3. Juli 2020 2 Likes

Eine neue Welt ist die letzte Chance der Menschheit

Eine erste Leseprobe aus Dennis E. Taylors Roman »Outland«

Lesezeit: 9 min.

Seit seiner erfolgreichen »Bobiverse«-Trilogie (im Shop) gilt der amerikanische Autor Dennis E. Taylor als Garant für hochunterhaltsame Science-Fiction. In seinem neuen Buch „Outland – Der geheime Planet“ (im Shop) entführt er den Leser jedoch nicht in die Tiefen des Weltraums, sondern in ein Paralleluniversum. In eine Welt, die der unseren vollkommen ähnelt – mit einem einigen Unterschied: Es gibt keine Menschen dort …

„Outland – Der geheime Planet“ erscheint am 03.08.2020 auf Deutsch. Allen Neugierigen stellen wir hier eine erste Leseprobe zur Verfügung.

 

1

Die Schmelze

 

7. Juni

Erin Savard schlug die Hand vor den Mund, während sie die Nachrichten verfolgte. »SCHRECKEN IM YELLOWSTONEPARK!«, stand in dem Infoband, das über den unteren Bildschirmrand lief. Das Keuchen und die aufgeregten Kommentare der anderen Cafeteria-Besucher zeigten, dass sie ebenso schockiert waren wie Erin selbst.

Eine Frau stand mitten auf der Fire Hill Road und schaute sich hektisch um. Schließlich schien sie einen Entschluss zu fassen und versuchte, einen Schritt zu machen, wobei sie jedoch aus einem ihrer Schuhe schlüpfte. Sie riss entsetzt die Augen auf und hielt mit hoch erhobenem Fuß inne. Kurz sah sie auf ihren im Asphalt steckenden Schuh hinunter, dann richtete sie den Blick auf einen Punkt außerhalb des Bildausschnitts.

Die Kamera schwenkte nach rechts auf einen Mann, der die Arme nach ihr ausstreckte und sie zur Eile drängte. Die Frau vollendete den Schritt und schlüpfte kurzerhand auch noch mit dem anderen Fuß aus dem Schuh. Als ihre nackten Sohlen den Asphalt berührten, schrie sie auf. Hätte sie sich nicht so schwungvoll vorwärtsbewegt, wäre sie wahrscheinlich hingefallen und hätte sich dabei möglicherweise tödliche Verbrennungen zugezogen. Nach drei weiteren Schritten hatte sie den Straßenrand endlich erreicht und brach stöhnend und schluchzend in den Armen des Mannes zusammen.

Nun schwenkte die Kamera auf weitere Opfer, die sich vor Schmerzen vor und zurück wiegten oder von ihren Freunden und Verwandten umarmt wurden. An dieser Stelle verkleinerte sich das Videobild und gab den Blick auf einen Nachrichtensprecher mit professionell besorgter Miene frei.

»Igitt!« Bei der Vorstellung, auf halb geschmolzenem Asphalt laufen zu müssen, drehte sich Erin der Magen um.

Sie wandte sich zu ihren beiden Tischnachbarinnen um. »Ich glaube, ich packe für die Exkursion besser ein Paar feste Stiefel ein.«

»Was ist da eigentlich passiert?«, fragte Leslie.

»Das war ein unterirdischer Lavastrom«, erwiderte Erin. »Unter dem Yellowstone gibt es haufenweise Lavataschen. Ab und zu entsteht ein neuer Strom, der den Boden aufheizt. Oder in diesem Fall die Straße. Und der hier war heiß genug, um den Asphalt ohne jede Vorwarnung sofort einzuschmelzen.«

»Und das ist normal

»Na ja, nicht so normal wie der nachmittägliche Stoßverkehr, aber auch nicht ungewöhnlicher als Tornados.«

»Und du willst da immer noch hin?«, fragte Leslie erstaunt. Obwohl alle saßen, musste sie zu ihrer deutlich größeren Freundin aufschauen. »Bist du irre?«

»Natürlich will ich«, erwiderte Erin. »Das ist eine Geologie-Exkursion, keine Touristenreise. Wenn ich die damit verbundenen Risiken scheue, kann ich mir auch gleich ein anderes Hauptfach suchen. Und außerdem macht es keinen Spaß, immer nur erkaltete Lava anzustarren.«

