8. Dezember 2016 5 Likes

Der Weltbestseller aus China

Eine umfassende erste Leseprobe von Cixin Lius Science-Fiction-Meisterwerk „Die drei Sonnen“

Lesezeit: 22 min.

In den kommenden Tagen erwartet uns nichts Geringeres als eine Sensation, die das Herz eines jeden Science-Fiction-Fans höher schlagen lassen dürfte: Am 12.12.2016 erscheint „Die drei Sonnen“ (im Shop), der Welterfolg des chinesischen Starautors Cixin Liu, erstmals auf Deutsch. Von der internationalen Presse wird der Autor als der neue Arthur C. Clarke gefeiert, und „Die drei Sonnen“ – übrigens als erster chinesischer Roman überhaupt mit dem Hugo Award ausgezeichnet – gilt weltweit als das Buch, das eine neue Renaissance des Genres eingeläutet hat. Und wem das als Leseempfehlung noch nicht ausreicht, dem sei gesagt: Barack Obama hat sich das Buch auch schon besorgt, wie die Washington Post zu berichten wusste.

Aber worum geht’s eigentlich in diesem Roman, der so viel Aufsehen erregt? Die Geschichte setzt in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts ein – mitten in den Wirren der chinesischen Kulturrevolution. Dort begegnen wir der jungen Astrophysikerin Ye Wenjie, die auf eine geheime Militärbasis im Norden Chinas geschickt wird. Dort suchen die Wissenschaftler mithilfe einer riesigen Radioantenne nach intelligentem Leben im All. Doch was Ye Wenjie im Dunkel des Universums entdeckt, wird die Menschheit für immer verändern. Das Schicksal seiner jungen Protagonistin ist für Liu aber nur der Ausgangspunkt seines gewaltigen Epos, das uns bis weit hinter die Grenzen des bisher erforschten Universums führt. Ein Epos, das den Leser Dinge erleben lässt, die er sich bisher noch nicht einmal zu erträumen wagte. Kurz gesagt, Cixin Liu hat mit die „Die drei Sonnen“ ein Buch geschrieben, das dem Begriff „sense of wonder“ eine völlig neue Bedeutung verleiht.

Wir freuen uns sehr, allen, die jetzt neugierig geworden sind, die Wartezeit bis zum Erscheinungstermin von „Die drei Sonnen“ mit einer ersten Leseprobe verkürzen zu dürfen.

 

 

Zeiten der Raserei

China, 1967

Der Angriff der Roten Vereinigung auf das Hauptquartier der Kompanie des 28. April lief bereits seit zwei Tagen. Rund um das Gebäude blähten sich ihre roten Fahnen im Wind, wie Flammen, die gierig nach Feuerholz züngelten.

Dem Kommandeur der Roten Vereinigung stand das Wasser bis zum Hals. Nicht dass er die über zweihundert Rotgardisten der Kompanie des 28. April fürchtete, die das Hauptquartier verteidigten. Sie waren noch unerfahren und konnten sich mit seinen Veteranen der Roten Vereinigung nicht messen, die sich zu Beginn der Großen Proletarischen Kulturrevolution Anfang 1966 zusammengeschlossen hatte und deren Gesinnung im Laufe der revolutionären Kampagnen im ganzen Land und bei den großen Truppenparaden auf dem Tiananmen-Platz erprobt worden war.

Was er dagegen fürchtete, waren über ein Dutzend große Kanonenöfen im Gebäude, die mit hochexplosivem Sprengstoff vollgestopft und über elektrische Sprengzünder miteinander verbunden waren. Er konnte sie zwar nicht sehen, aber wie durch Magnetkraft spürte er, dass sie da waren. Wenn einer der Verteidiger den Stromkreis schloss, würden Revolutionäre und Konterrevolutionäre gleichermaßen draufgehen. Wie bei einem Feuer, das die Jade in einem Haufen Steine nicht schont, würden alle in den Flammen umkommen.

So einen Wahnsinn traute er den von Eifer zerfressenen kleinen Rotgardisten durchaus zu. Im Vergleich zu den Roten Garden der ersten Stunde, die sich ihre Hörner in den Stürmen der vergangenen Jahre längst abgestoßen hatten, waren die umstürzlerischen Fraktionen der Neuen wie eine Wolfsmeute auf glühenden Kohlen. Verrückter als verrückt.

Auf dem Dach des Gebäudes erschien die zierliche Gestalt eines hübschen Mädchens, das die große Fahne der Kompanie des 28. April schwenkte. Ihr Erscheinen löste sofort ein chaotisches Sperrfeuer aus, das aus den verschiedensten Waffen abgefeuert wurde. Darunter waren Antiquitäten wie amerikanische Karabiner, Maschinenpistolen von tschechischer Bauart und japanische Typ-38-Infanteriegewehre. Andere schossen mit brandneuen Standardinfanteriegewehren und Maschinenpistolen, die sie den Truppen nach Erscheinen des Leitartikels im August gestohlen hatten. Zusammen mit den Schwertern und Säbeln sahen sie aus wie ein dichtgedrängtes Schaubild der neueren Geschichte.

