Die Leseprobe: „Supernova“ von Cixin Liu
Ein Probekapitel aus dem Erstlingswerk von Cixin Liu, dem Autor von „Die drei Sonnen“
Endlich ist er auf Deutsch erhältlich: der Debütroman „Supernova“ (im Shop) von Weltbestsellerautor Cixin Liu. Nachdem er sich zuvor schon in den 1990er-Jahren mit einigen Novellen und Kurzgeschichten einen Namen gemacht hatte – darunter etwa „Die wandernde Erde“ (im Shop), die inzwischen von Netflix verfilmt wurde –, verfasste er 2003 seinen ersten großen Roman.
Wer genau liest, wird in „Supernova“ bereits einige Motive finden, die sich auch durch seine späteren, international Aufsehen erregenden Romane wie die Trisolaris-Trilogie (im Shop) oder „Kugelblitz“ (im Shop) ziehen: ein Weltuntergangsszenario von kosmischen Ausmaßen, gewaltige Menschheitsanstrengungen, technische Innovationen und jede Menge überraschende Wendungen. Hier ist eine Leseprobe für alle, die sich von Cixin Lius Science-Fiction überzeugen lassen wollen.
*
Prolog
Als es geschah, war die Erde ein Planet im Universum.
Als es geschah, war Peking eine Stadt auf der Erde.
Inmitten des Lichtermeers dieser Stadt lag eine Schule, und in einem ihrer Klassenzimmer fand gerade die Abschlussfeier für die sechste Jahrgangsstufe statt. Wie bei solchen Anlässen üblich, redeten die Kinder über ihre Hoffnungen und Sehnsüchte für die Zukunft.
„Ich will General werden!“, sagte Lü Gang, ein schmächtiger Junge, der jedoch einen für sein Alter ungewöhnlichen Machtinstinkt an den Tag legte.
„Wie langweilig!“, kommentierte ein anderer Junge. „Es gibt doch gar keine Kriege, und Generäle machen nichts außer Truppenübungen.“
„Ich will Ärztin werden“, sagte ein Mädchen namens Lin Sha leise und wurde sofort dafür verlacht.
„Ausgerechnet du! Neulich auf dem Land hast du dir schon beim Anblick von Raupenkokons in die Hose gemacht. Und du willst du jemanden mit dem Skalpell aufschneiden können?“
„Meine Mutter ist Ärztin“, gab sie zaghaft zurück.
Zheng Chen, die junge Klassenlehrerin, die gedankenverloren zum Fenster hinaus auf die Lichter der Stadt gestarrt hatte, richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Klasse.
„Und du, Xiaomeng? Was willst du werden, wenn du groß bist?“, fragte sie das sehr einfach gekleidete Mädchen, das genau wie sie aus dem Fenster gestarrt hatte. In den großen, lebhaften Augen des Mädchens lag eine für ihr Alter ungewöhnliche Melancholie.
„Wir haben zu Hause wenig Geld, daher werde ich wohl nur auf die Berufsschule gehen“, sagte sie seufzend.
„Und du, Huahua?“
Die Frage richtete sich an einen hübschen, aufgeweckten Jungen, in dessen großen Augen ein strahlendes Dauerstaunen lag, als wäre die Welt für ihn ein einziges farbenprächtiges Feuerwerk.
„Die Zukunft ist so aufregend, dass ich mich gar nicht entscheiden kann. Aber egal, was ich werde, ich will der Beste sein!“
Die anderen wollten Spitzensportler werden oder Diplomaten. Als ein Mädchen sagte, sie wolle Lehrerin werden, verstummte das Gespräch.
„Das ist keine leichte Aufgabe“, sagte die Klassenlehrerin schließlich leise und starrte wieder zum Fenster hinaus.
„Habt ihr gewusst, dass Frau Zheng schwanger ist?“, flüsterte ein Mädchen.
„Ich weiß. Und gerade dann, wenn das Baby kommen soll, will die Schule Stellen streichen. Es sieht gar nicht gut aus für sie“, flüsterte ein Junge zurück.
