14. April 2022

Die große EXPANSE-Leseprobe

Mit „Leviathan fällt“ erscheint der krönende Abschluss der internationalen Erfolgssaga von James Corey

Lesezeit: 14 min.

Mit THE EXPANSE hat das amerikanische Autorenduo Daniel Abraham und Ty Franck, das sich hinter dem Pseudonym James Corey verbirgt, eines der packendsten und erfolgreichsten Science-Fiction-Epen der Gegenwart geschrieben. Nachdem im Januar 2022 die sechste und voraussichtlich letzte Staffel der Serie auf Amazon Prime lief, steuert nun auch die Romanreihe ihrem fulminanten Finale entgegen. Am 09. Mai 2022 erscheint mit „Leviathan fällt“ (im Shop) der neunte und letzte Band rund um Kapitän James Holden und die Crew der Rosinante. Um Ihnen die Wartezeit bis zum Erscheinungstermin etwas zu verkürzen, stellen wir Ihnen hier eine erste Leseprobe zur Verfügung.

 

Prolog

Zuerst war da ein Mann namens Winston Duarte. Und dann war er nicht mehr da.

Der letzte Augenblick war banal. Er hatte in seinem privaten Arbeitszimmer im Herzen des Staatshauses auf seinem Diwan gesessen. In den Schreibtisch – laconischer Regenbaum mit einer Maserung wie Sedimentgestein – war ein Bildschirm integriert, auf dem unzählige Berichte um seine Aufmerksamkeit buhlten. Langsam tickte das Uhrwerk des Reichs, und mit jeder Umdrehung des Rades lief der Mechanismus ein wenig glatter und präziser. Er hatte die Sicherheitsmeldungen aus Auberon geprüft, wo der Gouverneur infolge separatistischer Ausschreitungen begonnen hatte, Einheimische für die Sicherheitskräfte zu rekrutieren. Seine Tochter Teresa war schon wieder zu einem ihrer verbotenen Ausflüge außerhalb des Geländes aufgebrochen. Die einsamen Spaziergänge in der Natur, die sie ungestört von den wachsamen Augen der laconischen Personenschützer zu unternehmen glaubte, waren für ihre Persönlichkeitsentwicklung wichtig. Deshalb beobachtete er die Eskapaden nicht nur mit Nachsicht, sondern auch voller Stolz.

Erst vor Kurzem hatte er ihr erklärt, welche Pläne er für sie hatte. Sie sollte nach ihm selbst Paolo Cortázars zweite Patientin werden, damit sich ihr Bewusstsein öffnete und vertiefte, wie es schon bei ihm geschehen war, sodass sie beide vielleicht nicht ewig, aber doch unbegrenzt lange leben konnten. In hundert Jahren würden sie immer noch das Reich der Menschen anführen. In tausend Jahren. In zehntausend Jahren.

Falls.

Das war der schreckliche Druck, der auf allem lastete. Dieses unerträgliche Falls. Könnte er doch nur diese schreckliche menschliche Selbstzufriedenheit überwinden. Könnte er doch nur dieses gewaltige, verstreute Gewimmel, das die Menschheit war, davon überzeugen, dass sie etwas unternehmen mussten, um dem Schicksal ihrer Vorläufer zu entgehen. Entweder taten sie, was nötig war, um die Dunkelheit auf der dritten Seite der Ringtore zu verstehen und zu besiegen, oder sie starben durch diese Kraft.

Die Experimente im Tecoma-System liefen ab wie alle entscheidenden Schritte in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Seit das erste Säugetier beschlossen hatte, sich auf die Hinterbeine zu erheben, um über das Gras hinwegzublicken. Wenn es funktionierte, würde sich abermals alles verändern. Immer veränderte das Neue alles, was vorher war. Das war die am wenigsten überraschende Tatsache des Lebens.

In diesen letzten Augenblicken hatte er nach seiner Teetasse gegriffen, aber mit einem seiner eigenartigen neuen Sinne, die Dr. Cortázar ihm geschenkt hatte, bemerkt, dass das Getränk bereits kalt war. Das Gespür für die Schwingungen der Moleküle entsprach der physischen Wahrnehmung von Wärme – beides maß dieselbe Realität der Materie –, doch der gewöhnliche menschliche Sinn war wie ein Kind, das mit einer Flöte spielte, während Duarte über ein ganzes Sinfonieorchester neuer Wahrnehmungen verfügte.