Die kleinen Rotgardisten vom 28. April hatten dieses Spielchen schon oft getrieben. Sie stellten sich auf das Dach und schwenkten eine Fahne. Dabei brüllten sie gelegentlich auch noch Parolen durch ein Megafon und warfen Flugblätter auf die Angreifer hinunter. Bislang war es ihnen noch jedes Mal gelungen, unversehrt aus dem Kugelhagel zu entkommen und den Ruhm für ihren Heldenmut zu kassieren.

Das Mädchen, das sich diesmal auf das Dach gestellt hatte, glaubte offensichtlich, dass es ebenso viel Glück haben würde. Es ließ die Kriegsflagge tanzen, als würde es die brennende Leidenschaft seiner Jugend schwenken. Es vertraute darauf, dass die Flammen der Revolution die Feinde zu Asche verbrennen würden. Dass aus der Begeisterung und der Inbrunst, die durch ihre Adern pulsierten, schon morgen eine ideale neue Welt entstünde.

Trunken schwelgte das Mädchen in seinen strahlend roten Fantasiebildern – so lange, bis eine Gewehrkugel ihre Brust durchbohrte. Der Körper der Fünfzehnjährigen war so zart und weich, dass die Kugel beim Durchschuss kaum langsamer wurde und pfeifend wieder aus ihrem Rücken austrat. Die junge Rotgardistin stürzte mitsamt ihrer Flagge vom Dach in die Tiefe. Ihr leichter Körper fiel fast langsamer als die Flagge und taumelte wie ein Vöglein, das den Himmel nicht verlassen möchte.

Die Soldaten der Roten Vereinigung jubelten begeistert. Ein paar von ihnen rannten zum Gebäude hin und rissen die Flagge des 28. April an sich. Wie eine Siegestrophäe ergriffen sie den zierlichen Leichnam und reckten ihn eine Zeit lang prahlerisch in die Höhe. Dann hängten sie ihn über das Eisentor zum Hof.

Die meisten der spitzen Metallstangen am Tor waren bereits zu Beginn der Kampfhandlungen abgesägt worden, um als Speere zu dienen. Aber zwei waren übrig geblieben. Als sich ihre spitzen Enden in das Mädchen bohrten, schien für einen kurzen Augenblick Leben in ihren weichen Körper zurückzukehren. Die Rotgardisten der Roten Vereinigung traten ein paar Schritte zurück und verwendeten die aufgespießte Leiche für Zielübungen. Für das Mädchen unterschied sich der dichte Kugelhagel nicht von einem sanften Regen. Sie spürte ihn nicht mehr. Gelegentlich schwangen ihre Arme leicht wie rankende Reben im Frühling hin und her, als wollten sie die Regentropfen von ihrem Körper fortwischen.

Dann wurde die eine Seite ihres jugendlichen Kopfes von einer Kugel weggerissen. Nur eines ihrer hübschen Augen war noch übrig und starrte hinauf in den blauen Himmel von 1967. In seinem Blick lag kein Schmerz, nur noch eingefrorene Leidenschaft und Sehnsucht.

Und doch hatte es das Mädchen, das muss gesagt werden, besser als seine Kameraden getroffen. Zumindest hatte es sein Leben für seine Ideale geopfert und war in qualvoller Leidenschaft gestorben.

 

Solche grässlichen Hotspots sah man überall in Peking, wie unzählige parallel geschaltete CPUs, deren gesammelter Output die Kulturrevolution bildete. Die Stadt versank in dieser Raserei wie in einer reißenden Flutwelle, die auch noch den hintersten Winkel überschwemmte.

Auf dem Campus der berühmten Universität am Stadtrand war bereits seit fast zwei Stunden eine Kampf- und Kritiksitzung im Gange, an der ein paar tausend Leute teilnahmen. Zu dieser Zeit, in der revolutionäre Fraktionen wie Pilze aus dem Boden schossen, mündete jegliche Meinungsverschiedenheit in komplizierten Auseinandersetzungen. Auf dem Campus eskalierten die Konflikte zwischen Rotgardisten, Arbeitstrupps der Kulturrevolutionäre sowie maoistischen Agitprop-Verbänden von Arbeitern und Soldaten, und von Zeit zu Zeit splitterte sich jede Fraktion in neue Rebellengruppen auf, die alle eigene Hintergründe und Grundsätze hatten – und die noch erbitterter und brutaler miteinander rangen.

Aber bei der heutigen Kampf- und Kritiksitzung ging es gegen die sogenannten reaktionären Akademikerautoritäten. Sie waren allen Fraktionen ein Dorn im Auge und wurden von sämtlichen Seiten grausam attackiert. Die Autoritäten der akademischen Lehre zeichneten sich im Vergleich zu den anderen »Rinder- und Schlangenteufeln« durch eine Besonderheit aus: Bei den frühen Kampf- und Kritiksitzungen hatten sie sich zumeist arrogant und starrköpfig gezeigt. Und deshalb waren sie in der Anfangsphase auch besonders zahlreich gestorben. Allein in Peking wurden innerhalb von vierzig Tagen mehr als eintausendsiebenhundert von ihnen während der Kampf- und Kritiksitzungen bei lebendigem Leibe erschlagen. Noch größer war die Zahl jener, die einen leichteren Ausweg aus diesem Irrsinn wählten. Lao She, Wu Han, Jian Bozan, Fu Lei, Zhao Jiuzhang, Yi Qun, Wen Jie und Hai Mo sowie viele andere einst hochangesehene Intellektuelle beendeten ihr Leben von eigener Hand.

