„Long live the old flesh“ - David Cronenberg (und andere) in Cannes
Body Horror und toxische Männlichkeit
Es ist fast schon Tradition, das im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes ein Film läuft, der das meist sehr bürgerliche, sehr saturierte Premierenpublikum aus dem Gleichgewicht bringen soll, das die Grenzen des Zeigbaren auslotet. Gaspar Noes „Irreversible“ war so ein Film, auch Nicolas Winding Refns „Only God Forgives“ darf man dazu zählen, seinen „Neon Demon“ erst recht. Vor gut 25 war es schließlich David Cronenberg, dessen „Crash“ für Verstörung sollte.
Und so war man schon Tage vor der Premiere gespannt darauf, was der kanadische Regisseur bei seiner angekündigten Rückkehr zum Body Horror aufbieten würde. So extrem wie in seinem gleichnamigen Frühwerk (mit dem der neue Film den Titel, ansonsten aber nichts teilt) würde es vermutlich nicht werden, denn dort wurde die Vergewaltigung eines kleinen Mädchens angedeutet. Der neue „Crimes of the Future“ beginnt dann immerhin mit dem Mord einer Mutter an ihrem kleinen Sohn. Der allerdings nicht ganz menschlich ist, sondern auf dem Weg zum Zwischenwesen. Denn in dieser Zukunftswelt mutieren die Menschen zunehmend, ist das Schmerzempfinden ausgelöscht, suchen die Menschen nach neuen Reizen: „Surgery is the new Sex!“ heißt das Motto und das von Viggo Mortensen und Léa Seydoux gespielte Paar lebt dieses Motto vor. Ihm wachsen neue Organe, die sie tätowiert und dann als Performance Kunst vor dem begeisterten, sexuell erregten Publikum aus seinem Körper herausschneidet.
Ähnlichkeiten zu „Crash“, bei dem Autounfälle und vernarbte, wulstige Wunden als Aphrodisiakum dienten sind nicht zufällig, dem Vernehmen nach schrieb Cronenberg das Drehbuch zu „Crimes of the Future“ fast zeitgleich zu „Crash“ und überarbeitet es nun kaum. Was vielleicht erklärt, dass sich seine neue Body Horror-Vision etwas altbacken, um nicht zu sagen aufgewärmt anfühlt. Zumal die Geschichte sich im letzten Drittel ein wenig verliert und zu keinem rechten Höhepunkt findet.

Ganz anders bei Alex Garlands „Men“, der als metaphysischer Thriller beginnt und in einer Sequenz vielfacher Wiedergeburt endet, die dem ohnehin bizarren Unterfangen die Krone aufsetzt. Eine Frau und viele Männer sind zu sehen, wobei der Clou ist, dass fast alle Männer vom selben Schauspieler dargestellt werden: Mal spielt Rory Kinnear einen Priester, mal einen nackten, Adam-gleichen Mann, der am Baum der Erkenntnis schnüffelt, dann, mittels Deep Fake-Technik, einen vulgären Teenager. Wobei genauer gesagt alle Männer vulgär sind, was am Ende der etwas dünne Punkt ist. In einem schicken englischen Landhaus spielt der seltsame Film, hierher hat sich Harper (Jessie Buckley) zurückgezogen, nachdem ihr Mann vor ihren Augen vom Dach gefallen ist. Ob es ein Unfall oder der angekündigte Selbstmord war bleibt offen, das Trauma jedenfalls verwandelt den bukolischen Ort in eine Metapher für toxische Maskulinität.
Doch was wirklichen Schockfaktor angeht, können es weder Cronenberg noch Garland mit dem Regie-Duo Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel aufnehmen. Am Harvard Sensory Ethnography Lab arbeitet und forscht das Duo und hat sich in Kunst- und Experimentalfilmbereichen einen Namen mit extrem immersiven Filmen gemacht. Diesmal gehen sie nicht nur an die Oberfläche, sondern tatsächlich in den menschlichen Körper hinein: „De Humani Corporis Fabrica“ (hier der Teaser) zeigt zwar auch die alltägliche Arbeit von Ärzten und Schwestern an französischen Krankenhäusern, vor allem aber Aufnahmen von arthroskopischen Untersuchungen, die tiefe Einblicke in Därme, Harnröhren und anderes geben. Dazu extreme Nahaufnahmen der Vivisektion einer vom Krebs zerfressenen Brust oder einer Operation am offenen Rückgrat. Die Realität ist eben doch der wahre Body Horror.
Schließlich sei ein Film erwähnt, bei dem quasi ein Außerirdischer die Hauptrolle spielt: David Bowie. Uneingeschränkten Zugang zum Nachlass des 2016 verstorbenen Musikers hatte der Dokumentarfilmregisseur Brett Morgen und nutzte diese einmalige Gelegenheit zu einer atemberaubenden Bild- und Tonkollage. „Moonage Daydream“ zeigt Bowie in all seinen Facetten, bei extrovertierten Konzertauftritten und schüchternen Interviews, in denen Bowies Nachdenklichkeit und Selbstreflexivität zur Geltung kommt. Trotz einer Länge von 140 Minuten das mitreißende Porträt eines Künstlers, der oft so wirkte, als wäre er nicht von dieser Welt, nicht nur wenn er in „Der Mann, der vom Himmel fiel“ die Hauptrolle spielte.
Abb. ganz oben: „Crimes of the Future“
Kommentare