3. November 2017 2 Likes

Ein literarischer Blick über die Große Mauer

Re-Post zum Erscheinen von Cixin Lius "Spiegel": Eine kleine Geschichte der Science-Fiction in China

Lesezeit: 8 min.

2015 gewann der chinesische Autor Cixin Liu für The Three-Body Problem – zu Deutsch unter dem Titel Die drei Sonnen (im Shop) erschienen – den amerikanischen Hugo Award in der Kategorie Bester Roman. Ein Jahr später durfte Lius Landsmännin Jingfang Hao für ihre Erzählung Folding Beijng die renommierte Trophäe in der Kategorie Beste Kurzgeschichte mit nach Peking nehmen. Den „westlichen“ SF-Lesern wurde spätestens damit bewusst, dass China keineswegs ein weißer Fleck auf der Science-Fiction-Landkarte ist. Auch dort denken Autoren über die Zukunft der Menschheit nach und drücken diese Gedanken und Hoffnungen in Romanen und Kurzgeschichten aus, die uns jetzt vermehrt in Übersetzungen erreichen. Und das alles verdanken wir offenbar Cixin Lius Roman Die drei Sonnen und dessen Übersetzung ins Amerikanische durch Ken Liu, der inzwischen auch eine Sammlung kontemporärer chinesischer SF-Kurzgeschichten unter dem Titel  Inivisible Planets veröffentlicht hat. Dabei war China lange tatsächlich ein weißer Fleck auf der SF-Landkarte – das geht zumindest aus den zahlreichen Vor- und Nachworten, Essays und Betrachtungen zur Science-Fiction in China hervor, die sich in Invisible Planets und im Internet finden. Das soll nicht heißen, dass es das Genre in China nie gegeben hätte. Es war allerdings sehr lange sehr, sehr weit ab vom literarischen Mainstream.

Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Qing-Dynastie kurz vor ihrem Niedergang stand, wurden Romane von Jules Verne und H. G. Wells ins Chinesische übersetzt und erfreuten sich großer Beliebtheit. Die chinesischen Leser waren fasziniert von der fortschrittlichen Technologie des Westens. Sie erhofften sich von ihnen die Befreiung Chinas von den Kolonialmächten, sodass das Land als freie, stolze und wohlhabende Nation in die Zukunft schreiten konnte. Dementsprechend war die chinesische Science-Fiction dieser Zeit eine optimistische Literatur, die ihrem Publikum die Wichtigkeit von Wissenschaft und Technologie vor Augen führte, und dabei gleichzeitig die Bedeutung von Träumen unterstrich. Diese Begeisterung hielt auch nach dem Ende der Qing-Dynastie 1911 noch an, doch nach wie vor war Science-Fiction-Literatur vor allem dem Zweck untergeordnet, Interesse an der Wissenschaft zu wecken, um das Land aus der Rückständigkeit zu führen.

Daran änderte sich auch nach der Gründung der Volksrepublik China 1949 wenig – allerdings wurde Science-Fiction in den Fünfziger- und Sechzigerjahren vor allem für Kinder und Jugendliche geschrieben, wodurch sie aus dem Fokus des Mainstream-Literaturbetriebs fiel. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Genre fand nicht statt, weder in der Literaturkritik, noch auf akademischem Niveau. Zunächst noch richtete sich Maos Regierung zur Sowjetunion hin aus, dementsprechend orientierte sich auch die chinesische Science-Fiction an dem in der Sowjetunion vorherrschenden sozialistischen Realismus. Wissenschaft und Technik wurden positiv dargestellt und standen im Zentrum der Geschichten. Selten fand man sich in der fernen Zukunft, und noch seltener eroberten die Menschen das Sonnensystem jenseits der Mars-Bahn. Das Menschliche geriet vor der Technologie ins Hintertreffen; viele der Charaktere blieben oberflächlich und dienten lediglich als Vehikel, um die strahlende Zukunft eines fortschrittlichen Chinas darzustellen. Deswegen nimmt es nicht Wunder, dass es im Gegensatz zur Sowjet-SF, so gut wie keine chinesischen Gesellschaftsutopien aus dieser Zeit gibt (wie beispielsweise Iwan Jefremows Andromedanebel (im Shop).