Wer diese erste Zeit überlebte, wurde im Verlauf der nachfolgenden Sitzungen immer abgestumpfter. Diese mentale Schutzschale bewahrte sie vor dem völligen Zusammenbruch. Während der langen Kampf- und Kritiksitzungen, in denen man sie sich vornahm, schienen sie häufig in eine Art Halbschlaf zu versinken. Sie schreckten nur dann auf, wenn ihnen jemand ins Gesicht schrie, damit sie wie schon unzählige Male zuvor automatenhaft die Liste ihrer Sünden herunterbeteten.

Als Nächstes traten ein paar von ihnen in eine dritte Phase ein. In den pausenlos abgehaltenen Sitzungen sickerten die leuchtenden Bilder der gewünschten Politik wie Quecksilber in ihr Bewusstsein ein, bis ihr aus Wissen und Vernunft entwickelter Geist schließlich unter dem Ansturm zusammenbrach. Sie glaubten wirklich, dass sie Unrecht getan hatten, dass sie Sünder waren. Sie erkannten, wie sehr sie der Sache der Revolution geschadet hatten. Sie vergossen bitterliche Tränen, und ihre Reue war oft viel größer und ehrlicher als die der nichtintellektuellen Rinder- und Schlangenteufel.

Für die Rotgardisten war die Misshandlung ihrer Opfer in diesen letzten beiden Phasen sehr langweilig. Nur diejenigen Rinder- und Schlangenteufel, die sich noch in der ersten Phase befanden, gaben ihren überreizten Gehirnen den lange ersehnten Kick, wie das rote Tuch eines Toreros. Doch solche begehrenswerten Opfer wurden immer rarer. In dieser berühmten Hochschule gab es vermutlich nur noch ein einziges, und weil es so ein seltenes Exemplar war, sparte man es sich bis zum Ende der Kampf- und Kritikversammlung auf.

Der Physikprofessor Ye Zhetai hatte die Kulturrevolution bislang überlebt und stand immer noch auf der ersten mentalen Stufe. Er weigerte sich, seine Schandtaten zuzugeben, Selbstmord zu begehen oder empfindungslos zu werden. Als er im Angesicht der Menge die Bühne bestieg, brachte seine Haltung nur eines zum Ausdruck: Macht mir das Kreuz, das ich auf dem Rücken trage, noch etwas schwerer!

Die roten Garden hatten ihm tatsächlich einiges zu tragen gegeben, aber es war kein Kreuz. Die anderen Kampf- und Kritiksubjekte, die neben ihm in einer Reihe auf dem Podium standen, trugen riesenhafte Spitzhüte, die aus einem Bambusgerüst gefertigt und mit Papier bespannt waren. Seinen Hut jedoch hatten sie aus fingerdickem, grobem Eisen zusammengeschweißt. Und das Schild, das sie ihm um den Hals gehängt hatten, war nicht wie bei den anderen aus Holz, sondern eine Eisentür, die sie von einem Ofen aus seinem Labor abgerissen hatten. Darauf stand in schwarzen, auffälligen Schriftzeichen sein Name geschrieben. Man hatte ihn mit dicker roter Farbe von der einen Ecke bis zur anderen durchgestrichen.

Sechs Rotgardisten, zwei Männer und vier Frauen, eskortierten Ye Zhetai auf die Bühne, doppelt so viele wie bei den anderen. Die beiden jungen Männer gingen mit energischem Schritt voran und waren das Musterbild reifer, jugendlicher Bolschewiken. Sie waren beide im achten Semester und studierten theoretische Physik im Hauptfach. Ye Zhetai war ihr Lehrer gewesen. Die vier Mädchen waren um einiges jünger und besuchten die zweite Klasse der höheren Mittelschule, die an die Universität angeschlossen war. In ihren Uniformen und mit ihren Patronengürteln versprühten die kleinen Soldatinnen eine große jugendliche Vitalität, mit der sie jeden gefangen nahmen. Wie vier grüne Flammensäulen umringten sie Ye Zhetai.

Mit seinem Auftritt kam wieder neues Leben in die Zuschauer vor der Bühne. Die bis eben nur noch müde gerufenen Parolen schwollen wie eine ansteigende Flut erneut an und übertönten alles andere.