Zheng Chen hörte natürlich jedes Wort. „Darüber mache ich mir jetzt wirklich keine Gedanken“, lachte sie. „Ich denke darüber nach, in welcher Welt wir leben werden, wenn mein Kind in eurem Alter sein wird.“
„Warum denn das?“, fragte ein magerer Junge. Sein Name war Yan Jing, aber weil er wegen seiner Kurzsichtigkeit eine Brille mit sehr dicken Gläsern trug, nannten ihn alle nur „Brille“. „Wer weiß schon, was die Zukunft bringt? Vorhersagen lässt sich sowieso nichts.“
„Mithilfe der Wissenschaft lässt sich vieles vorhersagen“, widersprach Huahua. „Außerdem gibt es Futurologen.“
Brille schüttelte den Kopf. „Gerade die Wissenschaft sagt uns, dass sich die Zukunft nicht voraussagen lässt. Was die Futurologen erzählen, sind vage Vermutungen, denn die Welt ist nun einmal ein chaotisches System.“
„Das hast du, glaube ich, schon einmal behauptet. Irgendwo schlägt ein Schmetterling mit den Flügeln, und anderswo kommt deshalb ein Sturm auf.“
„Ganz genau“, nickte Brille. „Ein chaotisches dynamisches System.“
„Ich wäre gern dieser Schmetterling“, sagte Huahua.
Brille schüttelte den Kopf. „Du hast nichts verstanden. Jeder von uns ist ein Schmetterling, jedes Sandkorn und jeder Regentropfen sind ein Schmetterling, und genau deshalb lässt sich die Welt nicht vorhersehen.“
„Du hast einmal etwas von einer Unschärferelation erzählt …“
„Genau. Das Verhalten von Elementarteilchen lässt sich nicht vorausberechnen, und deshalb gilt das für die ganze Welt. Und dann gibt es noch die Hypothese von multiplen Welten. Wenn du eine Münze wirfst, teilt sich die Welt in zwei, und in der einen Welt ist der Kopf oben, in der anderen die Zahl …“
Zheng Chen lachte. „Du bist selbst der beste Beweis dafür. Als ich so alt war wie du, hätte ich nie geglaubt, dass ein Schüler der sechsten Klasse eines Tages so viel wissen könnte.“
„Brille hat eine Menge Bücher gelesen!“, tönte es aus den Reihen der Schüler.
„Ihr Kind wird bestimmt ganz außergewöhnlich, Frau Zheng“, sagte Huahua. „Wer weiß, ob ihm nicht eines Tages die Gentechnik Flügel wachsen lassen kann!“
Alle lachten.
„Kommt!“ Die Klassenlehrerin stand auf. „Werft einen letzten Blick auf das Schulgelände.“
Sie folgten ihrer Lehrerin hinaus auf den Hof. Alle Gebäude ringsum lagen fast vollständig im Dunkeln, und die fernen Lichter der Stadt verliehen dem Campus eine dämmrige Stille. Sie gingen an zwei weiteren Unterrichtsgebäuden vorbei, an der Verwaltung, der Bibliothek. Hinter der langen Reihe aus Sonnenschirmbäumen lag der Sportplatz. In der Mitte des Platzes scharten sich fünfundvierzig Schülerinnen und Schüler um ihre Lehrerin. Zheng Chen reckte die Arme zum Himmel, wo die Sterne wegen der Großstadtlichter nur schwach erkennbar waren. „Auf das Ende eurer Kindheit!“, rief sie.
Peking war eine Stadt auf der Erde.
Die Erde war ein Planet im Universum.
*
Eine scheinbar unbedeutende Geschichte: Fünfundvierzig Kinder schließen den ersten Teil ihrer Schulausbildung ab und setzen ihren Lebensweg fort.
Eine ganz gewöhnliche Nacht: eine Momentaufnahme im kontinuierlichen Fluss der Zeit von der grenzenlosen Vergangenheit in die grenzenlose Zukunft. „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen“, philosophierte zwar einst ein alter Grieche, aber der Fluss der Zeit ist immer derselbe, er fließt im immer gleichen Rhythmus, endlos und ewig wie das Leben und die Geschichte.