Mit der Kulturrevolution 1966 verschwand die SF dann von der Bildfläche; ein Schicksal, das sie sich mit anderen Genres teilt. Erst Ende der Siebziger kehrten die Autoren zur SF zurück, allerdings nach wie vor als technikorientierte Jugendliteratur. Nachdem China sich nach Maos Tod zum Westen öffnete, änderte sich das allerdings, denn mit den Reformen Deng Xiaopings gelangte zusehends auch zeitgenössische westliche Science-Fiction nach China. Dieser neue Input sorgte dafür, dass das Genre sich weiterentwickelte. Die wenigen Autoren und ihre Leser diskutierten, möglicherweise als verspätete Antwort auf die New-Wave-Bewegung in der (englischsprachigen) SF, ob der Fokus künftig auf „Science“ oder auf „Fiction“ gelegt werden sollte. Das „Fiction“-Lager gewann. Durch weniger Wissenschaft und mehr „literarische Qualität“ orientierte man sich etwas am Mainstream, in dem realistische Literatur bis heute vorherrscht. Die chinesische SF stellte den Menschen, nicht mehr die Technik, in den Mittelpunkt, und erkundete vor allem die nahe Zukunft. Das Genre wurde endlich „frei“. Zum ersten Mal diente die Science-Fiction in China keinem bestimmten ideologischen Ziel. Die Autoren konnten neue Themen ebenso ausloten wie die erzählerischen Methoden, mit denen sie vermittelt werden sollten.

Die Science-Fiction blieb nach wie vor eine Randerscheinung im chinesischen Literaturbetrieb – kein Wunder nach jahrzehntelanger Marginalisierung. Doch jetzt entwickelte sie sich in neue Richtungen, ebenso wie die Gesellschaft, die sie produzierte. Mitte der Neunziger setzte, immer noch unbeachtet von der Majorität der Leser, eine Renaissance des Genres in China ein. Junge Autoren, die nach der Kulturrevolution geboren sind, befassten sich mit neuen Ideen und suchten nach neuen Möglichkeiten, sie auszudrücken. Außerdem kehrte die Wissenschaft als Basis der Science-Fiction zurück. Die sogenannten „drei Vier-Sterne-Generäle der Science-Fiction“, Jinkang Wang, Song Han und Cixin Liu, feierten zu dieser Zeit erste Erfolge. Sie alle haben eine fundierte naturwissenschaftliche Ausbildung und sind „hauptberuflich“ Ingenieure oder Professoren. Sie alle schreiben Hard SF, und ihnen ist auch gemein, dass sie es mit der Wissenschaft in ihren Romanen sehr genau nehmen. Doch ihre Ansichten über die zukünftige Entwicklung der Menschheit könnten unterschiedlicher nicht sein. Anders als in den utopisch-technischen Romanen der Fünfziger- und Sechzigerjahre malen sie Chinas Zukunft nicht immer in leuchtenden Farben. Dieser „Wandel“ macht deutlich, womit die jüngeren Generationen Chinas zu kämpfen haben: Deng Xiaopings Reformen haben ihnen die Krisen der kapitalistischen Welt ebenso eingebracht wie deren Vorzüge. Die Chinesen erlebten in kürzester Zeit, wie die kapitalistischen Marktstrukturen in jeden Bereich des Lebens eindrangen und dabei alte Traditionen zerstörten. Darunter fällt nicht nur das „einfache Leben in den chinesischen Dörfern“, sondern auch die Ideologie der Gleichheit und des Durchschnitts, die sich in der Kulturrevolution und danach etabliert hatte. Plötzlich war es erstrebenswert, materiellen Reichtum anzuhäufen, der öffentlich zur Schau gestellt werden konnte. Mit seiner Etablierung auf dem Weltmarkt erlebte China gleichzeitig die Krise und den Triumph des Kapitalismus, und diese Gespaltenheit hinterlässt ihre Spuren auch in der Science-Fiction, die sich zusehends auf die immer komplexer werdende Lebensrealität der Chinesen bezieht. Dazu inkorporierte die chinesische Science-Fiction auch Themen und Ausdrucksformen der westlichen SF. Sie wurde vielfältiger – und verlor zugleich das, was sie „typisch chinesisch“ gemacht hatte.

Die jungen SF-Autoren Chinas nehmen heute ganz unterschiedliche Positionen in Bezug auf die zukünftige Entwicklung der Menschheit – nicht nur Chinas – ein. Der unbedingte Optimismus der Fünfziger- und Sechzigerjahre ist verschwunden, auch aus der Hard SF. China hat am eigenen Leib erfahren, dass Wissenschaft und Technik nicht ausreichen, um die Nation voranzutreiben und sie aus der Rückständigkeit zu befreien. Dieser (typisch westliche) Pessimismus in Bezug auf Technik und Fortschritt schlägt sich auch in den Romanen nieder. Er sorgte für eine „Krise“ im Genre. Statt kühnen Träumen war die junge Generation plötzlich von der Parole „materieller Wohlstand um jeden Preis“ wie hypnotisiert. Quifan Cheng, einer der jungen SF-Autoren Chinas, behauptet sogar, diese ideologische Hypnose hätte die Träume der jungen Chinesen getötet. Er sieht die Science-Fiction als eine Möglichkeit, die Brüche zwischen den sozialen Schichten und zwischen Realität und Wunschtraum zu überbrücken und die Fähigkeit zu Träumen wiederherzustellen. Nur so könne sich die Zivilisation wirklich weiterentwickeln.