Die zwei Rotgardisten auf dem Podium warteten geduldig, bis das Geschrei abebbte. Dann wandte sich einer der Männer dem Kampf- und Kritiksubjekt zu: »Ye Zhetai, du kennst dich im Fachgebiet der Mechanik gut aus. Du solltest eigentlich erkennen, wie stark diese großartige, vereinte Bewegung ist, der du dich widersetzt. Wenn du halsstarrig bleibst, bedeutet das deinen sicheren Tod! Heute fahren wir mit der Tagesordnung unserer letzten Großversammlung fort. Und ich komme direkt zur Sache. Beantworte mir ohne deine üblichen Täuschungsmanöver die folgende Frage: Hast du eigenmächtig das Unterrichtsmaterial deines Physikgrundkurses in den Kapiteln zweiundsechzig bis fünfundsechzig um Inhalte aus der Relativitätstheorie ergänzt?«

»Die Relativitätstheorie ist eine der klassischen Theorien der Physik. Wie könnte man sie in einem Grundkurs aussparen?«

»Du redest blanken Unsinn!«, fuhr ihn die kleine Rotgardistin an seiner Seite scharf an. »Einstein ist ein reaktionärer Akademiker. Ein Opportunist, der sein Fähnlein immer nach dem Wind gehängt hat. Er ging sogar nach Amerika und baute dort für die amerikanischen Imperialisten die Atombombe! Wenn wir eine revolutionäre Wissenschaft aufbauen wollen, müssen wir die schwarze Fahne der bourgeoisen Theorien vernichten, für die die Relativitätstheorie nun mal ganz maßgeblich steht!«

Ye Zhetai schwieg. Es kostete ihn viel Mühe, die Schmerzen von dem schweren Eisenhut und der Eisentafel vor seiner Brust zu ertragen. Und er hatte keine Kraft, auf Aussagen zu antworten, die es nicht wert waren. Seine beiden Studenten, die hinter ihm standen, blickten besorgt. Das Mädchen, das gesprochen hatte, war die intelligenteste der vier Mittelschülerinnen. Sie hatte sich augenscheinlich vorbereitet. Gerade hatte man sie noch vor der Bühne stehen sehen, wo sie ihre vorbereitete Anklagerede auswendig gelernt hatte. Aber Ye Zhetai war mit ein paar Parolen nicht beizukommen. Sie beschlossen, die neue Angriffstaktik einzusetzen, die sie für ihren Lehrer vorbereitet hatten. Also gab einer von ihnen einer Person vor der Bühne ein Handzeichen.

Ye Zhetais Ehefrau Shao Lin, wie er Physikprofessorin in seinem Seminar, erhob sich aus der ersten Zuschauerreihe und kam auf die Bühne. Sie trug einen schlecht sitzenden grasgrünen Anzug, ganz offensichtlich bemüht, die Farbe der Roten Garden zu imitieren. Aber alle, die sie näher kannten, erinnerten sich, dass sie in ihren Vorlesungen in die edelsten Cheongsams gekleidet gewesen war. Dieser Aufzug wollte nicht so recht zu ihr passen.

»Ye Zhetai!« Shao Lin deutete mit dem Finger auf ihren Ehemann, während sie seinen Namen schrie. An eine solche Umgebung war sie offensichtlich nicht gewöhnt, und weil sie sich bemühte, laut zu sprechen, war auch das Zittern in ihrer Stimme deutlich zu hören. »Das hast du wohl nicht geglaubt, dass ich hier aufstehe und dich entlarve und verurteile? Oh ja! Deinen Betrügereien bin ich früher auch auf den Leim gegangen. Du hast mich mit deiner reaktionären Sicht auf die Welt und die Naturwissenschaften blind gemacht! Jetzt ist mir die Erleuchtung gekommen. Mit Hilfe der ›kleinen Generäle der Revolution‹ werde ich in Zukunft für das Volk Partei ergreifen, ich werde auf der Seite der Revolution stehen!«

Sie wandte sich an die Zuschauer vor der Bühne. »Genossen und Genossinnen, kleine Generäle der Revolution und Instrukteure der Revolution! Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass die Relativitätstheorie Einsteins an sich reaktionär ist. Dieser reaktionäre Charakter lässt sich am deutlichsten an der Allgemeinen Relativitätstheorie ablesen: Sie nimmt ein statisches Universum als gegeben an und verneint damit die grundlegende Wesensart von Materie: dass sie immer in Bewegung ist. Die Allgemeine Relativitätstheorie bestreitet die marxistische Dialektik! Die Annahme eines statischen Universums zeigt gründlich, dass sie vom reaktionären Idealismus erfüllt ist …«

