Die Hoffnung stirbt zuletzt
Das tief melancholische Indie-Adventure „Last Day of June“
Eigentlich ist schon mit dem Titlescreen oder zumindest den ersten Sekunden klar, dass diese Liebesgeschichte kaum gut ausgehen kann. Sonnenverhangener Nachmittag, ein Pärchen an einem idyllischen Steg, sie malt ein Bild, während er ihr (optional) eine Blume pflückt und sie ihm wiederum ein Paket zum Geburtstag überreicht - alles viel zu schön, um dauerhaft wahr bleiben zu können.
Kurz darauf zieht ein Unwetter auf, das Paar will mit dem Wagen nach Hause fahren und während die Kamera immer weiter herauszoomt, hören wir einen Knall, der ohne jedes weitere Bild die ganze Tragik in unserem Kopf bereits in Sekundenbruchteilen zusammenzieht. Carl und June, so die Namen der beiden Liebenden, erleiden einen schweren Unfall, der June das Leben und Carl seine Gehfähigkeit kosten wird. Happiness ended.
Last Day of June zelebriert auf PC und PS4 in rund 3 Stunden Spielzeit eine Tragödie über Liebe, Verlust und Erinnerung, wie sie gerade aufgrund ihres gameplaytechnisch extrem reduzierten wie narrativ komprimierten Ansatzes ungewöhnlicher kaum daherkommen könnte. Selbst für ein Indie-Adventure wirkt das Gameplay geradezu grotesk simpel. Nach dem Unfall dürfen wir mit June zunächst die Zeit vor dem Unglück Revue passieren lassen und mit ihr das beschauliche Heim des Paares ohne jedes Rätsel oder sonstige relevante Aktion abschreiten, ehe sie sich zusammen mit Carl auf den Weg zu ihrem Locus amoenus am See machen und das Schicksal seinen Lauf nimmt.
Genau dieses Schicksal vielleicht doch noch zu verändern und Junes Leben zu retten, definiert im Kern Story- wie Gameplaykonzept des Titels, wobei sich typischerweise für das gesamte Game immer wieder kleine Hinweise in zu Erkennen geben, die im wahrsten Sinne ganze Bildergalerien unserer Charaktere ergeben.
Dazu bedient sich Last Day of June vor allem eines magischen Tricks, der es Carl erlaubt, über einige von Junes gemalten Porträtbilder einen Sprung kurz vor den Unfall zu machen und in sehr knappen Sequenzen in bester Zeitschleifen-Manier zu versuchen, die Ereignisse vor dem Unfall so zu manipulieren und neu anzuordnen, dass sich der Unfall möglicherweise nicht mehr ereignet.
Wir übernehmen in diesen Sequenzen allerdings nicht Carl oder June, sondern vier weitere Bewohner des kleinen Dörfchens, das mit seiner Hyperidylle ohne jede Industrie oder Infrastruktur wie ein kleines Märchendorf wirkt. Das mag, ähnlich wie der magische Einschlag mit den Erinnerungsbildern, für manche Spieler fast schon zuviel Märchen sein, doch die Macher zeigen allen Realismusfreunden ohnehin an jeder Ecke dermaßen überdeutlich die rote Karte, dass sie der Vorwurf eines zu fantastischen Ansatzes letztlich überhaupt nicht tangieren kann und komplett am Ziel vorbeigeht.
Ein kleiner Junge mit Ball, ein Jäger mit Flinte und Hund, eine Frau mit Umzugslaster und ein alter Mann mit Geschenkpaket und Seil reichen hier an der zusätzlichen Figurenfront völlig aus, um ein sehr einfaches, mittels etwas zuviel Redundanz leicht überstrapaziertes Zeitschleifenpuzzle aufzuziehen, bei dem die jeweiligen Aufgaben teilweise nur plump abgeklappert werden müssen. Spielen wir mit dem Hund Ball oder lassen mit dem alten Mann einen Drachen steigen? Fahren wir ohne Sicherheitsseil mit dem Lastwagen los und falls wir das nicht wollen, wo bekommen wir ein solches Seil her? Was wir unter dieser Prämisse mit der einen Figur anrichten, hat wiederum Auswirkungen auf die anderen und mündet - außer bei der genau richtigen Lösungskette, die wir immer wieder neu rekombinierren können - im fatalen Unfall von Carl und June.