So dachten die Menschen in dieser Stadt. So dachten die Menschen in Nordchina, die Menschen ganz Asiens und sämtliche kohlenstoffbasierten Lebewesen namens Menschen auf dem Planeten Erde. Das ewige tröstliche Schaukeln des Flusses der Zeit wiegte sie diesem Teil der Welt in einen sanften Schlaf; sie waren überzeugt, dass diese heilige Ewigkeit von nichts und niemandem je zerstört werden konnte und sie bei Sonnenaufgang ein Morgen erwartete wie an unzähligen Tagen zuvor. Dieses tief im Bewusstsein eines jeden von ihnen schlummernde Vertrauen gönnte ihnen auch in dieser Nacht die gleichen Träume, die schon unzählige Generationen vor ihnen gewebt hatten.
Es war eine ganz gewöhnliche Schule in einem stillen Winkel der Stadt in einer sternfunkelnden Nacht.
Fünfundvierzig Dreizehnjährige und ihre junge Klassenlehrerin sahen zum Sternenhimmel auf. Stier, Orion und der Große Hund, die Sternbilder des Winters, versanken bereits am westlichen Horizont. Lyra, Herkules und Waage, die Sternbilder des Sommers, waren schon lange erkennbar. Jeder Stern ein fernes Auge, das der menschlichen Welt aus den Tiefen des Universums zublinzelte. Doch in dieser Nacht war der Blick aus dem Universum anders als sonst.
Diese Nacht war der Anfang vom Ende der Geschichte, wie der Mensch sie kannte.
1
Der tote Stern
Ende
Innerhalb eines Radius von zehn Lichtjahren von der Erde hatte die Astronomie im Weltraum elf Sterne entdeckt, nämlich Proxima Centauri, Alpha Centauri A und Alpha Centauri B, die zusammen ein Dreigestirn bildeten, das durch die gegenseitige Anziehungskraft umeinander kreiste; die beiden Doppelsterne Sirius A und Sirius B und Luyten 726-8 A und Luyten 726-8 B, und vier Einzelsterne, nämlich Barnards Pfeilstern, Wolf 359, Lalande 21185 und Ross 154. Die Astrophysik schloss nicht aus, dass weitere Sterne, entweder extrem schwach leuchtende oder von interstellarem Staub verborgene, noch auf ihre Entdeckung warteten.
In dieser Gegend des Weltraums hatten Astronomen eine starke Ansammlung von kosmischem Staub bemerkt, wie eine schwarze Wolke, die über das nächtliche Meer des Universums zog. Als sie die auf einem Satelliten installierten UV-Teleskope auf die weit entfernte Wolke richteten, stellten sie ein Absorptionsmaximum von 216 Nanometern fest, was die Vermutung nahelegte, dass die kosmische Staubwolke aus Kohlenstoff-Mikropartikeln bestand. Ihr Reflexionsgrad legte nahe, dass die Kohlenstoffpartikel mit einer dünnen Eisschicht überzogen waren. Die Partikel waren zwischen zwei und zweihundert Nanometer groß, was ungefähr der Wellenlänge des sichtbaren Lichts entsprach und den Staub undurchsichtig machte.
Diese Wolke verbarg einen acht Lichtjahre von der Erde entfernten Stern, dreiundzwanzigmal so groß wie die Sonne und mit dem Siebenundsechzigfachen ihrer Masse. Er hatte bereits die Hauptreihe verlassen und war soeben in die Endphase seiner langen Evolution eingetreten. Wir nennen ihn den Sterbenden Stern.
Selbst wenn der Sterbende Stern ein Erinnerungsvermögen besessen hätte – an seine Kindheit hätte er sich nicht mehr erinnert, denn seine Geburt lag fünfhundert Millionen Jahren zurück. Seine Mutter war ein anderer Sternennebel. Teilchenstrahlung aus dem Zentrum der Galaxis störte die Ruhe des Nebels, und sämtliche Teilchen ballten sich aufgrund der Schwerkraft in einem Zentrum. Dieser stattliche Sandsturm dauerte zwei Millionen Jahre. Irgendwann fusionierten in seinem Zentrum Wasserstoffatome zu Helium. Der Sterbende Stern wurde als atomarer Hochofen geboren.
