26. März 2018 6 Likes

Möchtest du Sex mit mir haben?

Über das Unbehagen in der Post-Weinstein-Ära

Lesezeit: 7 min.

Inmitten der Post-Weinstein-Enthüllungswelle über sexuellen Missbrauch und Belästigung, die in den letzten Wochen über uns hinweggerollte, legte der ehrenwerte Sir Michael Fallon sein Amt als britischer Verteidigungsminister wegen „unangemessenen Flirtens“ nieder. Verständlicherweise drängt sich da die Frage auf, ob das wirklich alles war, was er getan hat, ein Flirt ist schließlich noch kein Grund, zurückzutreten. (Tatsächlich sind seither einige Reportagen erschienen, die vermuten lassen, dass doch etwas mehr dahintersteckt.) Die Verwunderung ist aber so oder so nur von kurzer Dauer – heutzutage bleibt kaum genug Zeit, um über die Namen der Beschuldigten und die Art der sexuellen Belästigung, die jemandem vorgeworfen wird, nachzudenken, bevor schon der nächste Fall an die Öffentlichkeit kommt.

Allerdings werden hier verschiedene Dinge miteinander vermischt. Mr. Fallon ist zurückgetreten, weil sein Name wiederholt auf einer Sex-Liste auftauchte, die der britischen Öffentlichkeit bekannt war und auf der Personen standen, die sich ihren Mitarbeiterinnen auf unangemessene Weise genähert oder sie in manchen Fällen sogar zur Abtreibung gezwungen hatten. Auf der Liste fanden sich jedoch auch die Namen derer, denen man „eigenartige“ sexuelle Vorlieben nachsagte oder die schlicht eine Affäre hatten. Kurz gesagt, alle wurden über einen Kamm geschert: diejenigen, die tatsächlich eine Straftat begangen hatten, genauso wie diejenigen, die lediglich die Art von Sex hatten, den die britische Klatschpresse gerne – begleitet von lüsternen Überschriften und einer muffigen Fünfzigerjahre-Moral – ans Licht der Öffentlichkeit zerrt. Das ist bezeichnend für die Zeit, in der wir leben: Unsere Einstellung zur Sexualität hat sich verändert, trotzdem sind wir noch immer verwirrt und durcheinander, gefangen zwischen der alten Welt und der neuen.

Naomi AldermanIm Prinzip ist der Frauenbewegung die unblutigste Revolution der jüngeren Geschichte gelungen. Seit Mary Wollstonecraft für die verrückte Vorstellung kämpfte, Frauen seien auch Menschen und könnten Anspruch auf gewisse Rechte erheben, hat der Feminismus die Welt Schritt für Schritt weitergebracht, haben sich die Gesetze und die öffentliche Meinung so radikal verändert, dass es kein Zurück mehr gibt. Heute kommt es nicht einmal mehr Mr. Muschigrapscher President in den Sinn, Frauen das Wahlrecht abzusprechen, Mädchen den Zugang zu Schulen und Universitäten zu verwehren, verheiratete Frauen als Eigentum ihres Mannes zu betrachten oder Frauen zu zwingen ihren Job aufzugeben, sobald sie schwanger werden. Und wir erleben gerade wieder so eine Zeit des Wandels. Eine Zeit, die unser Denken für immer verändert.

Es scheint fast so, als wäre ein Damm gebrochen, in dem Harvey Weinstein nur der erste lange dunkle Riss war. Die Anzahl der Männer, die in den letzten Wochen der sexuellen Belästigung, des Missbrauchs und der Vergewaltigung bezichtigt wurden, ist erschütternd: Journalisten, Schriftsteller, TV-Stars, Produzenten, Techniker. Sogar Elie Wiesel wurde vorgeworfen, jemandem an den Hintern gefasst zu haben. Elie Wiesel! Ich würde jetzt gerne einen Witz darüber machen, dass vermutlich der Papst der Nächste ist, nur – es  wäre nicht lustig.

Ich frage mich, was wohl noch auf uns zukommt. Wenn ein Damm bricht, hat das eine reinigende Wirkung. Diese Geschichten sind wichtig. Aber eine gesellschaftliche Veränderung vollzieht sich nicht im grellen Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, sondern im Stillen, im Denken der Menschen. Können wir den historischen Augenblick nutzen, um uns zu neuen, besseren Ufern aufzumachen?

Sozialer Wandel hat auch immer etwas Beunruhigendes. Es herrscht das Gefühl vor, dass kein Mann mehr sicher ist. Da hilft es auch nicht, ein Holocaust-Aktivist mit dem Ruf eines Heiligen zu sein oder der Produzent von Kill Bill oder der Präsident der USA. Doch nun kommt zu diesem Gefühl der Unsicherheit eine weitere Komponente hinzu: Viele Männer scheinen eine Art Unbehagen zu verspüren, dass manches, das sie in der Vergangenheit getan haben, in einem gewissen Licht betrachtet vielleicht doch nicht ganz so harmlos gewesen sein könnte, wie sie bisher dachten. Ja, bei einigen scheint sich regelrecht Panik breitzumachen. (In einem Artikel des Daily Telegraph erklärte der Kolumnist, dass „Frauen nun die Oberhand“ hätten, und bittet sie, „uns nicht zu zermalmen“.) Das Ganze folgt einer unerbittlichen Logik, die wir schon viele Male beobachten durften: Männer, die selbst nicht über jeden Zweifel erhaben sind, werfen anderen ihre Vergehen – und seien sie noch so harmlos – mit lauter Stimme vor. Genauso wie sich mit schöner Regelmäßigkeit herausstellt, dass der Abgeordnete, der sich am vehementesten gegen die Rechte von Homosexuellen ausspricht, selbst schwul ist und dass der pädophile Polizist bei der Sitte arbeitet. Der beste Weg, die eigene Unschuld zu beweisen, war eben schon immer, mit dem Finger auf andere zu zeigen, die desselben „Verbrechens“ verdächtigt werden. Unter den Frauen dagegen gibt es diejenigen, die beschwichtigen, diejenigen, die sich ihre eigene Verletzlichkeit nicht eingestehen wollen, nach dem Motto: „Es ist nun mal passiert, aber mir geht’s gut. Was soll bloß die ganze Aufregung, da kann ich heute doch drüber lachen.“