Gerade weil die Möglichkeiten aber so eingeschränkt sind, verkommt dieses Prinzip zum bloßen Probieren, andere Figur wählen, neue Sequenz starten und dann wieder ohne Vorspulfunktion viel zu oft die selben Animationen sehen. Anspruch sieht anders aus und wenn man mehrfach ohne Erfolg herumprobiert hat, ist die Frage legitim, ob das Ganze als Animationsfilm ohne unnötige Längen nicht vielleicht sogar noch besser funktioniert hätte.
Zwischendurch erwacht Carl aus seinem (vermeintlichen) Alptraum und wir können uns mit ihm in einer surrealen Traumnacht innerhalb des Dorfes mit einigen zusätzlichen Informationen über die Dorfbewohner versorgen. Interessanterweise gestaltet sich genau diese Art des räumlichen Storytellings als eine besondere Stärke des Games, das komplett ohne Sprach- und Textausgaben auskommt (außer bei einigen Aktionsbefehlen) und uns das Innenleben der nur vor sich hinbrabbelnden Akteure rein visuell vorsetzt.
Das wirkt umso erstaunlicher, wenn man sich das geradezu totenhafte Aussehen der Figuren ohne Augen und markante Gesichtskonturen bewusst macht, welches ihnen trotz des gekonnt umgesetzten Animationsfilmcharmes etwas Totenhaftes verleiht. Eine Ambivalenz, die dem Game allerdings nicht nur an dieser Stelle gut tut und wie das gesamte Design die spielerischen Mängel absolut ausgleicht. Denn Carls Verzweiflung, sein Schicksal möglicherweise nicht ändern zu können und ohne seine June weiterexistieren zu müssen, wirkt bis zum Schluss glaubhaft wie emotional bewegend, gerade weil sich die Macher nicht in unnötigen Details verlieren und die anderen Figuren mit ihrer ganz eigenen, sogar subtil angehauchten Trauer zur Kernerzählung passen - es ist eben nicht alles Idylle, was danach aussieht. Noch nicht einmal bei einem kleinen Märchendorf.
Dass Last Day of June gerade in Sachen Atmosphäre und Gefühlsklaviatur bis zum stimmigen Ende wuchtig auftrumpft, ist vor allem auch dem wunderbaren Indie-Soundtrack zu verdanken, der sich an die pittoresken Bilder gekonnt anschmiegt, ohne sich unnötig in den Vordergrund zu pushen oder andererseits auch nur im Ansatz Abnutzungserscheinungen zuzulassen. Hier waren wie an jeder Stellschraube eben echte Könner am Werk, darunter Massimo Guarini (Shadows of the Damned), Musiker Steven Wilson (dessen Song Drive Home hier das bittersüße Herzstück bildet) sowie Regisseur/Animator Jess Cope (der unter anderem an Frankenweenie beteiligt war). Eine tolle Kooperation, deren Output man so vielleicht nicht unbedingt erwarten konnte.
Fazit
Den Beteiligten ist mit Last Day of June ein spielerisch leicht verarmtes, aber atmosphärisch großartiges, richtig zärtliches Indie-Adventure gelungen, das mit seinem zutiefst melancholischen Umgang mit dem Zeitschleifenmotiv auch ohne Realismus seine einfache Botschaft vermittelt: Lebe die Liebe jeden Tag so, als wäre es der letzte - denn alles kann so schnell vorbei sein. Wer sich auf solche Universalgeschichten nicht einlassen will, sollte unbedingt die Finger von Last Day of June lassen.
Wer aber drei Stunden emotionaler Achterbahnfahrt erleben möchte, sich auch nicht von den Brabbelfiguren ohne Augen davon abhalten lässt und vielleicht sogar gerade darin eine hohe Kunst der Emotionalisierung erkennen kann, sollte sich diese kleine Dosis Tragik unbedingt näher anschauen - und anhören.
Last Day of June • Ovosonico/505 Games • Adventure
Abb. © Ovosonico/505 Games
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