Nach einer dramatischen Kindheit und einer turbulenten Jugend hielt der durch die permanente Kernfusion in seinem Inneren entstehende Strahlungsdruck seine äußeren Schichten stabil. Damit trat der Sterbende Stern in seine lange mittlere Lebensphase ein, eine Entwicklungsphase, die im Vergleich zu den Stunden, Minuten und Sekunden seiner Kindheit in hundert Millionen Jahren berechnet werden muss und dem endlosen Sternenmeer der Galaxis einen weiteren ruhigen Leuchtpunkt bescherte. Eine Ruhe, die sich bei einer Annäherung an seine Oberfläche im Flug schnell als trügerisch erweisen würde. Der Stern war ein atomares Flammenmeer, auf dem donnernd gigantische, rot glühende Wellen tobten, deren Gischt hochenergetische Partikel wie ein Platzregen in den Weltraum schleuderten. Aus den Tiefen des Sterns wurde immense Energie freigesetzt, die sich in gleißenden Wellen entlud, über denen andauernde nukleare Wirbelstürme wüteten. Tiefrotes Plasma, verzerrt von einem starken Magnetfeld, schoss in Millionen Kilometern langen Protuberanzen in den Weltraum hinaus wie eine wogende rote Algenkolonie … die Größe des Sterbenden Sterns war für das menschliche Gehirn unermesslich. Im Verhältnis zur Größe dieses Feuermeers im Weltraum war die Erde wie ein Basketball im Pazifik.
Im Grunde hätte der Sterbende Stern mit seiner scheinbaren Helligkeit von -7,5 deutlich am von der Erde sichtbaren Nachthimmel leuchten müssen, wäre da nicht der kosmische Staub gewesen, der drei Lichtjahre entfernt vor ihm einen anderen Stern ausbrütete und das Licht des Sterbenden Sterns auf seinem Weg zur Erde blockierte. Sonst hätte er die Geschichte der Menschheit mit der fünffachen Leuchtkraft von Sirius, dem hellsten Stern an unserem Himmel, erleuchtet – hell genug, um in einer mondlosen Nacht Schatten zu werfen, und sein träumerisch blaues Sternenlicht hätte die Welt ein wenig romantischer gemacht.
Der Sterbende Stern brannte vierhundertachtzig Millionen Jahre lang, aber trotz seines glorreichen Lebens zwang ihn der kalte und grausame Energieerhaltungssatz zu einigen unvermeidlichen Veränderungen in seinem Inneren: Das Fusionsfeuer verbrauchte Wasserstoff, und mehr und mehr des dabei entstehenden Heliums sedierte im Zentrum des Sterns. Dieser Prozess ging für einen Sterbenden Stern dieser Größenordnung außerordentlich langsam vonstatten. Die gesamte Geschichte der Menschheit war für ihn nur ein Fingerschnippen. Doch vierhundertachtzig Millionen Jahre später zeitigte der Wasserstoffverbrauch ein spürbares Ergebnis – es hatte sich so viel chemisch träges Helium angehäuft, dass seine Energiequelle versiegte. Der Sterbende Stern war alt geworden.
Es waren jedoch andere, komplexere Gesetze der Physik, die dafür sorgten, dass der Sterbende Stern sein Leben auf spektakuläre Weise aushauchen sollte. Die Dichte des Heliums in seinem Innern nahm zu, und die fortgesetzte Kernfusion des umgebenden Wasserstoffs produzierte Temperaturen, die hoch genug waren, um das Helium im Innern zu entzünden und eine Fusionsreaktion auszulösen, die es schlagartig in einem atomaren Inferno auslöschte, das den Sterbenden Stern mit einem ungeheuer starken Licht erstrahlen ließ. Da die durch Heliumfusion entstehende Kernenergie nur ein Zehntel der durch Wasserstoff entstehenden ausmachte, schwächte diese Anstrengung den Stern nur noch mehr – Helium-Blitz nennen Astrophysiker dieses Phänomen. Drei Jahre später erreichte sein Licht die kosmische Staubwolke, in der das rote Licht mit seiner relativ langen Wellenlänge erfolgreich die kosmische Barriere durchdrang. Nach einer Reise von fünf weiteren Jahren traf das rote Licht auf einen wesentlich kleineren, überaus gewöhnlichen Stern, die Sonne, und eine Handvoll kosmischen Staubs im Bann ihrer Gravitation, den die Menschheit Pluto, Neptun, Uranus, Saturn, Jupiter, Mars, Venus, Merkur und natürlich Erde nennt. Es war das Jahr 1775.