»Spaß? Mein Gott, Erin. Du sehnst dich wohl nach dem Tod.«

Ayanda stellte ihre Limonade ab und sah Leslie missbilligend an. »Literaturstudenten haben einfach keinen Sinn für Abenteuer.«

»Du kannst mich mal«, gab Leslie zurück. »Die Freitagabende im High Dive sind mir abenteuerlich genug, vielen Dank auch.«

Erins Blick wanderte wieder zum Fernseher. »Ich hoffe, dass sie sich nicht schlimm verbrannt hat. Das sah schmerzhaft aus. Für den Yellowstone mag das normal sein, aber für die Menschen, die von so etwas überrascht werden, ist es trotzdem traumatisch.« Ihr Handy piepte. Sie schaute auf das Display und seufzte. »Und damit ist das Mittagessen vorbei. Zufällig habe ich als Nächstes eine Geologie-Vorlesung. Willst du mitkommen, Leslie?«

Leslie verdrehte die Augen. Dann griff sie ohne ein weiteres Wort nach ihrem Bücherstapel und machte sich mit einem lässigen Winken auf den Weg zu ihrem nächsten Seminar.

»Sie hat allerdings nicht ganz unrecht«, sagte Ayanda, während sie und Erin zum Vorlesungssaal gingen. »Ich habe alle möglichen Gerüchte gehört. Über die Nachrichten hinaus, meine ich. Könnte diese Exkursion vielleicht ein bisschen gefährlich werden?«

»Das werden wir wahrscheinlich noch heute herausfinden. Aber ich hoffe, dass sie nicht abgeblasen wird. Wenn ich einen Bürojob wollte, würde ich das Programmieren lernen, wie Matt.«

Sie betraten den Vorlesungssaal und gingen direkt zu ihren Lieblingsplätzen. In der Mitte der dritten Reihe befanden sie sich genau auf Augenhöhe des Professors und hatten eine gute Chance, ihn in der Fragerunde auf sich aufmerksam zu machen.

»Hast du Matt schon angerufen und euer Freitags-Date abgesagt? Du hast versprochen, dass du bei unserem nächsten Frauenabend dabei sein wirst.«

»Oh, Mist, nein. Ich will ihm aber auch nicht nur eine Nachricht schicken, nachdem ich dem armen Kerl einen langen Vortrag darüber gehalten habe, dass er mir seine Planänderungen nicht in einer Textnachricht mitteilen soll. Ach, was soll’s. Konsequentes Verhalten ist was für Kleingeister, nicht wahr?«

Ayanda setzte gerade zu einer Antwort an, als Professor Collins mit einem vernehmlichen Ploppen sein Ansteckmikrofon aktivierte. Die zahlreichen Unterhaltungen verstummten; stattdessen war zu hören, wie die Studenten sich gerade hinsetzten und für die Vorlesung bereit machten.

»Ich bin sicher, dass Sie alle die Nachrichten gesehen haben«, begann der Professor. »Vor einer Woche hat sich auf dem Geyser Hill direkt unter einem Holzsteg eine neue Fumarole aufgetan und mehrere Touristen verbrüht. Gestern hat sich eine der Straßen dort aufgeheizt, als gerade eine Besuchergruppe darauf herumlief. Ein paar der Ausflügler sind im Asphalt stecken geblieben. So erschreckend solche Vorkommnisse auch sein mögen, sind sie doch weder selten noch sonderlich bemerkenswert. Alle paar Jahre erhitzt Magma, das unter dem Yellowstone fließt, einen Teich und tötet alle Fische darin, oder es bringt eine Straße zum Schmelzen, oder es entsteht ein neuer Geysir. Doch im Zeitalter der Smartphones zirkulieren von solchen Ereignissen sofort zahlreiche Videos und befeuern die Sensationsgier der Medien. Lassen Sie mich zuerst die Frage beantworten, die allen auf den Nägeln, äh … brennt.« Im Auditorium erhob sich vereinzeltes Stöhnen. »Nein, nach derzeitigem Stand sagen wir die Exkursion zum Yellowstone nicht ab. Wir haben lange darüber diskutiert und beschlossen, es bei unserem Terminplan zu belassen. Natürlich behält sich die Universität das Recht vor, diesen Plan jederzeit über den Haufen zu werfen. Eventuelle Änderungen werde ich in meinem Blog posten und an den großen Verteiler mailen.« Der Professor schwieg einen Moment und wartete auf Kommentare oder Fragen. Da sich niemand meldete, ergriff er schließlich selbst wieder das Wort. »Also gut. Heute sprechen wir wie angekündigt über den Ausbruch des Toba vor ungefähr fünfundsiebzigtausend Jahren, bei dem vermutlich fast die gesamte menschliche Spezies ausgelöscht worden ist.«