Dann kam der letzten Augenblick.

In dem kurzen Moment zwischen dem Entschluss, seinen Kammerdiener eine frische Tasse Tee holen zu lassen, und dem Ausstrecken der Hand zur Steuerung des Coms flog Winston Duartes Bewusstsein auseinander wie ein Strohhaufen in einem Wirbelsturm.

Da waren Schmerzen – sehr starke Schmerzen – und Angst. Aber es war niemand mehr da, der etwas fühlen konnte, also klangen sie rasch ab. Es gab kein Bewusstsein, keine Strukturen und keinen Menschen mehr, der die Gedanken festhalten konnte, die aufkamen und wieder verblassten. Etwas Zarteres – etwas Anmutigeres und Komplexeres – wäre gestorben. Die narrative Kette, die sich selbst als Winston Duarte betrachtete, wurde in Stücke gerissen, doch der Körper, der ihn beherbergte, existierte weiter. Die fein abgestimmten Energieströme in seinem Körper gingen in den unsichtbaren Turbulenzen eines inneren Sturmes unter und verloren jeden Zusammenhalt. Und dann, ohne dass es irgendjemand bemerkte, wurden sie langsamer und kamen zum Stillstand.

Seine dreißig Billionen Zellen nahmen weiterhin Sauerstoff aus der komplizierten Flüssigkeit auf, die sein Blut gewesen war. Die Gebilde, die seine Neuronen gewesen waren, verbanden sich miteinander wie Trinkkumpane, die in einer unbewussten Synchronizität gleichzeitig die Ellenbogen beugten. Etwas, das vorher nicht da gewesen war, entstand. Nicht das Alte, sondern eine neue Struktur, die sich in dem zurückbleibenden leeren Raum ansiedelte. Nicht der Tänzer, sondern ein Tanz. Nicht das Wasser, sondern ein Strudel. Keine Person. Kein Bewusstsein. Aber etwas.

Als das Bewusstsein zurückkehrte, erschien es zuerst in Form von Farben. Blau, aber ohne ein Wort für das Blau. Dann kam Rot. Dann ein Weiß, das ebenfalls etwas bedeutete. Ein Bruchstück einer Idee. Schnee.

Freude kam auf und hielt sich länger als die Angst. Ein umfassendes Staunen wallte empor und griff um sich, ohne ein Medium zu besitzen, das es weitertragen konnte. Strukturen entstanden und vergingen, verbanden sich und lösten sich. Die wenigen, die langsamer zerfielen, gingen manchmal Beziehungen mit anderen ein und konnten sich dadurch etwas länger halten.

Wie ein Baby, das mit Tastsinn, Augenlicht und Kinästhesie nach und nach eine Vorstellung von etwas entwickelte, das es noch nicht „Fuß“ nennen konnte, berührten kleine Bewusstseinsfragmente das Universum, und etwas wie Verstehen bildete sich heraus. Etwas spürte seine schwerfällige, primitive Körperlichkeit, während es in die großen Lücken zwischen den Zellen Chemikalien einschleuste. Es erfasste die groben, ungehemmten Schwingungen jenseits der Ringtore, die die Welten verbanden, und es dachte an wunde Stellen und Geschwüre. Es spürte etwas. Es dachte etwas. Es erinnerte sich, wie man sich erinnerte, und dann vergaß es.

Es hatte einen Grund gegeben, ein Ziel. Etwas hatte Gräueltaten gerechtfertigt, um noch Schlimmeres zu verhindern. Er hatte seine Nation verraten. Er hatte sich gegen Milliarden verschworen. Er hatte Menschen zum Tode verurteilt, die ihm bis in den Tod treu ergeben waren. Es hatte einen Grund gegeben. Daran erinnerte er sich. Und er vergaß. Er entdeckte von Neuem das prachtvolle Strahlen von Gelb und gab sich der Erfahrung ganz und gar hin.

Er hörte Stimmen, die wie Sinfonien klangen, und hörte sie wie ein Quaken. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass ein „Er“ existierte und dass er selbst es war. Es gab etwas, das er tun sollte. Die Menschheit retten. Etwas in dieser Art, etwas lächerlich Großartiges.