*
An jenem Abend starrte auf der Nordhalbkugel der Erde – genauer gesagt in der englischen Kurstadt Bath, vor der Konzerthalle eines noblen Vergnügungsparks – der in Deutschland geborene Organist Friedrich Wilhelm Herschel durch sein selbst gebautes Teleskop begierig in den Sternenhimmel. Er war so fasziniert von der Pracht der Milchstraße, dass er sein ganzes Leben Teleskopen widmete. Hätte seine Schwester Caroline ihn nicht, während er vor der Linse hockte, löffelweise gefüttert, wäre er wohl darüber verhungert. Während dieser bemerkenswerte Astronom des achtzehnten Jahrhunderts sein Leben vor dem Teleskop verbrachte und dabei fast siebzigtausend Himmelskörper auf der Sternenkarte vermerkte, entging ihm in dieser Nacht allerdings dieser eine, für die Menschheit ausgesprochen bedeutungsvolle Stern. In jener Nacht tauchte im Sternbild Auriga am westlichen Himmel, genau zwischen Capella und Beta Aurigae, ein roter Stern auf. Mit einer Magnitude von 4,5 war er zwar für einen gewöhnlichen Betrachter nur schwer zu entdecken, selbst wenn man seine genaue Position kannte. Für einen Astronom jedoch leuchtete er wie eine gewaltige Lampe, die Herschel vermutlich nicht entgangen wäre, hätte er das Firmament wie die frühen Astronomen prä-galileiischer Zeiten mit nacktem Auge betrachtet, statt es an seine Linse zu pressen. Und diese Entdeckung hätte möglicherweise den Lauf der Menschheitsgeschichte zwei Jahrhunderte später verändert. Aber seine ganze Aufmerksamkeit galt dem gerade einmal zwei Fuß messenden, in eine völlig andere Richtung zeigenden Teleskop. Bedauerlicherweise wiesen auch die Teleskope der Observatorien in Greenwich, auf der Insel Hven und überhaupt der ganzen Welt gerade in eine ganz andere Richtung …
Das rote Licht im Sternbild Auriga schien die ganze Nacht lang, doch in der darauffolgenden war es erloschen.
*
In derselben Nacht desselben Jahrs drangen auf dem Nordamerika genannten Kontinent achthundert britische Soldaten auf leisen Sohlen in Bostons Westen vor. In ihren roten Uniformen wirkten sie wie eine Reihe nächtlicher Geister. Im kühlen Wind der Frühlingsnacht hielten sie ihre Mausergewehre gepackt und hofften, vor Tagesanbruch die siebenundzwanzig Kilometer von Boston entfernte Stadt Concord zu erreichen, wo sie im Auftrag von Thomas Gage, dem Gouverneur von Massachusetts, das Waffenarsenal der sogenannten Minutemen zerstören und ihre Anführer verhaften sollten. Doch als sich im Morgengrauen die Umrisse von Wäldern, Hütten und Weidezäunen abzuzeichnen begannen, stellten die Männer erstaunt fest, dass sie nicht weiter als bis zu der Kleinstadt Lexington gelangt waren. Plötzlich sprühten aus dem Dickicht vor ihnen Funken, und ohrenbetäubende Gewehrsalven erschütterten die Stille des nordamerikanischen Sonnenaufgangs, gefolgt von durch die Luft zischenden Kugeln. Es war das erste Zucken der Vereinigten Staaten von Amerika im Bauch ihrer Mutter.
Auf dem ausgedehnten Kontinent auf der gegenüberliegenden Seite des Pazifischen Ozeans jedoch hatte eine andere Kulturnation bereits fünf Jahrtausende überdauert. Zahllose Menschen waren auf diesem uralten Territorium soeben auf dem Weg in die Hauptstadt des alten Kaiserreichs, beladen mit klassischen Schriften, die sie aus allen Ecken des Landes zusammengetragen hatten. Zwei Jahre zuvor war auf kaiserlichen Befehl hin die Enzyklopädie Siku Quanshu, Gesammelte Schriften der vier Schatzkammern, begonnen worden, und immer noch flossen aus allen Himmelsrichtungen kontinuierliche Ströme von Büchern in der Hauptstadt zusammen. Kaiser Qianlong persönlich inspizierte in einer riesigen hölzernen Halle in der Verbotenen Stadt die Reihen der in den vergangenen beiden Jahren gesammelten Bücherkisten mit den kanonischen Werken für die Enzyklopädie. Sie waren bereits in vier große Kategorien aufgeteilt: Klassiker, Geschichtswerke, Philosophen und Sammlungen.