Als er seine Ehefrau wie einen Wasserfall schwadronieren hörte, erlaubte Ye Zhetai sich ein schiefes Lächeln: Lin, du hast dich von mir blenden lassen? Ich muss, wenn ich ehrlich bin, bekennen, dass du, gerade du, für mich immer ein Rätsel geblieben bist. Einmal habe ich vor deinem Vater deine überragende Begabung gelobt. Welch ein Glück für ihn, dass er früh starb und diese Katastrophe nicht miterleben musste. Er hatte den Kopf geschüttelt und gesagt, er glaube nicht, dass du es in der Wissenschaft je zu etwas bringen würdest. Und die tiefe Wahrheit von dem, was er dann sagte, sollte mir erst später bewusst werden: »Linlin ist viel zu intelligent. Um Grundlagenforschung zu betreiben, muss man dumm sein.« In den darauffolgenden Jahren verstand ich immer besser, was er damit gemeint hatte. Lin, du bist wirklich schlau! Schon vor Jahren hast du erkannt, dass der politische Wind in den intellektuellen Kreisen bald aus einer anderen Richtung wehen würde. Und du hast ein paar Dinge getan, mit denen du deiner Zeit damals weit voraus warst. Zum Beispiel hast du in deinen Vorlesungen die meisten Namen für die physikalischen Gesetze und Konstanten geändert: Das Ohm’sche Gesetz benanntest du in Gesetz des elektrischen Widerstands um, die Maxwell-Gleichungen in Gleichungen zum Elektromagnetismus, und aus dem Planck’schen Wirkungsquantum wurde bei dir das elementare Wirkungsquantum. Deinen Studenten erklärtest du deine Änderungen so: Alle Erkenntnisse der Wissenschaft wären die Früchte des großen und strahlenden Geistes des arbeitenden Volkes. Die bourgeoisen Akademikerautoritäten hätten nichts anderes getan, als sich mit diesen Erkenntnissen wie mit fremden Federn zu schmücken.

Aber trotzdem hast du keinen Zugang zu den etablierten revolutionären Kreisen gefunden. Und schau dich jetzt an: Es ist dir nicht erlaubt, die rote Armbinde der Instrukteure der Revolution zu tragen. Du kommst mit leeren Händen hier herauf, darfst nicht mal die Mao-Bibel bei dir haben. Was für ein Pech, dass du zu einer Familie gehörst, die im alten China hohes Ansehen genoss. Und dann war dein Vater auch noch so ein berühmter Wissenschaftler.

Und wenn wir schon über Einstein reden, dann hast du doch viel mehr zu bekennen als ich: Im Winter 1922 hat Einstein Shanghai besucht. Weil dein Vater sehr gut Deutsch sprach, hat man ihn gebeten, ihn abzuholen und durch die Stadt zu begleiten. Du hast mir so oft erzählt, dass es Einstein war, der deinen Vater dazu ermutigt hat, die Physikerlaufbahn einzuschlagen. Und dass du selbst Physikerin geworden bist, weil dein Vater dich dazu inspiriert hat. Deswegen, so meintest du, könnte man den großen Einstein indirekt als deinen Lehrer bezeichnen. Und auf diese Verbindung warst du mal unheimlich stolz.

Später hast du herausgefunden, dass dir dein Vater etwas vorgeflunkert hatte. Er und Einstein haben sich nur ganz kurz miteinander unterhalten. Am 13. November 1922 begleitete er Einstein bei einem Morgenspaziergang auf der Nanking Road. Und sie waren nicht allein unterwegs. Unter anderem waren auch noch Yu Youren, der Präsident der Shanghai-Universität, und Cao Gubing, der Geschäftsführer der Zeitung Ta Kung Pao, mit von der Partie. Sie kamen an eine Baustelle, wo die Straßendecke erneuert wurde. Einstein blieb neben einem jungen Arbeiter stehen, der Steine schleppte. Er hatte aufgerissene Hände und ein Gesicht, das schwarz vor Dreck war. Einstein sah ihm eine Weile dabei zu, wie er in seiner dünnen Kleidung im eisigen Wind arbeitete. Dann fragte er deinen Vater: »Wie viel verdient er pro Tag?«

Dein Vater erkundigte sich bei dem Jungen und antwortete Einstein: »Fünf Kupferstücke.«

Das war die einzige Unterhaltung deines Vaters mit diesem Wissenschaftler, der die ganze Welt veränderte. Es ging nicht um Physik, nicht um die Relativitätstheorie, nur um das nackte Leben. Dein Vater erzählte, dass Einstein, nachdem er die Antwort erhalten hatte, noch lange da stand und dem jungen Arbeiter dabei zusah, wie er stumpf seine Schwerstarbeit verrichtete. Und die Zigarette in seiner Hand verglomm, ohne dass er noch einen Zug von ihr nahm. Nachdem mir dein Vater von dieser Sache erzählt hatte, seufzte er und sagte: »In China enden geistige Höhenflüge immer ganz schnell mit einem krachenden Absturz. Das Gravitationsfeld unserer Realität ist zu schwer.«

»Kopf runter!«, befahl ein Rotgardist laut. Ye Zhetai konnte nicht genau sagen, ob es sein eigener Schüler war, der damit ein letztes Fünkchen Mitleid für seinen Lehrer bewies. Wenn es einem in einer Kampf- und Kritiksitzung an den Kragen ging, musste man immer mit gesenktem Kopf dastehen. Wenn Ye Zhetai ihn hängen ließe, fiele der hohe Eisenhut herunter, und ab diesem Punkt gäbe es keinen Grund mehr, ihn wieder aufzusetzen. Aber er stand mit hoch erhobenem Haupt, und sein dünner Hals stemmte sich gegen die eiserne Last.

