Stadtneurotiker, Monstermänner und Vogelbeobachter
Phantastik-Comic-Neuheiten im Oktober
Literatur allerorten: In Alessandro Totas „Die große Illusion“ will sich die Protagonistin als Pulp-Autorin bewähren, in Bernie Wrightons letztem Comic „Frankenstein Alive, Alive!“ hat sich das berühmte Monster rehabilitiert, und in Poes „Raben“ steckt noch manch schaurige Bildidee.
Alessandro Tota: Die große Illusion. Band 1
Ein Hohelied auf die US-amerikanische Pulp-Kultur der 1930er und das kreative Feuer, das sie am Leben hielt, aber keine Apotheose: Der italienische Comiczeichner Alessandro Tota schickt seine junge Protagonistin Diana Morgan aus Kansas ins Herz von New York. Ihr Ziel: Für ein Pulp-Magazin Detektivgeschichten schreiben, so wie jene, die sie ihr bettelarmes Leben auf dem Land für die Dauer der Lektüre vergessen ließen – und für diesen Neustart braucht’s auch einen neuen, klingenderen Namen: Roberta Miller! Mit Morgans Ankunft in der Metropole beginnt die harte Schule des Lebens: Ihr Koffer wird gestohlen, bald auch ihr letztes Quentchen Selbstbewusstsein. Große Depression, Straßenkämpfe, Arbeitslosigkeit, Obdachlosenheim. Schließlich landet sie als Redaktionsassistentin bei der sozialistischen Zeitung „Rise of the Masses“. Dort gibt’s zwar nur Idealismus als Honorar, doch lässt sich so zumindest das Handwerk erlernen. Der Kontakt zu einem narzisstischen Maler in Geldnot hilft ihr aus der Krise: Weil Superhelden boomen, lancieren sie gemeinsam – unter ständigem Zeitdruck, aber erfolgreich – für einen zwielichtigen Verleger die Comicheftserie „Dogman“.
Alessandro Tota erzählt keine melodramatische Aufsteigergeschichte, und er segnet auch nicht die Anfänge der Comic-Industrie: Kreative Arbeit ist in der zweibändig konzipierten Graphic Novel eine Schinderei unterm Gesetz eines brutalen Kapitalismus: Unterbezahlung, miese Verträge, keine Urheberrechte, Zeitnot, Konkurrenz und Einsamkeit sind die Konsequenzen für Morgans bescheidenen Erfolg. Tota rückt überdies den gesellschaftspolitischen Rahmen ins Licht: Armut, Rassismus (unter und gegenüber den Migrant*innen), Misogynie (Morgan wird das Pseudonym Bob Smoke aufgezwungen: „Einen Frauennamen kannst du nicht nehmen… Dann sind die Leser enttäuscht.“), Homophobie (Morgan verrät in dieser Macker-Kultur niemandem, dass sie lesbisch ist) und die Angst vor einem Weltkrieg sind allgegenwärtig. Man muss das nicht nur historisch lesen: Spätestens wenn der „Masses“-Chefredakteur seinen Job verliert, weil er aus journalistischem Ethos einen sowjetkritischen Bericht über Verfolgungen, Scheinprozesse und Deportationen zuließ, wirkt dies wie ein Fingerzeig auf die faschistische Transformation des heutigen Russlands, die vom Gros der antiimperialistischen Linken nicht minder kaltschnäuzig ignoriert wird. Tota blickt in den Abgrund der Geschichte, und der starrt bedrohlich zurück.
Alessandro Tota: Die große Illusion. Band 1 • Reprodukt, Berlin 2024 • 248 Seiten • Hardcover • € 29,00
Sascha Hommer: Das kalte Herz
Der Frühkapitalismus spielt auch in Wilhelm Hauffs Märchen „Das kalte Herz“, das Sascha Hommer adaptiert hat, eine Rolle, erstaunlich genug für ein Werk der Romantik. Peter Munk, die Hauptfigur, ist als Kohlenbrenner im frühen 19. Jahrhundert bereits ein Anachronismus, gefährdet von der Dampfmaschine. Jedewede Form des Ansehens ist in Hauffs Erzählung vom materiellen Reichtum bestimmt. Der Schwarzwald, in den Reisende nicht der Bäume, sondern der Leute wegen hineinschauen sollen, wie es im ersten Satz sowohl des Märchens als auch der Adaption heißt, ist vom Idyll der Natur, wie sie die Romantik beschwor, längst abgekoppelt, ein finstrer Ort voller selbstsüchtiger Gestalten, zudem ausgebeutete Ressource. Und der Stein, den Munk als Tausch für sein Herz und die Aussicht auf Reichtum fortan in der Brust tragen muss, bindet allegorisch die buchstäbliche Kaltherzigkeit an die Habgier, die den Menschen den sozialen Verstand austreiben. Dunkler Stoff, für den Hommer fantastische Landschaftsbilder findet, die vor allem im Kontrast zu seinen weichen Figuren mit ihren großen Augen schaurige Stimmungen erzeugen, sei es im Zusammenspiel der Panels oder als ganzseitige Gemälde. Ein kleines Meisterwerk unter den literarischen Comicadaptionen.
