7. Dezember 2018 1 Likes

Die Zeit der Erde läuft ab

Eine Leseprobe aus T.S. Orgels Science-Fiction-Roman „Terra“

Lesezeit: 14 min.

Dass Tom und Stephan Orgel ein Garant für spektakuläre Welten und groß angelegte Abenteuer sind, haben die beiden Brüder schon mehrfach unter Beweis gestellt. Mit „Terra“ (im Shop) haben die Autoren nun ihren ersten Science-Fiction-Roman vorgelegt, der den Leser in die Welt der Raumfrachterpiloten entführt, die Güter und Waren zwischen Erde, Mars und Mond transportieren. Doch manche der Container bergen ein tödliches Geheimnis. Ein Geheimnis, das bald die gesamte Menschheit bedroht …

 

NEUNUNDZWANZIG MINUTEN

Drei Tage zuvor

 

»Du hast noch Sauerstoff für neunundzwanzig Minuten.«

Kaltes Grauen stieg in Charlotte auf. Unwillkürlich klopfte sie gegen die Seite ihres Helms, als würde das genügen, um die Anzeige auf ihrem Display zu verändern. Die Grafik in einer Ecke ihres Helmmonitors zeigte dasselbe an, was die Stimme in ihrem Ohr gerade verkündet hatte. »Audrey, das kann nicht stimmen! Meine Tanks waren voll, als ich sie angelegt habe, und ich bin erst seit einer knappen Stunde draußen. Ich müsste noch für mehr als elf Stunden Sauerstoff haben und nicht für verdammte neunundzwanzig Minuten! Und was ist mit der Energieanzeige los?« Der Balken im Display, der den Füllstand ihrer Batterien anzeigte, hatte bereits die 50%-Marke unterschritten.

»Beruhige dich, Charlotte.« Ihre AVA, ihr Advanced Virtual Assistant, hatte die beruhigend samtige Stimme einer französischen Schauspielerin, die ihre Großmutter zutiefst vergöttert hatte. Sie selbst hatte ihr diese Stimme ausgesucht, genauso wie ihren Namen.

»Sag mir bloß nicht, dass ich mich beruhigen soll, Audrey! Wag es ja nicht, oder ich kratz dich aus dem Speicher und ersetze dich durch …«

Eine Injektionsnadel aus der Med-Einheit in ihrem Helm stach in ihren Nacken. Beinahe sofort breitete sich ein eisiges Gefühl in ihr aus, während das Beruhigungsmittel wirkte.

»Ich bitte um Entschuldigung, doch deine erhöhte Atemfrequenz verbraucht den Restvorrat schneller als notwendig.«

»Fick dich«, murmelte sie, dieses Mal jedoch halbherzig. Dann seufzte sie und atmete tief durch. Diesen Luxus gönnte sie sich. »Welche Möglichkeiten habe ich noch, Audrey?«

»Die Schleusen des zentralen Schachts stehen offen. Bis zum Rig sind es zweihundertfünfzehn Meter. Bis zum habitablen Bereich des Rigs solltest du es in zwölf Minuten schaffen.« Charlotte hatte das fast übermächtige Bedürfnis, sich die Stirn zu massieren, doch das war ein Luxus, den ein Raumanzug nicht bot. Sie stampfte auf. Die Luke unter ihren Füßen vibrierte und erzeugte ein dumpfes Dröhnen in ihrem Anzug. »Ich wiederhole mich: Ich stehe auf Schott 10-B, und es ist geschlossen wie … etwas verschlossen sein muss, um den verdammten Weltraum draußen zu halten. Oder die Luft drin. Du weißt, was ich meine.«

Ein leiser Signalton ertönte. Dann kehrte die Stimme der AVA zurück. »Das ist nicht möglich. Mir liegen keine Fehlfunktionen vor. Schott 10-B ist geöffnet und gesichert.«