Ohne seine Diener, allein in Begleitung dreier mit Pfauenfedern geschmückter Großsekretäre, betrat der Kaiser andächtig das riesige Lagerhaus. Dai Zhen, Yao Nai und Ji Yun leuchteten ihm mit Laternen den Weg. Diese drei waren die wahren Editoren der Enzyklopädie, und nicht die kaiserlichen Vettern, die offiziell in ihrem Impressum als solche genannt wurden. Die vier Männer gingen gemessenen Schritts an den hohen Kisten vorüber, die im fahlen Schein der Laternen in die Höhe ragten wie die Türme schwarzer Stadtmauern. Sie kamen zu einem Haufen sehr alter, beschriebener Bambusstreifen. Ehrfürchtig nahm Qianlong ein Bündel in die zitternde Hand. Das flackernde gelbe Licht der Laternen warf winzige Leuchtpunkte auf die Bambusstreifen, die ihn anstarrten wie die Pupillen der Vergangenheit. Vorsichtig legte er die Bambusstreifen wieder hin, hob den Kopf und blickte sich um. Er wähnte sich in der Schlucht eines abgelegenen Büchergebirges, einer Schlucht im Gebirge der Zeit, und zwischen den Bücherklippen flatterten leise die Geister aus den zahllosen Schriften der letzten fünftausend Jahre umher. „Man soll die Geister der Vergangenheit ruhen lassen, Euer Majestät“, flüsterte einer der Editoren.
*
Unvorstellbar weit draußen im Weltraum setzte der Sterbende Stern seinen Weg zum Jüngsten Tag fort. Immer wieder traten Heliumblitze auf, aber von geringerem Ausmaß als der erste. Aus dem durch Heliumfusion erzeugten Kohlenstoff und Sauerstoff entstand ein neuer Kern, der sich sofort entzündete und Neon, Schwefel und Silizium produzierte. Dabei tauchte eine riesige Menge Neutrinos im Inneren des Sterns auf, geisterhafte Partikel, die unablässig die Energie des Kerns verbrauchten, ohne mit einer anderen Substanz zu interagieren, und allmählich konnte der Kern des Sterbenden Sterns seine äußere Schicht nicht mehr stützen und die Schwerkraft, die dem Stern zu seiner Existenz verholfen hatte, bewirkte jetzt das genaue Gegenteil. Durch den Druck der Gravitation schrumpfte der Sterbende Stern zu einer kompakten kleinen Kugel, der unglaubliche Druck zertrümmerte die Kerne seiner Elementarteilchen, Neutronen drängten sich dicht aneinander. Ein Teelöffel des Sterbenden Sterns entsprach jetzt einer Masse von Millionen Tonnen. Zuerst brach der Kern in sich zusammen, dann kollabierte die von nichts mehr gehaltene äußere Schicht in den dichten Kern und löste unmittelbar eine erneute Kernfusion aus.
Ein blendend weißer Blitz spaltete das Universum, der Sterbende Stern zerbarst in Hunderte Millionen Fragmente und eine gigantische Menge Staub. Damit kam ein fünfhundert Millionen Jahre umspannendes Epos von Gravitation und Sonnenfeuer an sein Ende. Die enorme Energie des Sterbenden Sterns entlud sich in einer Sturzflut aus elektromagnetischer und hochenergetischer Partikelstrahlung in alle Richtungen. Drei Jahre nach der Explosion durchstieß der Tsunami seiner Energie mühelos jene kosmische Staubwolke, die auf dem Weg zur Sonne lag.
