22. September 2021 1 Likes

„Die Hochhausspringerin“ trifft auf „Die Zeit der Wilden“

Gnadenlos effiziente Geschichten von Julia von Lucadou und Sébastien Goethals

Lesezeit: 3 min.

Die Realität bewerten und sehen, was sich daraus für die Zukunft ergibt: Das kann die Science Fiction. Wer wissen möchte, wohin zu viel Effizienz führen kann, darf das in einem Romandebüt und einer Graphic Novel nachlesen.

 

Ohne Netz und doppelten Boden

Frei wie ein Vogel – wer wäre das nicht gerne? Einfach abspringen und durch die Luft gleiten, die Thermik für sich arbeiten lassen und irgendwann irgendwo landen. Wären die Hochhausspringer aus Julia von Lucadous Roman real, kämen sie diesem Gefühl der unendlichen Freiheit sehr nah. Doch die fliegenden Stars sind natürlich nicht frei, sondern Gefangene eines Systems, in dem das berufliche und private Leben so erbarmungslos durchgetaktet ist wie eine gut geölte Maschine. Wer gegen die Regeln verstößt, dem droht quasi der freie Fall: der Ausstoß aus der glänzenden Stadt in die bedeutungslosen Peripherien. Dort wiederum träumen die Menschen vom sozialen Aufstieg und den Hochhäusern in der Ferne. Lucadou erzählt in „Die Hochhausspringerin“ von zwei jungen Frauen, die nicht gegensätzlicher sein könnten. Riva ist beliebt, erfolgreich und steht in ihrem goldenen Käfig unter ständiger Beobachtung von Freund, Trainer und Fans. Als sie von heute auf morgen beschließt, nicht mehr zu springen und in Lethargie verfällt, soll Hitomi die Ursachen dafür herausfinden. Sie ist ausgeglichen, ehrgeizige und perfekt an die Welt angepasst. Um Riva zurück auf die Dächer der Stadt bringen, zieht Hitomi jedoch bald alle Register und begibt sich auf einen Pfad, der zum Absturz führt. Die Filmwissenschaftlerin Julia von Lucadou arbeitet sich in ihrem Romandebüt an unserer Wirklichkeit ab und zeigt, wohin ein fanatischer Glaube an Anpassung, Effizienz und Optimierung führen kann – und wie sich dieser auf Kinder und Erwachsene auswirkt. Die Hochhausspringerin“ (im Shop) ist eine klassische Dystopie, die hinter die glitzernden, aber auch matten Fassaden blickt, und unserer Gesellschaft den Spiegel vorhält. Ein filmisch erzähltes und lesenswertes Debüt.

Julia von Lucadou: Die Hochhausspringerin • btb, München, 2021 • 288 Seiten • 10,00 € • im Shop

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Die Rache der Söhne

Apropos Effizienz. Die spielt auch in Thomas Gunzigers „Survival-Handbuch für Unfähige“ („Manuel de survie à l’usage des incapables“, 2013) eine nicht unbedeutende Rolle. In seinem Roman porträtiert der Belgier eine triste, von Managern geprägte Welt, in der Eltern ihre Kinder durch genetische Modifikation einen evolutionären Vorteil verschaffen können. Was im Buch der eigenen Vorstellungskraft überlassen bleibt, hat Sébastien Goethals in „Die Zeit der Wilden“ zum Leben erweckt. Hier bekommen die vermeintlichen Wilden Weiß, Grau, Braun und Schwarz ein Gesicht: menschlich und wölfisch zugleich. Das Rudel jagt Jean, jenen Mann, den es für den Tod der Mutter verantwortlich macht. Diese war für ihren Arbeitgeber nicht effizient und schnell genug an der Supermarktkasse – und stirbt beim Kündigungsgesprächs aus Versehen. Ihr Tod löst eine Kette von Ereignissen aus, die die Protagonisten zum Showdown in die russische Einöde führt. Sébastien Goethals fängt Gunzigers graue Geschichte in ebensolchen Farben ein: Hier gibt es keine Lichtblicke, keine Fröhlichkeit, sondern Farblosigkeit und Tristesse in all ihren Schattierungen. Er erzählt die Geschichte von Jean und dem Rudel parallel. Dabei gibt er einen Einblick in das unmenschliche System, das von Jeans Ehefrau Marianne und zwei Supermarktmagnaten repräsentiert wird. Die drei laden allein durch ihre Namen zu Interpretationen und Spekulationen ein, widerspricht die eine doch durch ihr Handeln ihrem Vorbild, während die beiden anderen an die dunklen Seiten der deutschen Geschichte mahnen. Nicht nur wegen solcher, mal mehr, mal weniger subtilen Anspielungen ist „Die Zeit der Wilden“ ein Brett von einem Comic und nicht immer leichte Lesekost. In der Geschichte ist der Mensch mal wieder des Menschen Wolf geworden. Doch wer am Ende Mensch und wer Wolf ist, sei an dieser Stelle nicht verraten.

Sébastien Goethals: Die Zeit der Wilden • Aus dem Französischen von Tanja Krämling• Splitter, Bielefeld 2021 • 272 Seiten • 39,80 Euro

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