Charlottes Blick zuckte unwillkürlich zur Sauerstoffanzeige. Sechsundzwanzig Minuten. »Wir haben hier offensichtlich mehr als nur ein Problem«, murmelte sie. »Audrey, das Ganze wird langsam unübersichtlich. Mein Anzug hat eine Fehlfunktion. In dem verdammten Container ist etwas anderes, als darin sein sollte, du kannst das Problem nicht sehen, das verdammte Schott hat eine Fehlfunktion, die Kommunikationssysteme sind down, der Lift ist tot, und mir geht die verdammte Luft aus.« Sie atmete tief durch, im vollen Bewusstsein, dass das nicht dazu beitrug, ihre Vorräte zu schonen. »In Ordnung. Audrey, geh einfach davon aus, dass ich nicht durch den Zentralschacht will. Aus welchen Gründen auch immer. Welche Möglichkeiten habe ich dann? Lebend?«

Die AVA schien zu zögern. »Es kommt darauf an, wie lange du ohne Sauerstoff bei Bewusstsein bleiben kannst.«

»Welche Möglichkeiten?«, wiederholte Charlotte eindringlich.

»Du kannst über die Außenhaut gehen.«

»Gut, und wie mache ich das?«

»Geh durch die Container 7-4 und 7-15. Die Schleuse von 7-4 ist bereits geöffnet. In beiden Einheiten sind dicht gepackte Erzlasten mit den vorgesehenen Notgängen.«

Charlotte verschwendete keine Luft auf eine Antwort. Stattdessen begann sie zu klettern. Es waren fünfzehn Meter bis zu den Einstiegsluken in die LastContainer, und der Liftmechanismus funktionierte nicht – egal was Audrey behauptete. Also blieben ihr nur die Leitern in den Wänden des Schachts. Fünfzehn Meter waren vielleicht nicht viel. Aber mehr als genug, wenn man in einem VacSuit mit voller Ausrüstung steckte und offenbar Luft verlor. Selbst wenn man nur gegen ein Drittel der Erdanziehungskraft anzukämpfen hatte.

Als Charlotte die Luken erreichte, hatte sie wertvolle Minuten verloren. Also hielt sie sich nicht damit auf, eine Pause einzulegen, sondern schob sich durch das Schott in Container 7-4. Den Laderaum, in dem ihre Probleme angefangen hatten. Audrey mochte darauf bestehen, dass dieser Container Erz enthielt, doch das, was sie mit ihren eigenen Augen sah, passte ganz und gar nicht dazu. Aber es bereitete ihr Magenschmerzen. Beinahe genauso viele wie der Gedanke daran, dass irgendetwas ihrer AVA permanent falsche Daten lieferte. Nicht nur Sensordaten, sondern auch Kamerabilder und wer wusste was noch. Möglicherweise waren sogar die Daten ihres Displays falsch, und sie hatte mehr Sauerstoff, als sie dachte. Erneut klopfte sie gegen ihren Helm. Das Display blieb unverändert. Aber das war garantiert nichts, worauf sie einfach warten wollte.

Die Astronautin erreichte das gegenüberliegende Schott und gab den Notfallcode ein. Wider Erwarten glitt es sofort beiseite und gleich darauf das nur einen Meter entfernte Gegenstück. Die Notbeleuchtung im angrenzenden Container begann zu glühen. Eilig zog sie sich hindurch. Dieser Container hier enthielt tatsächlich vorraffiniertes, gepresstes Erz, und ihre Magnetstiefel hinterließen bei jedem Schritt Abdrücke in der dicken, rötlichen Staubschicht. Im schummrigen Halbdunkel lag zehn Meter vor ihr, auf der anderen Seite des Doppelstegs, das Außenschott des Containers. Dahinter wartete das Nichts auf sie. Plötzlich empfand Charlotte ein unbestimmtes Grauen. Dafür war sie nicht gemacht. Das war nicht das, wofür sie hier war. Sie hasste das All, das wurde ihr in diesem Augenblick klar. Es war absurd und doch seltsam logisch. Seit acht Jahren flog sie Transportschiffe, davon ein halbes Dutzend Flüge auf der Goldilocks-Route zwischen Erde und Mars, doch bis heute hatte sie die kleine Blechdose an der Spitze der Olympia nie verlassen. Nicht im freien All, außerhalb der Reichweite einer der Raumstationen. Sie war keine Astronautin, sie war nur …

»Du hast noch Sauerstoff für einundzwanzig Minuten.« Audreys ruhige Stimme durchdrang den chaotischen Wirbel aus Gedanken, den die aufsteigende Panik in ihr erzeugte, und sie biss die Zähne zusammen. Hastig zog sie sich am Geländer der Gangway durch den düsteren Container, auf die ferne Luke zu. Hinter ihr glitt das innere Schott wieder in Position.

