gleiche, unverbesserliche Optimistin. Im Gegensatz zu mir. Anna starrte auf Lisas schmale Hand, auf Peters geschwollenes und gleichzeitig eingefallenes Gesicht und auf die Monitore, die mit steigender und fallender Frequenz vor sich hin piepten.

Glück? Wie sollte irgendjemand denn so einen Unfall überleben? Es war doch quasi kein Knochen in Peters Körper heil geblieben. Und dann die Sache mit der Flüssigkeit im Kopf … Sie hatten ihn ins künstliche Koma versetzen müssen und dann seinen Schädel aufgebohrt. Anna spürte, wie sich allein bei dem Gedanken ihr Magen zusammenzog. Unbeholfen legte sie ihre Hand auf die ihres Bruders. Sie fühlte sich eiskalt, leblos an.

»Das will ich ihm geraten haben«, sagte sie leise, nach einer Pause, die ihr viel zu lang vorkam. »Sonst kriegt er Prügel von mir.«

Lisa sah auf, und ein unwillkürliches, verstörtes Auflachen entrang sich ihrer Kehle. Anna zuckte mit den Schultern.

Eine Zeit lang saßen sie schweigend nebeneinander und lauschten den gleichmäßigen Geräuschen der Geräte. Irgendwann betrat eine Krankenschwester das Zimmer, überprüfte die Funktionen, notierte irgendwelche Werte und tauschte eine Infusionsflasche aus.

»Sollen wir uns was zu trinken holen?«, fragte Lisa. Anna nickte dankbar.

Im Erdgeschoss fanden sie eine Cafeteria, die um diese Nachtzeit natürlich geschlossen war, in einer Ecke davor jedoch einen Automaten, der nicht nur Patientenkarten, sondern auch Kleingeld annahm. Lisa zog sich einen Tee und Anna einen Becher Kaffee. Der Kaffee schmeckte wässrig, gleichzeitig angebrannt, fade und mit einem Nachhall von Brühwürfelsuppe, die der Automat wohl ebenfalls ausspucken konnte. Anna verzog das Gesicht, schluckte den Kaffee jedoch tapfer hinunter. Im Grunde war es ihr egal. Immerhin war er heiß und würde mit viel Glück genügend Koffein enthalten, um ihre Lebensgeister wieder ein bisschen auf Trab zu bringen.

Sie traten vor die Tür, und Anna sog gierig die klare, eisige Nachtluft ein. Lisa ging ein paar Schritte aus dem Eingangsbereich in den Schatten einer Nebentür, holte eine Dose mit selbst gedrehten Zigaretten aus ihrer Hosentasche und zündete sich eine an. Anna konnte hier im Dunkeln kaum das schwarze Gesicht der anderen sehen. Der Geruch ließ erahnen, dass die Zigarette mehr als nur Tabak enthielt. Nach zwei tiefen Zügen hielt sie das Teil Anna hin, doch die lehnte dankend ab.

»Wissen sie eigentlich schon, wer der Fahrer war?«, fragte sie stattdessen.

»Bislang nicht.«

Anna schlang die Arme um sich. »Ich frage mich … ich meine, warum ist der nicht stehen geblieben? Wie kann man da weiterfahren? So, als wäre nichts …« Sie brach ab und schüttelte erneut den Kopf. »Ich könnte nicht mit der Gewissheit leben, dass ich einen Menschen …« Ihre Stimme versagte erneut.

Lisa blies heftig den Rauch aus. Eine süßliche Graswolke hüllte Anna für einen Moment ein und stieg dann in den Nachthimmel hinauf. »Das war kein Unfall«, stieß sie ungehalten hervor.

Anna warf ihr einen verwirrten Blick zu. »Aber die Polizei sagt …«

»Ach, die Bullen. Die haben doch keine Ahnung.« Wütend drückte Lisa die Zigarette gegen die Hauswand, immer und immer wieder, bis alle Glut erloschen war. Dann schob sie den Stummel in ihre Jackentasche, wandte sich abrupt um und stiefelte zurück ins Foyer.

Anna sah ihr sprachlos hinterher. Was zum Teufel war das gerade gewesen?

Da sie nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte, entschied sie, Lisa erst mal in Ruhe zu lassen. Sie zog sich noch einen weiteren Brühwürfel-Kaffee aus dem Automaten und setzte sich vor der Cafeteria auf eine Bank. Auch um diese Nachtzeit herrschte in diesem Teil des Krankenhauses, in der Nähe der Notaufnahme, übermüdete Betriebsamkeit. Sie beobachtete die unterschiedlichen Menschen, die durch die Gänge wanderten, und lauschte ihren manchmal bizarren Unterhaltungen. Sie war froh über die Ablenkung, die ihr gestattete, sich für eine Weile nicht mit Peters Schicksal auseinandersetzen zu müssen. Die meisten Gäste hier waren Angehörige von Leuten in der Notaufnahme, mit bangen, müden Gesichtern und Furcht in den Augen, die blicklos in ihre Kaffees starrten oder fieberhaft auf Smartphones herumtippten. Vermutlich, um irgendwem da draußen in der Nacht Neuigkeiten zum Zustand eines Patienten zu übermitteln – oder eben, dass es nichts Neues zu berichten gab. Eine Handvoll Leute aus Rettungswagenbesatzungen holten sich einen Kaffee oder ließen eine Flasche Cola aus dem Automaten poltern, oder ein abgepacktes Sandwich, das sie auf dem Weg nach draußen hastig und mit viel zu großen Bissen hinunterschlangen. Hier und da saßen an den Tischen aber auch Patienten, manche mit fahrbaren Infusionsständern neben sich und Schlaflosigkeit im Blick. Am Nebentisch leerte ein alter Mann mit stoischer Methodik einen Beutel Gummibären nach dem anderen und futterte sie auf, nachdem er sie, sorgfältig nach Farben sortiert, vor sich auf dem Tisch aufgereiht hatte. […]

Kurz darauf tauchte Lisa mit ihrem Gepäck auf. »Man hat mich rausgeworfen«, sagte sie tonlos. Bleierne Müdigkeit schien sich über sie gelegt zu haben und jegliche Emotion zu ersticken.

»Ich soll mich ausschlafen gehen und morgen wiederkommen. Er wird überwacht, und«, sie zuckte hilflos mit den Schultern,

»ich kann ohnehin nichts tun, außer denen im Weg rumzusitzen. Komm, ich fahr dich nach Hause.« Sie drückte Anna ihr Gepäck in die Hand.

*

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T. S. Orgel: Der Skandal · Biothriller · Wilhelm Heyne Verlag · 448 Seiten · Paperback: € 16,00 (im Shop) · Erschienen am 12.07.2023

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