Während er kurz schwieg und abwartete, bis ein paar Nachzügler ihre Plätze eingenommen hatten, wandte Erin sich ihrer Freundin zu und flüsterte: »Ich wette, dass heute ein paar Weicheier ihre Teilnahme zurückziehen werden.«

Ayanda kicherte, und Erin nutzte die Gelegenheit, um sich umzusehen. Von der Bühne, auf der der Professor vor einer riesigen Leinwand stand, stiegen mehrere halbrunde Sitzreihen in die Dunkelheit hinauf. Ein schwer zu beschreibender Geruch nach Papierstaub erfüllte den Saal, den Erin schon immer als gemütlich und heimelig empfunden hatte.

Der Professor betätigte die Fernbedienung, und auf der Leinwand erschien ein Bild. »Das ist eine künstlerische Rekonstruktion des Landstrichs, wie er vor dem Ausbruch des Toba-Supervulkans ausgesehen haben könnte.« Er drehte sich zu den Studenten um. »Bei seinem Ausbruch hat der Toba einen Teil der Gebirgskette buchstäblich in die Luft gesprengt. Die dabei entstandene Caldera enthält einen See, der so groß ist, dass man von seiner Mitte aus kein Ufer sehen kann. An seiner breitesten Stelle misst er ungefähr hundert Kilometer.« Er winkte kurz mit der Fernbedienung, und ein neues Bild erschien. »So sieht die Toba- Caldera heute aus, oder besser gesagt, das, was noch davon übrig ist.« Auf der Leinwand war eine Luftaufnahme von einem idyllischen blauen See mit einer großen Insel darin zu sehen. Am Ufer wechselten sich menschliche Besiedlungen mit Urwäldern und Wiesenflächen ab. Der Professor klickte sich durch eine Reihe von Aufnahmen von der Küste und den umgebenden Hügeln und begann, auf und ab zu gehen. »Den Krakatau ereilte ein ganz ähnliches Schicksal. Wo früher eine große, bergige Insel aufragte, existiert seither nur noch eine von kleineren Atollen umgebene Bucht. Doch im Vergleich zu Toba war Krakatau ein echter Winzling.« Auf der Leinwand erschienen in rascher Reihenfolge mehrere Vorher-Nachher-Aufnahmen.

Eine oberhalb von Erin sitzende Studentin hob die Hand. »Professor, wie unterscheidet sich ein Supervulkan von einem Vulkan?«

»Das hat mit der Größe zu tun, wobei der Schwellwert völlig willkürlich festgelegt wurde«, erwiderte Professor Collins. »Jede Eruption, die mehr als tausend Kubikkilometer Dreck in die Luft schleudert, gilt als ›super‹. Und Toba hat den meisten Schätzungen zufolge zweitausendachthundert Kubikkilometer ausgestoßen. Also mehr als genug. Nur zum Vergleich: Mount St. Helens hat nicht mehr als einen Kubikkilometer geschafft.« Er spielte abermals kurz an der Fernbedienung herum und öffnete ein weiteres Bild. »Derart viel Asche und Staub in der Atmosphäre müssen in den diversen planetaren Ökosystemen verheerende Schäden angerichtet haben. In dieser Zeit sind wahrscheinlich mehrere Arten komplett ausgestorben, und in weiten Teilen des Planeten kam es zu einem Klimawandel. Langfristig könnte dieses Ereignis sogar eine Eiszeit ausgelöst haben, aber das ist umstritten. Mittlerweile behaupten immer mehr Wissenschaftler, dass der Klimawandel nach der Toba-Eruption zu einem genetischen Engpass beim Homo sapiens geführt hat, ohne den sich der heutige Mensch nicht hätte entwickeln können.«

Ein Student hob die Hand. »Wird das in der Prüfung drankommen?«

»Alles wird in der Prüfung abgefragt, Ted. Aber wenn Sie es verstehen, müssen Sie es nicht auswendig lernen.«

Ted blickt wirklich nicht durch, dachte Erin.

