Einem geheimnisvollen Phänomen auf der Spur
Eine neue Leseprobe aus Cixin Lius großem Science-Fiction-Epos „Kugelblitz“
In seinem neuen Roman „Kugelblitz“ (im Shop) lässt Bestsellerautor Cixin Liu den jungen Physiker Chen bis an die Grenzen der Wissenschaft vordringen. Nach dem er seine Eltern auf tragische Weise durch einen Kugelblitz verloren hat, verschreibt sich Chen ganz und gar der Erforschung dieses rätselhaften Naturphänomens. Und was er herausfindet, wird nicht nur sein Leben, sondern das der gesamten Menschheit für immer verändern …
Universität
Pflichtkurse: Hohere Mathematik, Theoretische Mechanik, Hydromechanik, Theoretische und praktische Informatik, Programmierung und Programmiersprachen, Dynamische und synoptische Meteorologie, Chinesische Meteorologie, Statistische Vorhersagen, Mittel- und langfristige Wettervorhersagen, Numerische Vorhersagen.
Wahlpflichtkurse: Planetarische Zirkulation, Meteorologische Diagnostik und Analyse, Starkregen und Mesometeorologie, Gewittervorhersage und -prävention, Tropische Meteorologie, Klimawandel und kurzfristige Klimaprognosen, Radar- und Satellitenmeteorologie, Luftverschmutzung und Stadtklima, Höhenmeteorologie, Wechselwirkungen zwischen Ozean und Atmosphäre.
Fünf Tage vorher war ich, nachdem ich alle meine Angelegenheiten zu Hause geregelt hatte, zum Studium in eine ferne Stadt im Süden gezogen. Als ich zum letzten Mal die Tür meines leeren Zuhauses geschlossen hatte, wusste ich, dass ich damit meine Kindheit für immer hinter mir ließ. Von nun an würde ich eine Maschine sein, die nur ein einziges Ziel verfolgte.
Doch beim Anblick des Curriculums, das die nächsten vier Jahre meines Studentenlebens in Beschlag nehmen sollte, beschlich mich wachsende Enttäuschung. Die meisten der behandelten Gegenstände waren für mich nicht von Interesse, während einige andere, die ich umso bedeutsamer fand, zum Beispiel Elektromagnetismus und Plasmaphysik, in der Aufstellung fehlten. Mir dämmerte, dass ich mich womöglich für das falsche Fach eingeschrieben hatte. Vielleicht hätte ich besser Physik und nicht Atmosphärenforschung gewählt.
Also vergrub ich mich in der Bibliothek und widmete beinahe all meine Zeit einigen wenigen Fächern: Mathematik, Elektromagnetismus, Hydromechanik und Plasmaphysik. Ich besuchte fast nur noch diejenigen Kurse, die diese Inhalte berührten, und schwänzte den restlichen Unterricht. Das bunte Studentenleben blieb mir fremd und gleichgültig. Nachts pflegte ich erst gegen ein oder zwei Uhr in mein Wohnheim zurückzukehren, und nur wenn ich dann einen meiner Zimmergenossen im Traum den Namen seiner Freundin murmeln hörte, wurde mir bewusst, dass es auch noch ein anderes Leben gab.
Eines Nachts glaubte ich, ich wäre wieder einmal der Einzige in jenem Lesesaal, der sich dem Abendstudium widmete, doch als ich von meinem dicken Buch über Partielle Differentialgleichungen aufsah, begegnete mein Blick dem von Dai Lin, einer hübschen Studentin aus meiner Klasse. Sie saß mir gegenüber, hatte aber kein Buch vor sich liegen, sondern beobachtete mich nur, das Kinn auf die Hände gestützt. Allerdings hätte der Ausdruck, mit dem sie mich betrachtete, ihre Scharen von Bewunderern nicht in Verzückung versetzt: Sie sah mich – ich weiß nicht, wie lange schon – an, als hätte sie in ihren Reihen einen feindlichen Spion entdeckt, einen Alien.