»Kopf runter, du starrsinniger Reaktionär!« Die Rotgardistin neben ihm zog sich mit einem Ruck den Gürtel aus der Hose und peitschte damit auf Ye Zhetai ein. Die Messingschnalle traf ihn an der Stirn und hinterließ einen deutlich sichtbaren Abdruck, der sofort zu einem schwarzvioletten Bluterguss anschwoll. Einen Moment lang geriet Ye Zhetai ins Taumeln, dann stand er wieder fest auf den Beinen.

Erneut richtete ein Rotgardist das Wort an ihn: »Während deiner Vorlesung zur Quantenmechanik hast du große Mengen reaktionärer Theorien eingestreut.« Dann nickte er Ye Zhetais Frau Shao Lin zu und bedeutete ihr weiterzumachen.

Shao Lin konnte es gar nicht erwarten fortzufahren. Sie befand sich augenscheinlich am Rande eines Nervenzusammenbruchs und durfte keine Pause machen, um nicht völlig zusammenzuklappen. »Ye Zhetai, das kannst du nicht bestreiten! Du hast sehr oft Inhalte der reaktionären Kopenhagener Deutung in den Unterricht einfließen lassen!«

Ye Zhetai blieb trotz der schweren Schläge ruhig und sachlich. »Es ist ja auch die Erklärung der Quantenmechanik, die am meisten den Versuchsergebnissen entspricht.«

Shao Lin überraschte und ängstigte seine Gelassenheit. »Diese Theorie besagt, dass externe Beobachtung den Kollaps der Wellenfunktion bewirkt. Und das ist eine ganz besonders dreiste Aussage des reaktionären Idealismus.«

»Ist es die Philosophie, die zum Experiment hinführt, oder ist es das Experiment, das die philosophische Erklärung hinterfragt?« Ye Zhetais Konter verwirrte die Roten Garden, die die Kampf- und Kritiksitzung leiteten, so sehr, dass sie einen Moment lang nichts zu erwidern wussten.

»Natürlich ist es die richtige Philosophie, nämlich der Marxismus, die den Experimenten den Weg weist«, entgegnete einer von ihnen schließlich.

»Das würde bedeuten, dass die richtige Philosophie vom Himmel herabgefallen ist. Damit würde dem marxistischen Grundsatz widersprochen, dass wahres Wissen der Praxis entspringt. Und dass die Natur die Grundlage der Erkenntnis ist.«

Shao Lin und die zwei Studenten konnten dem nichts entgegensetzen. Anders als die Rotgardistinnen, die immer noch auf der Mittelschule waren, konnten sie die Logik nicht komplett ignorieren.

Aber die kleinen Schülerinnen machten bei ihrem Kampf für die Sache der Revolution vor nichts halt. Das Mädchen, das Ye Zhetai eben schon geschlagen hatte, holte erneut mit ihrem Ledergürtel aus. Die drei anderen Mädchen machten es ihr nach und schlugen ihn ebenfalls mit ihren Gürteln. Wenn ihre Gefährtin sich so revolutionär verhielt, wollten sie noch revolutionärer oder doch zumindest genauso wie sie sein. Die beiden männlichen Rotgardisten gingen nicht dazwischen. Wenn sie sich jetzt einmischten, würde man sie womöglich für nicht revolutionär genug halten.

Stattdessen versuchte einer der beiden jungen Männer, das Thema zu wechseln: »Außerdem hast du in deinen Vorlesungen auch noch die Urknalltheorie behandelt. Und das ist nun wirklich die reaktionärste aller wissenschaftlichen Theorien!«

»Vielleicht wird man diese Theorie eines Tages widerlegen, aber zwei große kosmologische Entdeckungen dieses Jahrhunderts – das Hubble’sche Gesetz und die kosmische Mikrowellenstrahlung – belegen, dass die Urknalltheorie den Ursprung des Universums derzeit am plausibelsten erklärt.«

»Alles Lügen!«, brüllte Shao Lin los. Dann hielt sie einen langen Vortrag über die Urknalltheorie und vergaß dabei natürlich nicht, kenntnisreiche Kritik am extrem reaktionären Charakter dieser Theorie zu üben.

Da meldete sich plötzlich das klügste der vier Mädchen zu Wort: »Und die Zeit soll erst mit der Singularität begonnen haben? Was ist denn davor gewesen?«

»Nichts, absolut nichts.« Ye Zhetai beantwortete seine Frage, wie er jede Frage eines jungen Menschen beantwortet hätte. Er wandte sich dem Mädchen zu und schaute es freundlich an. Wegen des riesigen Eisenhuts und seiner schweren Verletzungen fiel ihm diese Bewegung sehr schwer.

»Wie? Nichts? Du Reaktionär! Du ausgemachter Reaktionär!«, brüllte das Mädchen in panischer Angst. Hilfesuchend drehte es sich zu Shao Lin um, die es nur zu gerne unterstützte.

»Diese Theorie lässt Raum für die Existenz Gottes.« Shao Lin nickte dem Mädchen zu.

