18. Juni 2025

Kunstfreiheit, Gruppenexperimente und Games-Genese

Phantastik-Comic-Neuheiten im Juni

Lesezeit: 7 min.

Luz lässt uns als Otto Muellers Gemälde „Zwei weibliche Halbakte“ auf die Nazis blicken, James Tynion IV setzt seine preisgekrönte Invasionsstory „Das Haus am See“ fort, und ein Sachcomic beleuchtet die Geschichte der Videospiele.

 

Luz: Zwei weibliche Halbakte

Der Clou an Luz‘ neuer Graphic Novel ist die Erzählperspektive: Wir sehen die Welt aus der Subjektiven von Otto Muellers expressionistischem Gemälde „Zwei weibliche Halbakte“ – wenn sich zu Beginn auf weißen Seiten aus den ersten Farbklecksen langsam eine Figur herausschält, erscheint nicht das Bild, wie es der „unsichtbare“ Dialog zwischen Maler und Modell erwarten lässt, sondern Muellers skeptisches Gesicht. Die Kadrierung ist also stets dieselbe, das erinnert an James Bennings Methode in seinen Dokumentarfilmen: Minutenlange Einstellungen ohne Schnitt und Kommentar, ein ruhender Blick in die Landschaft, auf Seen, in den Himmel. Das schärft das Sehen und lenkt die Aufmerksamkeit auf die geringsten Veränderungen. Bei Luz ist das eine ganze Menge. 1919 entstanden, verfolgen wir alle Stationen des Gemäldes, das in der NS-Ausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt wurde und sich heute im Museum Ludwig in Köln befindet. Der Zeitrahmen entspannt sich also von der Weimarer Republik bis zur Gegenwart, wir sehen Ateliers, Wohnzimmer, Museumsräume, Abstellkammern, Depots und was sich darin abspielt. Luz, der das islamistische Attentat auf Charlie Hebdo nur aus Zufall überlebte, zeigt ein grauenvolles Gesellschaftspanorama als geniales Kammerspiel. Es geht um die Freiheit der Kunst, auch der unpolitischen und kontemplativen, ihre Gefährdung durch die Nazis und ihrer Propaganda, deren Widerwärtigkeit Luz sardonisch vorführt. Sogar der Gröfaz starrt uns an.

Wie sich die Verrohung steigert und der Barbarei den Weg bereitet, wird nicht nur über den Dialog gelöst. Der intensivste, verstörendste Abschnitt ist die Passage im Büro des jüdischen Breslauer Anwalts und Kunstsammlers Ismar Littmann, der mit Mueller befreundet war und ihm neben den „Halbakten“ ein weiteres Gemälde und 128 Grafiken abkaufte. Aus dem Fenster seines Büros blickt man auf das Nachbargebäude eines jüdischen Händlers auf der gegenüberliegenden Straßenseite und sieht besoffenene Schupos Hakenkreuze an die Wand pissen, danach folgen Propagandaplakate, später wird der draußen sitzende Händler beschimpft und verhöhnt, kurz darauf schließlich brutal verprügelt. Im Vordergrund, in Littmanns Büro, spielt sich parallel dessen sukzessive Entrechtung ab: Erst bleiben immer mehr Klienten fern, dann verliert er seine Zulassung und politischen Rechte und ist am Ende so verzweifelt, dass er, dem nur noch seine Sammlung geblieben ist, am Schreibtisch Suizid begeht. „Zwei weibliche Halbakte“ dokumentiert den Kulturkampf der Nazis und verliert die Gegenwart nie aus den Augen.

Luz: Zwei weibliche Halbakte • Reprodukt, Berlin 2025 • Hardcover • 192 Seiten • 39,00 Euro

 

