Ist das Kino bald von Gestern?
Auch beim Filmfestival in Cannes geht es zunehmend um Virtual Reality
Wie so oft gibt es auch in diesem Jahr im offiziellen Programm des Festivals von Cannes nicht allzu viel von der Science-Fiction Front zu berichten. Das Genrekino findet beim immer noch wichtigsten Filmfestival der Welt vor allem in Form asiatischer Gangsterfilme Beachtung, für die Programmleiter Thierry Fremaux eine ausgewiesene Schwäche hat. Auch der schöne Samuraifilm „Blade of the Immortal“ von Takashi Miike wurde gezeigt, ein blutiger, nihilistischer Exzess, doch in der Regel kommt das Genre nur dann in Betracht, wenn es aus der Feder eines Auteurs stammt.
So wie der Japaner Kiyoshi Kurosawa, der in „Before We Vanish“ eine interessante Körperfresser-Variation inszeniert, in der die Vorhut der Fremden markante menschliche Emotionen stehlen, um eine größere Invasion vorzubereiten. Von den Menschen lernen, um sie zu besiegen, das ist auch ziemlich genau der Dreh in James Cameron Mitchells „How To Talk To Girls At Parties“, der auf der gleichnamigen Kurzgeschichte von Neil Gaiman basiert. Ausgerechnet Ende der 70er Jahre, als der Punk in voller Blüte stand, machen sich Außerirdische in einem Vorort von London breit und führen in bizarren Latexkostümen, noch bizarrere Riten aus. Das Lernen von den Menschen nimmt besonders die junge Zan ernst und verliebt sich in einen Erdenmenschen. Wie man das vom Exzentriker Mitchell gewohnt ist, folgt eine wilde, weniger narrative, als impressionistische Liebesgeschichte, die bald in kosmisch-psychedelische Dimensionen abdriftet.
Kino also, das weniger über eine Geschichte funktioniert, als über die Bilder, über Emotionen, was ziemlich genau das ist, was der – zumindest momentan noch – aufregendste Aspekt der Virtual Reality ist. Noch steckt die Technik in den Kinderschuhen, doch hinter den Kulissen brüten Regisseure bis hin zu Spielberg an Methoden und Wegen, die ungelösten Fragen der Technik zu knacken. Wie kann man in diesem Format Geschichten erzählen etwa, wie die Aufmerksamkeit des Zuschauers im 360 Grad Raum lenken, und natürlich nicht zuletzt: wie mit einem Format Geld verdienen, das nur eine Person auf einmal sehen kann?
Diese Einschränkung einer VR-Installation macht sich auch bei Alejandro G. Iñárritus „Carne y Arena“ bemerkbar, dem ersten VR-Film, der im offiziellen Programm eines großen Festivals gezeigt wurde. Kaum 50 Personen konnten die Installation pro Tag anschauen, die in einem Flugzeughangar außerhalb von Cannes gezeigt wurde. Die enormen Ausmaße des Spielfelds, in dem sich der User bewegen kann, sind auch gleich das erste bemerkenswerte. Gut 15x15 Meter ist der Raum groß, in dem man einen Rucksack mit Technik angeschnallt bekommt, Brille und Kopfhörer aufsetzt und sich auf einmal in der Sonora Wüste befindet, die die Grenze zwischen Amerika und Mexiko bildet. Flüchtlinge kommen auf einen zu, die bald von Grenzbeamten gestellt werden, während Hubschrauber über einen sausen, Suchscheinwerfer blenden. Durchaus eindrucksvolle Bilder, deren Intensität allerdings dadurch deutlich geschmälert wird, dass die Figuren animiert sind und sich Iñárritu visuell sehr zurückhält. Vielleicht wollte er ein mit der Technik sein vertrautes Publikum nicht überfordern, das Ergebnis ist jedoch eine etwas ernüchternde Erfahrung, die kaum über das Erlebnis eines überzeugenden Kurzfilms hinausgeht.
Viel interessanter waren VR Experimente, die abseits des offiziellen Festivalgeschehens gezeigt wurden. Besonders der Computerhersteller und Festivalsponsor HP tat sich hier hervor. Mit viel Geld fördert der Konzern Künstler und Filmemacher, die gesponsert werden, um mit der neuen Technik zu experimentieren. Die Engländerin Checka Levi Morenos entwickelt VR-Geschichten, die keinerlei narrativen Form folgen, nichts erzählen wollen, sondern nicht mehr als Räume, Welten sind. In diesen kann der User mittels eines anfangs recht komplizierten Systems mit zwei Paddels im Raum malen. Schier unbegrenzte Möglichkeiten bieten das Programm, fluoreszierende, flirrende Farben erzeugen faszinierende Effekte, man kann sich aber auch einfach in den fertigen Welten bewegen und sich in ihnen verlieren
Etwas narrativer ist „Tree“ von Milica Zec und Winslow Porter ein gut zehn Minuten langer Film, in dem der User sozusagen ein Baum ist. Am Anfang noch unter der Erde, wächst man langsam, bricht an die Oberfläche und steigt bald in die Höhen des Dschungels auf. Bewegt man die Arme und die Paddels, bewegt man die Äste des Baums, kann sich bewegen und quasi wanken, bis man schließlich im Himmel angelangt ist. Die im Gegensatz etwa zu Iñárritu deutlich reduzierte Bewegungsreichweite macht das Rendering natürlich einfacher, dennoch sind die Bilder von bemerkenswerter Klarheit und Geschwindigkeit. Wenn da Vögel um den Baum, also den User fliegen, Affen in den Ästen hängen, fühlt man sich tatsächlich als wäre man mitten im Dschungel.
Noch befindet sich die VR-Technik ganz am Anfang, noch sind die Filme und Installationen kaum mehr als Fingerübungen, doch wenn man bedenkt, wieviel Geld inzwischen in die Entwicklung der Technik und vor allem der Formate gesteckt wird, darf man gespannt darauf sein, was die Zukunft diesbezüglich zu bieten haben wird.
Großes Bild ganz oben: „Carne y Arena“. Abb. Emmanuel LUBEZKI
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