Zum Zeitpunkt der Explosion des Sterbenden Sterns erlebte die acht Lichtjahre entfernte Menschheit gerade eine Zeit großen Wohlstands. Obwohl sie wusste, dass ihr Planet nicht mehr als ein Staubkorn im Universum war, hatte sie diese Tatsache längst noch nicht mental akzeptiert. Im eben vergangenen Jahrtausend hatte sie gelernt, die enorme Kraft der Kernspaltung und der Kernfusion nutzbar zu machen und mittels auf Siliziumchips gebannter, elektrischer Impulse komplexe Denkapparate herzustellen, und glaubte sich in der Lage, den Weltraum zu erobern. Niemand ahnte, dass die Strahlung des Sterbenden Sterns mit Lichtgeschwindigkeit auf dem Weg zu ihrem blauen Planeten war.
Nachdem es die vier Sterne des Zentaur passiert hatte, verbrachte das Licht des Sterbenden Sterns vier weitere Jahre im weiten, einsamen Weltraum, bis es den Rand des Sonnensystems erreichte. In dieser Gegend, in der sich nichts außer schweiflosen Kometen tummelte, traf die Energie des Sterbenden Sterns zum ersten Mal auf einen Boten der Menschheit. Über eine Milliarde Kilometer von der Erde entfernt zog ein menschengemachtes Objekt einsam durch den Raum in Richtung Milchstraße: die Voyager, eine interstellare Raumsonde, die in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts von der Erde aus gestartet war. Mit ihrer zur Erde hin geöffneten Parabolantenne sah sie aus wie ein eigenartiger Regenschirm. Die Sonde trug die Visitenkarte der Menschheit bei sich, eine vergoldete Kupferplatte, auf der zwei nackte Menschen eingraviert waren, eine Schallplatte mit einer Audiobotschaft des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, die an außerirdische Zivilisationen gerichtet war, sowie Aufnahmen vom Klang der Meere, von Vogelstimmen und, unter vielen anderen Musikstücken, auch die traditionelle chinesische Melodie Liushui.
Als dieser Bote auf das Licht des Sterbenden Sterns traf, wurde er im Nu zu einem Stück glühendem Metall. Zum ersten Mal bekam die Erde damit die Grausamkeit des Weltalls zu spüren. Durch den plötzlichen Temperaturanstieg vom absoluten Nullpunkt verzog sich die Parabolantenne, und die Heftigkeit der Hochenergiestrahlung überforderte den Geigerzähler, der nur noch Nullen ausgab. Bevor die integrierten Schaltkreise von der radioaktiven Strahlung zerstört wurden, blieben die UV-Sonde und die Magnetfeldinstrumente noch ganze zwei Sekunden lang funktionstüchtig, in denen Voyager eine Reihe von unglaublichen Daten an ihre Schöpfer auf der Erde sendete, die allerdings wegen des Schadens, den ihre Antenne genommen hatte, die hochempfindlichen Antennenreihen in Nevada und Australien niemals erreichen sollten. Doch das machte nichts mehr, denn schon kurz darauf sollte die Menschheit das Unglaubliche am eigenen Leib erfahren und ermessen können.
Das starke Licht des Sterbenden Sterns drang in das Sonnensystem vor, brachte Plutos kristallene blaue Oberfläche aus festem Stickstoff zum Dampfen und traf bald auf Neptun und Uranus. Es ließ ihre Ringe durchsichtig glänzen. In dem Augenblick, als die Abschlussfeier der Schüler begann, streifte der Sturm aus Hochenergiepartikeln Saturn und Jupiter, wobei er ihre flüssigen Oberflächen phosphoreszierte. Es dauerte eine weitere halbe Stunde, bis die Energie den Mond erreichte, ihr blendendes Licht auf das Mare Imbrium und den Kopernikuskrater warf und die Fußspuren erhellte, die Neil Armstrong und Buzz Aldrin vier Jahrzehnte zuvor dort hinterlassen hatten – unter den Augen von mehreren Hundert Millionen Fernsehzuschauern auf dem nahen blauen Planeten, die in diesem aufregenden Moment überzeugt gewesen waren, dass das ganze Universum nur ihretwegen existierte.
Eine Sekunde später hatte der der Sterbende Stern seine achtjährige Reise durch den Weltraum zur Erde vollendet.
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Cixin Liu: Supernova · Roman · Aus dem Chinesischen von Karin Betz · Wilhelm Heyne Verlag · 512 Seiten · E-Book: € 11,99 (im Shop) · auch als Paperback und Hörbuch-Download lieferbar
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