Sascha Hommer: Das kalte Herz • Reprodukt, Berlin 2024 • 160 Seiten • Hardcover • € 24,00
Bernie Wrightson, Steve Niles, Kelley Jones: Frankenstein Alive, Alive!
Der Abschied eines Comic-Genies: „Frankenstein Alive, Alive!“ war die letzte Arbeit des 2017 verstorbenen US-Zeichners Bernie Wrightson, ein auf vier Hefte angelegtes Sequel des Frankenstein-Stoffs. Wrightson konnte das vierte Heft nicht mehr beenden und beauftragte Kelley Jones damit, auf Basis seiner Layouts und Thumbnails die Mini-Serie abzuschließen. Man merkt, dass Jones‘ Hand von Demut geleitet wurde. Der Plot greift das Motiv der entfremdeten Existenz erneut auf: Das Monster hat überlebt, heißt nun Frank und versucht als Attraktion einer Freakshow von den Menschen akzeptiert zu werden. In einer privaten Essensrunde – ein kleiner Verweis auf Wrightsons eigenes Werk „Freakshow“ – spricht es von seinem vergeblichen Ringen um einen Platz unter ihnen. Die Tragik mag altbekannt sein, aber das penibel aufbereitete Setting und der Blick fürs Detail, die aufs Genaueste großformatig ausgearbeiteten Forschungsräume, Bibliotheken und verschneiten Dorfwege, sind weiterhin atemberaubend. Ein trauriger Abschied eines Künstler-Solitärs.
Bernie Wrightson, Steve Niles, Kelley Jones: Frankenstein Alive, Alive! • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 104 Seiten • Hardcover • € 25,00
Peter Eickmeyer, Gaby von Borstel: Der Rabe/The Raven
Am 7. Oktober war Edgar Allan Poes 175. Todestag, und das Künstler*innen-Paar Gaby von Borstel und Peter Eickmeyer hat darum eine illustrierte, zweisprachige Ausgabe von Poes berühmtestem Gedicht „Der Rabe“ (in Carl Theodor Ebens Übersetzung) vorgelegt. Erst im vergangenen Jahr veröffentlichten beide eine illustrierte Heine-Biographie; man bleibt also der Gattung treu. Eickmeyer nutzt eine doppelte Bildebene: Großflächig, in majestätischer Anmut dominiert der Rabe die Seiten, während am Rand, buchstäblich als roter Faden implementiert und sequentiell montiert, die Perspektive des lyrischen Ichs zu sehen ist. Eickmeyers Neigung zum kontrolliert schmutzig aquarellierten Gemälde fusioniert so mit einem monochromen Skizzen-Stil, Illustrationskunst mit Comic-Bonus sozusagen – inklusive eines atmosphärischen Nachschlags im Original-Teil, in dem die Zeichnungen negativiert präsentiert werden, was dem Raben ein weitaus erschreckenderes Antlitz verleiht und im Zusammenspiel mit seiner gravitätischeren Darstellung im deutschsprachigen Abschnitt auf dessen ambivalente Rolle in der westeuropäischen Kulturgeschichte referiert. Im Anhang folgt darum, neben einer Würdigung Poes, auch eine Rehabilitation dieser Akademiker der Lüfte.
Peter Eickmeyer, Gaby von Borstel: Der Rabe/The Raven • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 64 Seiten • Hardcover • € 18,00
The Simpsons: Treehouse of Horror. Necronomnibus Band 2
Die Halloween-Geschichten waren auch in den Simpsons-Comics stets ein Highlight, weil hier hauptsächlich Gast-Künstler*innen ihre Interpretationen ablieferten. Beim Splitter-Imprint Toonfish ist der zweite pompöse Sammelband erschienen (der abschließende dritte folgt zu Halloween 2025). Natürlich darf man nicht die Finesse der TV-Episoden erwarten, an denen eine Gruppe Drehbuchautor*innen monatelang justiert. Ein gewisser narrativer Gleichklang ist auf Dauer nicht zu leugnen, aber schließlich waren als ursprüngliche Publikationsform auch dünne Kiosk-Hefte, keine Trumm-Editionen vorgesehen. Über stilistische Abwechslung hingegen wird man sich nicht beklagen können, und selbstverständlich sind ein paar exzellente Horror-Juwelen darunter, allen voran Jim Woodrings für den Eisner Award nominierte Meta-EC-Hommage „Harvest of Fear“.
The Simpsons: Treehouse of Horror. Necronomnibus Band 2 • Toonfish, Bielefeld 2024 • 400 Seiten • Hardcover • € 49,80
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