Naomi Alderman
Naomi Alderman
Foto © Justine Stoddard

Diese beiden Strömungen werden früher oder später aufeinanderprallen. Einige werden automatisch jeden verteidigen, dem sexuelle Belästigung vorgeworfen wird, und andere werden jeden, auf den nur der leiseste Verdacht fällt, an den Social-Media-Pranger stellen. Der Begriff der „Hexenjagd“ heizt die Debatte unnötig an und ist zudem völlig unangemessen; Hexen haben schließlich kein Unrecht begangen, Männer, die andere belästigen und missbrauchen, schon. Dennoch ist der Wunsch nach schneller Aufklärung ein zutiefst menschlicher – es ist eben viel einfacher zu sagen, dass es in unserer Herde ein paar schwarze Schafe gab, die wir losgeworden sind, als uns dem langwierigen und unangenehmen Prozess zu unterziehen, unser ganzes kulturelles Erbe infrage zu stellen.

Ich kann Ihnen garantieren, dass es in der Menge der zu Recht vorgebrachten Anschuldigungen, eine oder zwei geben wird, die übertrieben, ja vielleicht sogar gelogen sind. Das lässt sich nicht vermeiden. Und wenn das dann herauskommt, wird so mancher versucht sein, die ganze Bewegung in Misskredit zu bringen. Etliche US-Bürger haben Trump gewählt, ungeachtet seiner frauenfeindlichen Einstellung. Und die Leute, die im Zuge dessen an die Macht gekommen sind, suchen bereits jetzt nach Mitteln und Wegen, um diesen historischen Augenblick zu unterminieren und zu entwerten. Die Gegenbewegung wird kommen – wir sollten also versuchen, nicht zu überrascht zu sein, wenn es soweit ist.

Ich gebe die Hoffnung jedoch nicht auf. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg, unsere Einstellung zu den Themen Sexualität und Beziehungen zu verfeinern. Im Kino, im Fernsehen, bei den berühmt-berüchtigten Gesprächen in der Umkleidekabine – überall wurde früher verkündet: „Schnapp sie dir und küss sie. Sie wird es schon mögen, wenn du erst mal angefangen hast.“ Wie sich herausgestellt hat, ist das eine gefährliche Sexualkultur, sowohl für Frauen wie für Männer. Inzwischen wissen wir, dass die alten Regeln falsch waren, aber wir haben sehr lange nach ihnen gespielt, und wie die neuen Regeln aussehen könnten, darüber sind wir uns noch nicht einig.

Wir sollten den historischen Augenblick, den wir gerade erleben, also feiern, doch wir dürfen dabei nicht vergessen, dass noch ein langer Weg vor uns liegt. Damit wir uns weiterentwickeln können, müssen wir begreifen, dass das Problem nicht bei ein paar schwarzen Schafen liegt, sondern in unserer Kultur. Eine Kultur, in der gilt, dass Frauen keine sexuellen Bedürfnisse haben; in der wir umschmeichelt, überredet, verführt, manipuliert, erpresst oder schlichtweg gezwungen werden müssen, damit wir uns auf Sexualität einlassen. Es werden lange und komplizierte Gespräche zwischen jungen Männern und Frauen nötig sein: Was genau bedeutet „einvernehmlich“? Wann wird Macht missbraucht? Warum ermuntern wir Männer – die sowieso schon größer, stärker und muskulöser sind –, den sexuell aggressiven Part zu übernehmen, während wir davon ausgehen, dass Mädchen sich nur hübsch machen und darauf warten, gefragt zu werden?

Diese Gespräche werden unangenehm und unsexy sein. Ja, sie werden unnatürlich scheinen. Männer werden sich womöglich beim Flirten gehemmt fühlen. Frauen auch. Vielleicht wird es sogar soweit kommen, dass wir fragen – ja genau, fragen – müssen: „Möchtest du mich küssen?“ oder „Möchtest du Sex mit mir haben?“ Wie so oft bei wichtigen gesellschaftlichen Veränderungen werden sich diese Worte anfangs seltsam anfühlen – bis wir sie so oft gesagt haben, dass sie es nicht mehr tun. Die Alternative – die schmutzige Wäsche zurück in den Schrank stopfen und vergessen, dass wir sie jemals gesehen haben – ist undenkbar.

Das hoffe ich zumindest.
 

Naomi Alderman ist Autorin und Professorin für Kreatives Schreiben an der Bath Spa University in England. Ihr jüngst erschienener Roman »Die Gabe« (im Shop) spielt in einer Welt in der Mädchen und Frauen von einem Tag auf den anderen mit den Händen Stromstöße verteilen können. Durch bloße Berührung können sie nun anderen Menschen Schmerzen zufügen und sie sogar töten. Von einem Tag auf den anderen werden die Männer zum schwachen Geschlecht. Aber ist eine von Frauen beherrschte Welt auch eine bessere Welt?

Naomi Alderman wurde für „Die Gabe“ mit dem Baileys Women‘s Prize for Fiction ausgezeichnet und eroberte sich weltweit eine riesige Fangemeinde, zu der auch Barack Obama gehört.

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