18. Dezember 2024

Integrationsprobleme, Höllenbesuche und der langsame Tod der Vernunft

Phantastik-Comic-Neuheiten im Dezember

Lesezeit: 4 min.

Lewis Trondheim schickt einen Ork in die Schule, Séverine Gauthier und Jérémie Almanza blicken ins Jenseits und Daniel Clowes legt wieder mal einen Comic des Jahres vor.

 

Lewis Trondheim: Aurora und der Ork Band 1

Unter den zeichnenden Humoristen ist Lewis Trondheim König. Dass sein längst tief in den dreistelligen Bereich vorgedrungenes Œuvre auch viele Abzweigungen zur Phantastik nimmt, dürfte seit seiner monumentalen Fantasy-Parodie „Donjon“ bekannt sein. Im vorliegenden Band seiner neuen Serie versetzt er einen Ork in eine Menschenschule. Ein klassisches fish-out-of-water-Gerüst also, und wie es sowohl in den Weltenwechsler- als auch in Trondheims Erzählungen üblich ist, wird der Humor vornehmlich in Dialogform geliefert. Wobei das, was üblicherweise als Differenz zwischen Klassen, Ethnien oder Religionen in Storys dieser Bauart herausgearbeitet wird, bei Trondheim noch einen zusätzlichen Dreh erhält, denn das titelgebende Mädchen Aurora, neben die der neue Ork-Mitschüler gesetzt wird, ist zugleich die einzige Figur, die sich überhaupt darüber wundert, dass sich nunmehr ein leibhaftiger Ork in der Klasse befindet. Weshalb die heruntergespulten Beschwichtigungsphrasen, mit denen Lehrer und Eltern auf ihre Sorge reagieren („Urteile nicht zu streng über andere, bevor du sie kennenlernst.“ „Frag ihn nach seinem Lieblingsgericht, ich koche es für ihn.“), wenig hilfreich, geradezu fahrlässig und umso lustiger daherkommen.

Lewis Trondheim: Aurora und der Ork. Band 1: Ein neuer an der Schule • Reprodukt, Berlin 2024 • 64 Seiten • Softcover • € 15,00

 

Daniel Clowes: Monica

Daniel Clowes neue Graphic Novel ist ein später Jahreshöhepunkt: Vordergründig die Geschichte von „Monica“, deren Biographie Clowes in neun Kapiteln als Pars pro toto für ein Amerika der Anomie erzählt. Von ihrer Hippie-Mutter verstoßen, driftet Monica durch die Stationen ihres Lebens, auf der Suche nach Sinnstiftung immer auf der Kippe, sich den nächsten Scharlatanen auszuliefern. Nimmt man sich die Freiheit, die Kapitel antichronologisch als Kurzgeschichten zu lesen, offenbart sich die literarische Finesse: Jeder Einstiegssatz die perfekte Exposition für ein bizarres Setting, jede Geschichte Teil eines Gesellschaftspanoramas, dessen Esoteriker, Verschwörungstheoretiker, Sekten-Gurus als raunende Wegmarker das sukzessive Ende der Vernunft befeuern und dem neuen Faschismus die Lunte reichen. Der radikale Individualismus hat neben der Wissenschaft auch den sozialen Raum getötet. Am Ende nehmen sich auf dem kleinstädtischen Kunsthandwerkmarkt alle Fraktionen voreinander in Acht: „Wir sind mal miteinander ausgekommen, aber, wie man weiß, ist diese Zeit (leider) vorbei.“ Die Klammer liefern bereits Vor- und Nachsatz: Zu Beginn der Anfang der Erde ohne Lebewesen, zum Ende ein apokalyptisches Inferno, aber eine Apokalypse für jedermann: Atombombenpilze, Flutwellen, fliehende Gestalten, kranke Menschen, eine unbarmherzig brennende Sonne, aber auch Zombies und drachenartige Flugwesen – selbst wenn sie eingetreten ist, wird die Vernichtung der Menschheit eine Frage der Weltanschauungen bleiben. Fritz Göttler bemüht in seiner SZ-Rezension James Joyce und Thomas Pynchon, um Clowes labyrinthische Erzählstruktur zu loben. Ich sage: Wenn Stephen King, Shirley Jackson und Jamees Tiptree jr. mit ein paar Bier vor Todd Solondz‘ „Happiness“ versacken, kommt Daniel Clowes dabei raus.

Daniel Clowes: Monica • Reprodukt, Berlin 2024 • 106 Seiten • Hardcover • € 24,00

 

Séverine Gauthier, Jérémie Almanza: Die Stummen Reiche

Ein Toonfish-One-Shot aus der Phantastik-Sparte: Ob dies Kinderaugen zum Glühen bringen wird, sei dahingestellt; Erwachsene werden die an Tim Burton gemahnende Ästhetik gewiss zu schätzen wissen. Makabre Untertöne bietet auch der Inhalt: Kaum nachdem das junge Mädchen Persephone realisiert hat, dass sie den Geist ihres kürzlich verstorbenen Nachbarn sehen kann, erscheinen auch schon zwei Skelette, um seinen „letzten Seufzer“ einzusammeln und ihn so ordnungsgemäß ins Totenreich zu geleiten. Da sie sich aber um zwei Tage verspätet haben und ohnehin einen mäßig professionellen Eindruck machen, landet stattdessen versehentlich Persephone im Jenseits und muss sich gegen den Tod höchtselbst behaupten, dessen Regelwerk keine Lebenden im Reich der Toten vorsieht. Dort gibt es übrigens viel Arbeit und folglich auch jede Menge Kneipen, weswegen sich der Schrecken nicht aus dem Ende allen Seins, sondern aus dem nimmer endenden Verwaltungsdasein speist. Aber das ist nur Begleitmusik. In der Hauptsache drücken wir Persephone die Daumen, dass sie wieder den Weg zurück ins Diesseits finden mag.

Séverine Gauthier, Jérémie Almanza: Die Stummen Reiche • Toonfish, Bielefeld 2024 • 80 Seiten • Hardcover • € 19,95

 

Kai Meyer, Ralf Schlüter, Yann Krehl: Die Krone der Sterne Band 3

„Das Wolkenvolk“, eine Comicadaption der Romane Kai Meyers, war die erste Eigenproduktion des Splitter Verlags, und mit sechs Alben zu je 72 Seiten hat der Bielefelder Zeichner und Illustrator Ralf Schlüter das vermutlich umfangreichste, in jedem Fall ambitionierteste deutschsprachige Fantasy-Comic-Werk in frankobelgischer Tradition vorgelegt. Dass Kai Meyers Herz für den Comic schlägt, bezeugen die weiteren Adaptionen seiner literarischen Vorlagen, die ebenfalls bei Splitter erschienen sind: „Frostfeuer“ von Marie Sann, „Der Speichermann“ von Jana Heidersdorf, „Das Fleisch der Vielen“ und „Phantasmen“ von Jurek Malottke. Auch Ralf Schlüter hat sich abermals aus Meyers Fundus bedient und mit „Die Krone der Sterne“ eine klassische Space Opera ins Panel-Universum übertragen. Das dritte Album beendet nun die Comicserie, die den ersten Band der Roman-Trilogie umfasst.

Kai Meyer, Ralf Schlüter, Yann Krehl: Die Krone der Sterne Band 3 • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 64 Seiten • Hardcover • € 18,00

 

Abb. ganz oben aus „Die Stummen Reiche“, Splitter

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