Die verstörte kleine Rotgardistin fand endlich ihren roten Faden wieder. Mit dem Ledergürtel, den sie in der Hand hielt, wies sie auf Ye Zhetai. »Du! Du willst damit sagen, es gibt einen Gott?«

»Ich weiß es nicht.«

»Was sagst du da?«

»Ich sage, ich weiß es nicht. Wenn mit Gott etwas gemeint ist, was außerhalb unseres Kosmos liegt und unser Bewusstsein übersteigt, weiß ich nicht, ob es existiert oder nicht. Die Wissenschaft kann weder beweisen noch widerlegen, dass es so etwas gibt.« In diesem albtraumhaften Moment neigte Ye Zhetai allerdings eher zu der Annahme, dass Gott nicht existierte.

Nach dieser ketzerischen und hochverräterischen Antwort brach unter den Zuschauern ein Tumult aus. Einer der Rotgardisten auf der Bühne feuerte die Menge dazu an, Parolen zu skandieren. Ihre Schreie tosten wie ein gewaltiger Sturm.

»Nieder mit der reaktionären Akademikerautorität Ye Zhetai!«

»Nieder mit allen reaktionären Akademikerautoritäten!«

»Nieder mit allen reaktionären Lehren!«

Als das Brüllen wieder abebbte, rief das kleine Mädchen: »Gott existiert nicht! Alle Religionen sind nur Opium für das Volk! Die herrschende Klasse hat sie erfunden, um das Volk zu lähmen!«

»Das zeugt von einer sehr einseitigen Sicht auf die Dinge.« Ye Zhetai klang noch immer ruhig.

In diesem Augenblick entschied die kleine Rotgardistin, bei der alle Scham zu Wut geworden war, dass man diesem gefährlichen Feind mit Worten nicht beikommen konnte. Sie holte mit dem Riemen zum Schlag aus, und ihre drei Genossinnen taten ihr es ohne zu zögern nach. Ye Zhetai war ein großer Mann, und die vier vierzehnjährigen Mädchen mussten mit den Lederriemen weit ausholen, um seinen immer noch hocherhobenen Kopf zu treffen. Nach den ersten paar Schlägen fiel der große Eisenhut herunter, der Ye Zhetai einen gewissen Schutz geboten hatte. Und als die Messingschnallen immer weiter wie ein harter Hagelschauer auf seinen Kopf und Körper einprasselten, brach er schließlich unter den Hieben zusammen. Von ihrem Erfolg angespornt, stürzten sich die kleinen Rotgardistinnen noch eifriger in diesen ruhmreichen Kampf. Sie kämpften für ihren Glauben, für ihre Ideale und waren ganz berauscht von der hell strahlenden Mission, die ihnen die Geschichte auferlegt hatte. Sie bebten vor Stolz, weil sie nun Heldinnen waren …

»Anordnung von oberster Stelle: Es soll vor allem ein Kampf mit Worten und nicht mit Waffen sein!«, brüllten jetzt Ye Zhetais Schüler, die sich schließlich doch noch zu einer Entscheidung durchgerungen hatten. Sie stürzten herbei und rissen die vier halb wahnsinnigen Mädchen von ihrem Lehrer fort.

Aber es war zu spät. Der Physiker lag reglos am Boden. Seine Augen standen offen, und aus seinem Schädel quoll Blut. Von einem Augenblick zum anderen war die Raserei vorüber, und auf dem Platz herrschte Totenstille. Das fließende Blut war die einzige noch wahrnehmbare Bewegung, wie eine rote Schlange schlängelte es sich langsam vorwärts bis zum Rand der Bühne und tropfte auf einen leeren Kasten, der darunter stand. Die rhythmischen Töne hörten sich wie langsam verhallende Schritte an.

Ein unheimliches Lachen durchbrach die Stille. Es kam aus Shao Lins Mund, die einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte – es war grauenvoll. Die Leute verließen fluchtartig den Platz, denn alle wollten so schnell wie möglich weg von diesem Ort. Schon bald war der gesamte Platz leer bis auf eine junge Frau, die vor der Bühne zurückgeblieben war.

Es war Ye Zhetais Tochter Ye Wenjie.

Als die vier Mittelschülerinnen mit roher Gewalt ihres Vaters Leben zerstört hatten, hatte sie sich auf die Bühne stürzen wollen. Aber zwei alte Professoren aus dem Wohnheim hielten sie fest und flüsterten ihr ins Ohr, sie solle ihr eigenes Leben nicht auch noch wegwerfen. In dem Tumult hätte ihr Erscheinen noch mehr Gewalttäter auf den Plan gerufen. Sie weinte und kreischte wie von Sinnen, aber ihr Geheul ging im Wirrwarr der gellenden Parolen und Anfeuerungsschreie unter.

Als dann alles still war, war auch sie verstummt. Ihr Blick war starr auf den Leib ihres totgeschlagenen Vaters gerichtet. Und die Gedanken, die sie nicht aussprechen konnte, lösten sich in ihrem Blut auf und pulsierten durch ihren Körper. Sie sollten sie ein Leben lang begleiten. Als alle ihrer Wege gegangen waren, blieb sie wie eine Statue stehen, in der gleichen Haltung, in der sie die beiden alten Professoren zurückgehalten hatten.