James Tynion IV, Álvaro Martines Bueno: Das Haus am Meer Band 1

„Das Haus am Meer“ ist der zweite Zyklus der zweibändigen DC-Black-Label-Serie „Das Haus am See“. Diese Invasionsgeschichte als Mikrostudie gehörte zu den originellsten Comics, die 2022/2023 im Phantastik-Sektor erschienen sind. Anfang 2024 wurde diese Mystery/Horror/SF-Erzählung der anderen Art sogar auf dem Comicfestival in Angoulême als beste Serie prämiert, was in der Geschichte des Preises durchaus bemerkenswert ist. Die Konstellation des Vorgängers wird in der Fortsetzung erneut durchgepaust: Wieder sind zehn Menschen in einem luxuriösen Anwesen untergebracht, weil sie von außerirdischen Invasoren als würdig erachtet wurden, die Vernichtung der Menschheit zu überleben, sofern sie sich beweisen können. Diesmal sind sich alle fremd, und auch ihre Beobachterin Max spielt mit offenen Karten und scheint das soziale Experiment analytischer anzugehen als der von seinen Emotionen (scheinbar?) überwältigte Walter aus „Das Haus am See“. Da die Frage, was hier überhaupt vor sich geht, im ersten Teil zumindest halbwegs geklärt wurde, konzentriert sich das Sequel noch mehr auf soziologische Aspekte. Denn die Protagonisten aus Walters Gruppe treten mit den Neulingen dieses Bandes in Verbindung, und das ist der Auftakt zu einem ausufernden Identitäts- und Intrigenspiel, das sich aus der Unkenntnis der Gruppen, welche Ziele ihre Besatzer tatsächlich verfolgen mögen, entspinnt, niemand also vollends weiß, welche Rolle sowohl in der eigenen als auch der vermeintlich feindlichen Fremdgruppe von ihm oder ihr erwartet wird. Dass sich die Zahl der Figuren schlagartig verdoppelt hat, macht die Übersicht nicht kommoder, auch der Gesprächsbedarf nimmt nicht ab. Aber weiterhin ist es faszinierend mitanzusehen, wie weit und inwiefern die Conditio humana an ihre Grenzen gebracht wird. Man sollte allerdings die Bereitschaft aufbringen, dass an eine Story, deren Eleganz und unheimlicher Sog den bewussten Leerstellen und offenen Fragen des Plots geschuldet war, nun doch der Winkelmesser angelegt wird.

James Tynion IV, Álvaro Martines Bueno: Das Haus am Meer Band 1 • Panini, Stuttgart 2025 • 208 Seiten • Softcover • 29,00 Euro

 

Jean Zeid, Émilie Rouge: Gaming. Eine Pixel-Zeitreise

Einen Sachcomic über die Geschichte der Videospiele zu illustrieren, ist eine dankbarere Aufgabe, als beispielsweise die Ästhetik der Tonkunst ins Bild zu setzen. Der Fundus ist beim ökonomisch erfolgreichsten visuellen Medium der Gegenwart ja unerschöpflich. Der französische Videospielexperte Jean Zeid und die Comiczeichnerin Émilie Rouge eignen sich die Spielmechanismen ihres Gegenstands an und zappen sich mithilfe einer Zauberkanone zu den verschiedenen Stationen der Zeitleiste – er doziert, sie interveniert, wenn er ins Schwafeln gerät. An ihrer Seite ist außerdem ein fliegender Handheld, der brav und meistens ungefragt alle Termini, die dabei so fallen, für Laien erläutert. Das ist die erzählerische Grundlage, wobei man sich die Freiheit nimmt, gelegentlich in der Chronologie zu switchen, um parallele Entwicklungen und Konzepte anschaulicher zu paraphrasieren. Inhaltlich ist es natürlich trotzdem oftmals eine Abfolge erster Male und Ereignisse: der erste Computer, der erste Spielautomat, das erste Pad, die erste Konsole, das erste 8Bit-Gerät, das erste 3D-Spiel usw. – unvermeidlich, weil die ästhetische Entwicklung ständig an die technische gebunden ist. Da sich Zeid und Rouge selbst zu Protagonisten erheben, wird dieser Lehrgang aber durch die Szenarien aufgelockert, etwa wenn sie unversehens auf dem Wüstenplaneten landen und vor Sandwürmern fliehen müssen (auch wenn dies grafisch nicht aufwendig, sondern mit pragmatischen Mitteln umgesetzt wird). Erfreulich ist auch der konstante Fokus auf weibliche Akteurinnen der Branche, auf Programmiererinnen, Game-Designerinnen, Komponistinnen, die historisch an vielen Schnittstellen beteiligt waren, in vielen Grundlagenwerken aber weiterhin unterschlagen werden. Auch eine Seltenheit in Sachcomics: das Stichwortverzeichnis.