Er vergaß.

Komm zurück. Daddy, komm zurück zu mir.

Wie damals, als sie, noch ein Kleinkind, an seiner Seite geschlafen hatte, konzentrierte er sich automatisch auf sie. Seine Tochter quengelte, und er stand auf, damit es seine Frau nicht tun musste. Teresa hatte irgendwann seine Hand genommen und etwas gesagt. An die Worte konnte er sich nicht erinnern, deshalb blickte er in der Zeit zu dem Moment zurück, in dem sie es ausgesprochen hatte. Dr. Cortázar? Er wird mich töten.

Das fand er nicht richtig. Den Grund konnte er nicht benennen. Der Sturm an jenem anderen Ort war laut, flaute ab, war wieder laut. Da gab es eine Verbindung. Er sollte die Menschen vor den Wesen in dem Sturm retten. Vor den Wesen, die der Sturm waren. Oder vor ihrer eigenen allzu menschlichen Natur. Doch seine Tochter war da, und sie war interessant. Er sah die Verzweiflung durch ihr Gehirn und durch den ganzen Körper fluten. Der Kummer in ihrem Blut strahlte wie eine Witterung ringsherum in die Luft aus. Er wollte etwas. Er wollte sie trösten und beruhigen. Er wollte alles wiedergutmachen, was ihr zugestoßen war. Noch interessanter aber war, dass er zum ersten Mal etwas wollte.

Der seltsame Eindruck, als er diese Dinge fühlte, zerrte an seiner Aufmerksamkeit, und er irrte ab. Er hielt ihre Hand und wanderte. Als er zurückkehrte, hielt er immer noch ihre Hand, doch sie war jemand anders. Sir, wir müssen Sie jetzt scannen. Es tut nicht weh.

Dr. Cortázar, er erinnerte sich. Er wird mich töten. Er wedelte Cortázar weg, indem er in die leeren Räume zwischen den winzigen Flöckchen stieß, die ihn zu einer physischen Erscheinung machten, bis der Mann davonwehte wie Staub. So. Das war erledigt. Doch die Anstrengung hatte ihn erschöpft, und sein Körper tat weh. Er gestattete sich abzuirren, bemerkte dabei aber, dass er sich nicht mehr so weit entfernte. Sein Nervensystem war zertrümmert, wuchs jedoch wieder zusammen. Sein Körper bestand darauf, dass es weitergehen musste, obwohl es nicht weitergehen konnte. Er bewunderte seine störrische Weigerung zu sterben, als wäre sie etwas, das außerhalb von ihm selbst existierte. Der dumpfe, rein körperliche Drang weiterzuschreiten, die Entschlossenheit jeder Zelle, weiter zu arbeiten, das störrische Bedürfnis, die Existenz fortzusetzen, das alles erforderte nicht einmal einen Willen. Und das alles hatte eine Bedeutung. Es war wichtig. Er musste sich nur erinnern warum. Es hatte mit seiner Tochter zu tun. Damit, dass sie wohlbehalten und sicher leben sollte.

Er erinnerte sich. Daran, dass er ein Mann war, der sein Kind liebte, und so erinnerte er sich, dass er ein Mann war. Dieses Band war stärker als der Ehrgeiz, der ein Reich aufgebaut hatte. Er erinnerte sich, dass er sich in etwas verwandelt hatte, das anders war als ein Mensch. Mehr als ein Mensch. Und er begriff, wie ihn diese fremdartige Stärke zugleich geschwächt hatte. Und wie ihn der primitive, für Schuldgefühle unempfängliche Lehm seines Körpers vor der Vernichtung bewahrt hatte. Das Schwert, das eine Milliarde Engel getötet hatte, konnte die Primaten in ihren Blasen aus Metall und Luft höchstens ein wenig belästigen. Und ein Mann namens Duarte, auf halbem Wege zwischen einem Engel und einem Affen, war zerbrochen, aber nicht gestorben. Die Scherben waren ihren eigenen Weg gegangen.

Da war noch jemand anders. Ein Mann mit ausgetrockneten Flussbetten im Gehirn. Ein anderer Mann, der verändert worden war. James Holden. Der Feind, der einen gemeinsamen Feind bekämpft hatte. Damals, bevor Winston Duarte zerbrochen und im Zerbrechen zu etwas Neuem geworden war.