Lange Zeit verging, bis sie die Arme sinken ließ und langsam auf die Bühne ging. Dort setzte sie sich neben die Leiche ihres Vaters und umklammerte eine seiner Hände. Sie war bereits erkaltet. Ihr leerer Blick ging in die Ferne. Als schließlich jemand kam, um die Leiche wegzutragen, holte sie etwas aus ihrer Jackentasche und legte es ihrem Vater in die kalte Hand. Es war seine Pfeife.

Schweigend verließ sie den menschenleeren, verwüsteten Platz und schlug den Weg nach Hause ein. Als sie vor dem Lehrkörper-Wohnheim ankam, hörte sie aus dem ersten Stock das irre Lachen einer Verrückten. Es stammte von der Frau, die sie einst Mama genannt hatte.

Ye Wenjie wandte sich ab und achtete nicht darauf, wo ihre Füße sie hintrugen.

Bis sie bemerkte, dass sie vor der Haustür von Professorin Ruan Wen angekommen war. Ruan Wen war während ihrer vier Studienjahre Ye Wenjies Tutorin und engste Freundin gewesen. Genau wie in den zwei Jahren danach, als sie Studentin an der Fakultät für Astrophysik war. Und auch als mit der Kulturrevolution das Chaos ausbrach, blieb Ruan Wen neben ihrem Vater Ye Wenjies engste Vertraute.

Ruan Wen hatte in Cambridge studiert. Früher hatte ihr Haus eine große Anziehungskraft auf Ye Wenjie ausgeübt, denn dort hatte es vieles gegeben, was sie aus Europa mitgebracht hatte: wunderbare Bücher, Ölbilder und Schallplatten, sogar ein Klavier. Da waren auch europäische Tabakspfeifen, die hübsch aufgereiht in einem filigranen Holzgestell standen. Die Pfeife ihres Vaters war ein Geschenk von Ruan Wen gewesen. Die Pfeifenköpfe waren aus dem Wurzelholz der Mittelmeerhundsrosen oder aus türkischem Meerschaum geschnitzt. Jede dieser Pfeifen schien noch die Intelligenz ihrer vormaligen Besitzer zu atmen. Ruan Wen hatte sie nicht ein einziges Mal zum Rauchen in die Hand genommen.

Diese elegante, Geborgenheit ausstrahlende, kleine Welt war wie eine sichere Bucht gewesen, in der Ye Wenjie Zuflucht vor den Stürmen der schmutzigen Welt fand. Aber dann hatten sie Ruan Wens Zuhause durchsucht und ihr Vermögen konfisziert. Sie hatte unter der Kulturrevolution genauso sehr gelitten wie Ye Wenjies Vater. Auf den Kampf- und Kritiksitzungen hängten die Roten Garden Ruan Wen Stöckelschuhe um den Hals und beschmierten ihr Gesicht mit Lippenstiftstrichen, um ihren dekadenten, bourgeoisen Lebenswandel zu brandmarken.

Ye Wenjie stieß die Tür zu Ruan Wens Wohnung auf und stellte fest, dass die Verwüstungen der Hausdurchsuchung beseitigt waren und alles wieder aufgeräumt war. Die zerrissenen Ölgemälde waren geleimt und hingen wieder an der Wand. Das umgestürzte Klavier stand wieder aufrecht an seinem ursprünglichen Platz. Es war zwar kaputt und ließ sich nicht mehr spielen, aber es war sauber geputzt. Die wenigen noch verbliebenen, aufwendig gebundenen Bücher waren wieder ordentlich ins Bücherregal zurückgestellt …

Ruan Wen saß kerzengerade auf ihrem Drehstuhl am Schreibtisch und hatte die Augen geschlossen. Ye Wenjie stellte sich neben sie und strich ihr über die Stirn, das Gesicht und die Hände. Das leere Schlaftablettenröhrchen auf dem Schreibtisch hatte sie bereits beim Eintreten gesehen.

Eine Weile lang stand sie schweigend neben Ruan Wen. Dann wandte sie sich um und ging hinaus. Sie war nicht mehr in der Lage, Kummer zu empfinden, wie ein Geigerzähler, der zu viel Strahlung abbekommt und deshalb nicht mehr reagiert, sondern nur noch Null anzeigt.

Aber als sie zur Tür hinausging, drehte sie sich doch noch einmal um und warf Ruan Wen einen letzten Blick zu. Sie bemerkte, dass Ruan Wen sich schön geschminkt und Lippenstift aufgetragen hatte, und dass sie hochhackige Schuhe trug.

 

Dies war der erste Streich, wie man so schön sagt. Ein weiterer Auszug aus „Die drei Sonnen“ folgt in Kürze.

Cixin Liu: „Die drei Sonnen“ ∙ Roman ∙ Aus dem Chinesischen von Martina Hasse ∙ Heyne Verlag, München 2016 ∙ 592 Seiten ∙ E-Book: € 11,99 (im Shop)

 

 

 

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