Viel zu schnell war das Seminar vorbei, und Professor Collins schaltete den Projektor aus. »Denken Sie daran, dass die nächste Vorlesung eine Planungssitzung sein wird, bei der ich auf all Ihre Fragen zur Exkursion eingehe. Vorausgesetzt natürlich, dass sie dann immer noch stattfindet. Und vergessen Sie nicht, Ihre gesamte Ausrüstung durchzugehen und sämtliche Formulare zu unterschreiben und abzugeben. Ich will Sie nämlich nicht durch die Gänge jagen und mich hinterrücks auf Sie stürzen müssen. Das ist schlecht für die Knie und außerdem entwürdigend.«

Unter den Studenten, die zielstrebig auf die Ausgänge zuhielten, erhob sich leises Kichern.

 

Erin und Matt standen vorm Eingang des Studentenwohnheims. Sie versuchten, leise zu sein und den anderen nicht den Weg zu versperren. Eine Unterhaltung im Flur war alles andere als ideal, aber sie musste es schnell hinter sich bringen. Nicht, dass sie Matt Siemens hätte abwimmeln müssen – in diesen Dingen benahm er sich wie ein Gentleman –, aber sie war bereits spät dran und wollte nicht noch stärker in Versuchung geraten, die anderen zu versetzen.

Sie nahm Matts Hand, um es ihm so schonend wie möglich beizubringen. »Es tut mir leid, Schatz, aber ich habe es meinen Freundinnen versprochen. Es ist vielleicht das letzte Mal, dass wir in diesem Semester Zeit miteinander verbringen können.«

Matt wirkte nicht annähernd so enttäuscht, wie sie erwartet hatte. Zur Sicherheit durchforstete Erin noch einmal ihr Gedächtnis, da sie sich plötzlich nicht mehr sicher war, ob sie überhaupt miteinander verabredet gewesen waren. Es war doch Freitag, oder? Aber er nickte und schien nicht verwirrt, also konnte es das nicht sein.

Nun, wie auch immer. Dass er weniger enttäuscht war als vermutet, konnte sie ihm wohl kaum zum Vorwurf machen.

»Das ist schon okay. Ich mache mir viel mehr Sorgen wegen der Exkursion. Ich habe in den Nachrichten die geschmolzene Straße gesehen.« Bevor Erin protestieren konnte, hob Matt abwehrend die Hände. »Ja, ja, ich weiß. So etwas passiert und ist nichts Ungewöhnliches. Das hast du mir schon erklärt. Und ich gebe zu, dass du die Expertin bist, aber es tut mir leid, ich bin trotzdem besorgt. Bist du sicher …«

»Es ist nicht gefährlich, Matt. Wirklich. Jedenfalls nicht gefährlicher als sonst. Ich habe dir doch erklärt, was die Magmabewegungen bewirken. Es ist wie beim Überqueren der Straße. Dabei geht man ebenfalls jedes Mal ein gewisses Risiko ein.«

»Ja.« Er grinste sie an. »Aber ich finde nach wie vor, dass ein netter und bequemer Schreibtischjob …«

»Das ist nichts für mich. Gut, dann sehen wir uns morgen Abend, okay?«

Matt zuckte die Achseln und küsste sie. Dann drehte er sich um und bahnte sich einen Weg durch den Flur. Sie fand, dass er ungewöhnlich schnell ging, als müsste er dringend irgendwohin.

 

Dennis E. Taylor: »Outland – Der geheime Planet« • Roman • Aus dem Amerikanischen von Urban Hofstetter • Wilhelm Heyne Verlag, München 2020 • 494 Seiten • Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

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