Mit unendlicher Mühe und Sorgfalt zog er die unerträgliche Weite und Komplexität seines Bewusstseins zusammen, immer weiter zusammen, und verdichtete sich zu dem, was er gewesen war. Das Blau verblasste zu der Farbe, die er als Mensch gekannt hatte. Das Gefühl, dass gleich auf der anderen Seite ein gewaltiger, gefährlicher Sturm tobte, verflog. Er spürte die warme, nach Eisen riechende Muskulatur seiner Hand, die nichts hielt. Dann schlug er die Augen auf, drehte sich zur Com-Anlage um und öffnete eine Verbindung.

„Kelly“, sagte er. „Könnten Sie mir einen frischen Tee bringen?“

Die Pause dauerte länger, als man angesichts der Umstände hätte erwarten können. „Ja, Sir“, antwortete Kelly.

„Danke.“ Duarte trennte die Verbindung.

In seinem Arbeitszimmer hatte man ein Krankenbett mit einer Schaumstoffmatratze aufgestellt, die das Wundliegen verhindern sollte, doch er saß am Schreibtisch, als hätte er ihn nie verlassen. Er machte eine Bestandsaufnahme seines Körpers und registrierte dessen Schwächen. Die ausgezehrten Muskeln. Er stand auf, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und ging zum Fenster, weil er wissen wollte, ob er es konnte. Es gelang ihm.

Draußen blitzte es, der Regen trommelte. Auf den Gehwegen standen Pfützen, das Gras war saftig und sauber gewaschen. Er griff nach Teresa hinaus und fand sie. Sie war nicht in der Nähe, aber sie schwebte auch nicht in Gefahr. Es war, als sähe er sie wieder durch die Wildnis trampeln, nur ohne die Hilfe der künstlichen Kameraobjektive. Die Liebe und Nachsicht, die er für sie empfand, waren unerschöpflich. So weit wie das Meer. Aber dies hier war nicht dringend. Der beste Ausdruck seiner Liebe war seine Arbeit. Also wandte er sich ihr zu, als sei es ein ganz normaler Tag.

Wie er es jeden Morgen getan hatte, rief Duarte eine Zusammenfassung der Dossiers auf. Normalerweise war ein solcher Bericht nur eine Seite lang. Dieser war so umfangreich wie ein Buch. Er sortierte die Meldungen nach Themengebieten und holte diejenigen hervor, die sich um den Verkehrsfluss durch den Ringraum drehten.

Die Dinge waren, um es vorsichtig auszudrücken, während seiner Abwesenheit nicht gut gelaufen. Wissenschaftliche Memoranden über den Verlust der Medina-Station und der Typhoon. Militärische Analysen der Belagerung von Laconia und zum Verlust der Konstruktionsplattformen. Geheimdienstberichte über die erstarkende Opposition in den weit verstreuten Systemen der Menschheit. Admiral Trejos Versuche, den Traum vom Reich auch ohne ihn zu hüten.

Nicht lange nach dem Tod ihrer Mutter hatte es eine Phase gegeben, in der Teresa darauf bestanden hatte, ihm das Frühstück zuzubereiten. Sie war so jung gewesen, jung und noch nicht dazu fähig, und sie war gescheitert. Er erinnerte sich an das geröstete Brot, auf dem sich ein Berg Marmelade türmte, oben darauf ein Eckchen nicht geschmolzene Butter. Die Kombination aus Ehrgeiz, Zuneigung und Pathos war auf ihre eigene Weise wunderschön gewesen. Die Art von Erinnerungen, die überlebten, weil Liebe und Peinlichkeit einander so perfekt ergänzten. Dies hier fühlte sich genauso an.

Sein Bewusstsein für den Ringraum war jetzt klar. Er hörte die Echos im Gewebe der Realität, als presste er das Ohr auf ein Schiffsdeck, um den Zustand des Antriebs einzuschätzen. Das Toben des Feindes war für ihn so offenkundig, als hörte er dessen Stimmen. Das Kreischen, das in einem Medium, das keine Luft war, in einer Dimension gellte, die keine Zeit war.

„Admiral Trejo“, sagte er. Anton zuckte zusammen.