Sein Kollege Jinkang Wang sieht das ähnlich. „Wenn nur ein chinesischer Science-Fiction-Autor einen Bestseller schreibt, wird das Genre eine glänzende Zukunft haben“, sagte er in einem Interview. Cixin Liu ist genau das gelungen: mit seiner Drei-Sonnen-Trilogie schaffte er auf die chinesischen Bestsellerlisten – und das in einem Genre, das bis dahin nach wie vor von der Kritik nicht beachtet worden war. In der chinesischen SF-Szene war Liu längst ein Superstar, der bereits mehrere Awards, darunter den Yinhe (Galaxy) und den Xingyun (Nebula), gewonnen hatte. Aber selbst dieser erfolgreiche Autor war überrascht, wie populär Die drei Sonnen wurde. Plötzlich diskutierten Manager von IT-Firmen mit Physikern in Internetforen über die Trilogie. Sie klopften die Wissenschaft auf ihren Wahrheitsgehalt hin ab und lasen bestimmte im Roman formulierte Theorien als Allegorien auf die Situation des IT-Marktes in China im Allgemeinen. Schließlich hatten auch die Literaturkritiker das Gefühl, Die drei Sonnen nicht mehr ignorieren zu können. Doch sie wussten offensichtlich nicht so ganz, was sie mit diesem Roman anfangen sollten. Die drei Sonnen waren wie ein Monster, das aus dem Nichts auf dieser von realistischer Literatur dominierten Bühne aufgetaucht war, schildert Cixin Liu seine Eindrücke in einem Essay, der Ken Lius Anthologie Invisible Planets angefügt ist.

Dem Mainstream zollte Cixin Liu mit den ersten beiden Bänden seiner Trilogie auch noch Tribut: große Teile von Die drei Sonnen spielen zur Zeit der Kulturrevolution. Auch die gesellschaftspolitischen Ideen sind nicht so weit von der Gegenwart entfernt, dass man sich nicht in ihnen zurechtfinden könnte. Erst im dritten Band entfernt Liu sich von der gegenwärtigen Realität und entfaltet eine große Zukunftsvision, die bis ans Ende des Universums reicht. Diesen Band habe er für sich selbst und die Hardcore-SF-Fans in China geschrieben, erklärt Liu in seinem Essay. Er habe nicht damit gerechnet, dass es ausgerechnet der Abschluss der Trilogie sein würde, die auch den ersten beiden Romanen zum Durchbruch, erst in Lius Heimatland, dann international, verhelfen würde. Die chinesischen Leser und Kritiker mussten die Bedeutung der Science-Fiction in ihrem Land re-evaluieren.

Durch den Erfolg von Die drei Sonnen setzte auch ein Umdenken bei Lius Kollegen ein, die bis dahin eher pessimistisch in die Zukunft geblickt hatten. Die gegenwärtige Science-Fiction in China wird immer wieder mit der des Golden Age in Amerika verglichen. Die Zukunft ist voller Möglichkeiten und Wunder, aber auch voller Gefahren und Krisen. Liu selbst schreibt, es sei ihm darum gegangen, das schlimmste aller denkbaren Universen zu zeigen, damit die Menschen sich die beste aller möglichen Welten erschaffen konnten. So gesehen ist Die drei Sonnen keine chinesische SF – sie ist Welt-SF und richtet sich an die Menschheit insgesamt. Und als solche will Liu seine Trilogie auch verstanden haben. Und der Erfolg, den er auch außerhalb Chinas damit feiert, gibt ihm offenbar recht.

Cixin Liu: Spiegel ∙ Aus dem Chinesischen von Marc Hermann ∙ Mit Anmerkungen zur Übersetzung und einem Nachwort von Sebastian Pirling ∙ Wilhelm Heyne Verlag ∙ 192 Seiten ∙ E-Book: € 8,99 (im Shop

Mehr Informationen zur Science-Fiction in China (in englischer Sprache):
Science Fiction Studies Vol. 119 (März 2013)
Ken Liu (Hg.): Invisible Planets. Head of Zeus, November 2016
Qiufan Chen: The History of Chinese Sci-Fi Books. In: The World of Chinese, Ausg. 6/2016

Wer sich über die neuere chinesische Geschichte informieren möchte, sei die dreiteilige Dokumentation China – New Empire von Jean-Michel Carré ans Herz gelegt, die man auf Amazon Prime streamen kann. 

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