»Du bist eigenartig«, sagte sie. »Man merkt, dass du nicht einfach nur ein Bücherwurm bist. Du bist extrem konzentriert.«
»Na und? Ihr anderen verfolgt doch auch Ziele, oder?«, fragte ich leichthin zurück. Vielleicht war ich der einzige männliche Student in der Klasse, der noch nie ein Wort mit ihr gewechselt hatte.
»Unsere Ziele sind vage, aber du verfolgst bestimmt ein ganz konkretes Ziel.«
»Du verfügst über eine gute Menschenkenntnis«, erwiderte ich kühl, während ich meine Bücher zusammenräumte und aufstand. Ich empfand als Einziger kein Bedürfnis, mich vor ihr wichtigzutun, und das flößte mir ein Gefühl der Überlegenheit ein.
»Wonach suchst du?«, rief sie mir hinterher, als ich schon an der Tür war.
»Das würde dich nicht interessieren«, erwiderte ich, ohne mich umzudrehen.
Als ich draußen in der stillen Herbstnacht zum Sternenhimmel aufblickte, glaubte ich aus der Luft die Stimme meines Vaters zu hören: »Der Schlüssel zu einem wundervollen Leben ist etwas, das dich fasziniert.« Nun fühlte ich am eigenen Leib die Wahrheit seiner Worte. Mein Leben glich einem Geschoss, das durch die Luft rauschte, von nichts als der Sehnsucht beseelt, an seinem Ziel zu explodieren. Dieses Ziel versprach keinerlei materiellen Nutzen, doch wenn ich es erreichen würde, wäre mein Leben vollendet. Ich wusste nicht, was mich zu jenem Punkt zog, ich wusste nur, dass ich ihn anvisieren wollte, und das war genug. Der Impuls, der mich antrieb, gründete in der tiefsten Natur des Menschen. Seltsamerweise hatte ich bis dahin noch keinerlei Forschungsliteratur zu meinem Gegner studiert. Wir beide glichen zwei Rittern, die sich ihr Leben lang auf das eine entscheidende Duell vorbereiten, doch solange ich mich dafür noch nicht gewappnet fühlte, würde ich meinen Feind weder ins Visier nehmen noch über ihn nachgrübeln.
Im Nu waren drei Semester vergangen. Ich erlebte diese Zeit als ein einziges Kontinuum, das von den Semesterferien nicht durchbrochen wurde, denn weil ich kein Zuhause mehr hatte, hatte ich auch die Ferien ausnahmslos auf dem Campus verbracht. Nur in der Nacht vor dem Frühlingsfest, als ich draußen die Böller hörte, dachte ich an mein Leben, bevor er aufgetaucht war – ein Leben, das mir nun unwirklich fern vorkam. In den Nächten, wenn die Heizung im Wohnheim ausgeschaltet wurde, machte die Kälte meine Träume außerordentlich lebendig, und ich glaubte, meine Eltern würden mir darin erscheinen, doch das taten sie nicht.
Mir kam eine indische Legende in den Sinn. Sie handelte von einem König, der, als seine innig geliebte Gemahlin verstorben war, den Entschluss fasste, zu ihrem Andenken ein Mausoleum von unerhörter Pracht zu errichten. Er widmete einen Großteil seines Lebens dem Bau dieses Mausoleums, doch als es endlich vollendet war und er im Innern der Grabstätte den Sarg seiner verstorbenen Gattin erblickte, brummte er nur: »Wie unpassend sich dieses Ding hier ausnimmt! Schafft es fort.«
Meine Eltern waren längst fortgegangen, und nun nahm er jeden Winkel meines Herzens in Beschlag.
Doch was dann geschah, machte meine einfache Welt wieder kompliziert.
Cixin Liu: „Kugelblitz“ • Roman • Aus dem Chinesischen von Marc Hermann • Wilhelm Heyne Verlag, München 2020 • 544 Seiten • Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)
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