 

Es war die fünfte Woche der kombinierten Presse- und Eroberungskampagne im Solsystem. Erschöpft, nachdem er den ganzen Tag lang lokalen Anführern und Beamten die Hände geschüttelt und Reden gehalten hatte, saß er in seiner Kabine. Er war das Gesicht des beinahe getaumelten Reichs und achtete darauf, dass niemand erfuhr, wie nahe sie dem Untergang gewesen waren. Nach den langen Wochen unter hohem Schub, nachdem sie Laconia verlassen hatten, war er müde. Er wollte nichts lieber als einen steifen Drink und acht Stunden Schlaf im Bett. Oder gleich zwanzig. Stattdessen musste er an einer Videokonferenz mit Generalsekretär Duchet und seinem marsianischen Pendant teilnehmen. Beide waren auf Luna und damit so nahe, dass es keine Zeitverzögerung gab. Die Politiker logen ihn lächelnd an. Trejos Lächeln war drohend.

„Natürlich verstehen wir, wie wichtig es ist, die orbitalen Schiffswerften so schnell wie möglich wieder in Gang zu bringen. Wir müssen unbedingt unsere gemeinsame Verteidigung wiederaufbauen“, erklärte Duchet. „Aber angesichts der gesetzlosen Zustände nach dem kürzlichen Angriff auf Laconia gilt unsere größte Sorge der Sicherheit der Einrichtungen. Wir brauchen eine Art Garantie, dass Ihre Schiffe fähig sind, diese wertvollen Anlagen zu beschützen. Wir wollen uns nicht selbst als Ziel anbieten, das der Untergrund jederzeit ins Visier nehmen kann.“

Sie haben dich gerade eben in den Arsch getreten, sie haben deine Fabriken in die Luft gejagt, du hast zwei deiner mächtigsten Schlachtschiffe verloren und hast Mühe, das Reich beisammenzuhalten. Hast du überhaupt genug Schiffe, um uns zu zwingen, für dich zu arbeiten?

„Es ist wahr, wir haben Rückschläge erlitten.“ Wie meistens, wenn er wütend war, sprach Trejo mit einem leiernden Akzent. „Aber es besteht kein Anlass zur Sorge. Wir haben mehr als genug Zerstörer der Pulsar-Klasse, um im gesamten Solsystem die Sicherheit zu gewährleisten.“

Ich habe euch gerade mit zwei Dutzend dieser Schiffe erobert, und ich habe noch erheblich mehr davon, die ich herbeirufen kann, falls es nötig wird, also tut ihr jetzt gefälligst, was ich verlange.

„Das ist wirklich gut zu hören“, warf der marsianische Premierminister ein. „Bitte teilen Sie dem Hochkonsul mit, dass wir keine Mühen scheuen werden, um seine Produktionsvorgaben zu erfüllen.“

Bitte befehlen Sie keine Flächenbombardements auf unsere Städte.

„Ich werde es ihm sagen“, antwortete Trejo. „Der Hochkonsul weiß Ihre Unterstützung und Loyalität zu schätzen.“

Duarte ist ein sabbernder Idiot, aber wenn ihr mir die Schiffe gebt, damit ich das Reich zusammenhalten kann, muss ich eure verdammten Planeten nicht in Schlacke verwandeln, und vielleicht siegen wir dann doch noch.

Trejo trennte die Verbindung und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Leise rief ihn die Flasche Whisky in seinem Schrank. Das frisch gemachte Bett war lauter. Er hatte für beides keine Zeit. Der Untergrund zettelte in mehr als tausenddreihundert Systemen Aufstände an. Und das war nur das Problem, das er mit den Menschen hatte. Danach musste er sich um die Tore kümmern und um das in ihnen, was in ganzen Systemen das Bewusstsein ausknipste, während es nach Wegen suchte, die gesamte Menschheit zu vernichten.

Das Böse ruhte nicht, das Gute fand keinen Schlaf.

„Verbinde mich mit der Vertreterin der Weltenvereinigung im Solsystem. An den Namen erinnere ich mich nicht“, sagte er. Niemand außer dem Schiff hörte ihn.

VERBINDE, stand auf dem Bildschirm. Zeit für die nächsten lächelnden Lügen. Noch mehr versteckte Drohungen. Noch mehr – er benutzte das Wort fast wie ein Synonym – Diplomatie.