Jean Zeid, Émilie Rouge: Gaming. Eine Pixel-Zeitreise • Carlsen, Hamburg 2025 • 240 Seiten • Hardcover • 25,00 Euro

 

Dan Jurgens, Jackson Guice u. a.: Der Tod von Superman

Es war der wahrscheinlich größte Medienhype, den eine Superhelden-Storyline jemals erzeugen konnte: Mit Supermans Tod versuchte DC Comics 1992/1993 die sich immer schneller lichtenden Reihen der Fanboys, die sich den jungen Wilden bei Image zuwandten, mit einem Schock wieder zurück ins Boot zu holen. In den 90ern sollte sich DC an mehreren Events dieser Art versuchen, dieser blieb der massentauglichste: Die Tageszeitungen und TV-Sender berichteten konstant, Jay Leno riss über Wochen Witze in seiner Late Night Show und trug ein Trauerarmband, und selbst Bill Clinton äußerte sich betrübt, dass der Beginn seiner Amtszeit von diesem Ereignis überschattet würde (man dankte es ihm später, indem man ihn und Hillary in „Superman: The Man of Steel“ auf Supermans Beerdigung eine Rede halten ließ). Es war nicht der erste Tod Supermans, aber der ertragreichste: Zwischen fünf und sechs Millionen verkaufte Hefte werden kolportiert. Inhaltlich wird nicht mehr als ein Godzilla-Durchmarsch ohne Gummianzug-Charme geboten. Der seinerzeit noch völlig geschichtslose Doomsday prügelt sich sieben Hefte lang durchs Land bis nach Metropolis, lässt dabei die C-Akteure der Justice League hinter sich und gibt in der letzten Issue, die nur noch – reinster Pathos-Zinnober – aus Splahpages besteht, zusammen mit Superman den Löffel ab. Zwischendurch kommt ein Grunge-Klon auf einem 70er-Skateboard in unmöglicher Haltung von der Schule ins verkrachte Zuhause zur alleinerziehenden Mutter gerollt und beschwert sich, dass wieder mal nicht gekocht wurde („Kein Wunder, dass Dad sich scheiden lassen will.“ Schicksal Baby-Boomer-Ableger!). Zur Strafe prügelt sich die halbe Justice League samt Superman mit Doomsday durch die Neubausiedlungs-Bretterbude, und ich bin sicher, dass sich dieser undankbare Gen-X-Lümmel danach eine anständige Arbeit gesucht hat.

Dan Jurgens, Jackson Guice u. a.: Der Tod von Superman • Panini, Stuttgart 2025 • 184 Seiten • Softcover • 25,00 Euro

 

Jeff Lemire, Malachi Ward: Black Hammer Band 8

2018 zählte Jeff Lemires Superhelden-Serie „Black Hammer“ zum heißesten Scheiß, den das Genre zu bieten hat. Keine Parodie, auch kein verspätete postmoderne Motivschlacht ohne Haltung, sondern eine überzeugende Verbindung der Golden-Age-Unschuld mit dem melancholischen Blick auf das von herben Identitätskrisen gebeutelte Leben in Kleinstädten, denen man nicht entfliehen kann – oft zuvor erprobt in seinen Graphic Novels – war der Ansatz, mit dem Lemire die eingefahrenen Superhelden-Muster noch mal schelmisch auflockerte. 2025, unzählige Spin-offs, Kurzgeschichten-Spielereien und einen zweiten Hauptzyklus später, wurde dieses Universum bis auf den letzten Tropfen ausgewrungen, und überraschen mag nur noch, dass Lemire mit einem weiteren Zyklus zumindest liebäugelt. Hier soll nur protokolliert sein, dass der zweite mit diesem achten Band abgeschlossen ist.

Jeff Lemire, Malachi Ward: Black Hammer. Band 8: Das Ende • Splitter Verlag, Bielefeld 2025 • 176 Seiten • Hardcover • 29,80 Euro

Abb. ganz oben aus „Das Haus am Meer Band 1“, Panini

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