„Admiral Trejo“, sagte jemand hinter ihm. Er kannte die Stimme, aber es kam so unerwartet, dass er Mühe hatte, sie richtig einzuordnen. Einen Moment lang gab er sich der völlig abwegigen Vorstellung hin, sein Attaché habe sich die ganze Zeit in seiner Kabine versteckt und diesen Augenblick gewählt, um zum Vorschein zu kommen.

„Anton“, sagte die Stimme so leise und vertraulich, als spräche ein Freund. Trejo drehte sich auf dem Stuhl um. Am Fußende seines Betts stand Winston Duarte, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er trug ein locker sitzendes Freizeithemd, schwarze Hosen und keine Schuhe an den Füßen. Seine Haare waren zerzaust, als wäre er gerade erst aufgewacht. Er sah aus, als sei er tatsächlich da.

„Sicherheitsalarm“, sagte Trejo. „Dieser Raum, volle Überprüfung.“

Duarte verzog schmerzlich das Gesicht. „Anton“, sagte er noch einmal.

Einige Millisekunden später hatte das Schiff jeden Zentimeter seiner Kabine daraufhin untersucht, ob sich dort irgendetwas befand, das nicht dort sein sollte. Der Bildschirm meldete, dass der Raum frei sei von Abhörgeräten, gefährlichen Chemikalien und nicht autorisierter Technologie. Außerdem war er der einzige Mensch, der sich in dem Raum befand. Das Schiff fragte, ob er bewaffnete Sicherheitskräfte anfordern wollte.

„Habe ich einen Schlaganfall?“, fragte er die Erscheinung.

„Nein“, antwortete Duarte. „Aber Sie sollten sich mehr Schlaf gönnen.“ Der Geist in seiner Kabine zuckte fast verlegen mit den Achseln. „Anton, hören Sie, Sie haben alles getan, was man nur von Ihnen verlangen konnte, um das Reich beisammenzuhalten. Ich habe die Berichte gesehen und weiß, wie schwierig diese Aufgabe war.“

„Sie sind gar nicht hier.“ Trejo versteifte sich auf die einzige denkbare Realität und verwarf die Lügen, die seine Sinne ihm eingaben.

„Das Wort hier ist für mich inzwischen ein dehnbarer Begriff“, stimmte Duarte zu. „So sehr ich Ihre Arbeit auch schätze, Sie können sich jetzt zurückziehen.“

„Nein, es ist noch nicht vorbei. Ich kämpfe immer noch dafür, das Reich zu bewahren.“

„Das weiß ich wirklich zu schätzen. Ehrlich. Aber wir haben einen falschen Weg eingeschlagen. Ich brauche ein wenig Ruhe, um das alles zu durchdenken, aber ich sehe es jetzt viel klarer. Alles wird gut.“

Die Erleichterung, endlich diese Worte zu hören – und sie zu glauben –, durchflutete Trejo. Nicht einmal der erste Kuss einer Geliebten war so überwältigend gewesen wie dieses Gefühl.

Duarte schüttelte belustigt und wehmütig den Kopf. „Sie und ich, wir haben ein Reich aufgebaut, das die Galaxis umfasst. Wer hätte ahnen können, dass wir zu klein gedacht haben?“

Das Bild, die Illusion, die Projektion, was es auch war, verschwand so abrupt wie beim Szenenwechsel im Film.

„Leck mich doch“, sagte Trejo zu niemand im Besonderen. Auf dem Display über dem Schreibtisch blinkte immer noch der Sicherheitsalarm. Mit einer Hand aktivierte er den Com.

„Sir“, antwortete der Wachhabende. „Wir haben eine aktive Warnmeldung in Ihrem Quartier. Sollen wir …“

„Sie haben fünf Minuten für die Vorbereitungen, ehe wir mit maximalem Schub zum Ring fliegen.“

„Sir?“

„Geben Sie Alarm“, befahl Trejo. „Alle sollen sich auf die Druckliegen begeben. Wir müssen zurück nach Laconia. Unverzüglich.“

 

James Corey: „Leviathan fällt“ • Roman • aus dem Amerikanischen von Jürgen Langowski • Wilhelm Heyne Verlag, München 2022 • 624 Seiten • Erhältlich als Paperback und ebook • Preis des Paperbacks € 14,99 (im Shop)

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