»Audrey, öffne das äußere Schott.«

»Öffne das äußere Schott«, wiederholte die AVA ihre Anordnung. Die Anzeige vor ihr blinkte träge. Rot.

Blau. Komm schon. Blau! Nichts veränderte sich.

»Audrey, öffne das äußere Schott. Jetzt!«

»Äußeres Schott ist geöffnet, Charlotte.«

Noch immer blinkte das rote Licht. »Einen Scheiß ist es, Audrey! Benutz deine verdammten Kameras.«

»Visuelle Bestätigung. Das äußere Schott ist geöffnet.«

»Merde!« Charlotte schlug so fest gegen das Schott, dass nur der Handschuh ihres VacSuits sie davor bewahrte, sich die Knöchel zu brechen. Öffnen von Hand. Wie ging das noch mal? Sie packte den Nothebel und zerrte ihn nach oben. Vielmehr versuchte sie es und verschwendete dabei wertvolle Sekunden, bis ihr klar wurde, was sie vergessen hatte. Fluchend öffnete sie das Panel und deaktivierte die Elektronik der Verriegelung. Dann zerrte sie erneut am Hebel, und dieses Mal gab er nach. Mit einem dumpfen Klacken lösten sich die Siegel des Schotts. Sie stemmte die Platte beiseite und starrte zum ersten Mal überhaupt in den gigantischen Abgrund zwischen den Welten, nur noch durch das Glas ihres Helms getrennt vom absoluten Nichts. Eine Welle der Übelkeit brandete über sie hinweg und wurde von einer plötzlich einsetzenden Euphorie davongespült, noch bevor sie sich in ihren Helm übergeben konnte. Schließlich blinzelte sie. »Das ist … tatsächlich ist das wunderschön, Audrey.«

»Das kann ich nicht beurteilen. Du hast noch Sauerstoff für neunzehn Minuten.«

»Weißt du was? Das macht es nicht einfacher. Wirklich nicht. Stell die Ansage ab, Audrey. Gib mir einfach Bescheid, wenn wir bei dreißig Sekunden sind.«

»Verstanden. Deine Wegstrecke beträgt zweihundertdreißig Meter bis zur Heckschleuse.«

Charlotte riss den Blick vom unter ihr gähnenden Abgrund los und schloss die Augen. Es ist eine Illusion. Wo hier draußen oben und unten ist, legst allein du fest. Dazu gab es eine Regel im Basistraining, das jeder absolvieren musste, der auf einem Frachter arbeiten wollte. Unten ist, wo deine Füße sind.

Sie zog sich aus dem geöffneten Schott und aktivierte noch beim Aussteigen ihre Magnetstiefel. Sofort spürte sie den vertrauten Zug, der ihre Fußsohlen auf die Außenhaut des Containers zwang, wo sie mit einem satten Geräusch aufschlugen. Einen langen Moment kämpfte sie gegen die irrationale Furcht, das Schott loszulassen und sich in der großen Leere aufzurichten. Beinahe zu groß war die Furcht, einfach haltlos davonzutreiben in die Unendlichkeit, wie ein Sandkorn um die winzige Sonne zu kreisen, die der einzige Stern war, den die Menschheit je erreichen konnte. Alle Instinkte schrien in ihr, dass sie, wenn sie jetzt losließ, davontreiben würde, so als sinke sie in die ewig lichtlose Tiefe eines Meers, von dessen Grund ihr die wundervollen Lichter der Tiefseekreaturen zu- blinkten. Und sie würde weiter sinken, bis ihr Sauerstoffvorrat zur Neige ging und sie …

Der VacSuit zog sich fester um sie zusammen, und erneut spürte sie eine Injektion in ihren Hals. Der Anzug musste registriert haben, dass sie dabei war, das Bewusstsein zu verlieren. Charlotte zwang ihre Augen auf und sah auf die Anzeige am Rand des Helmdisplays. Der Sauerstoffvorrat stand bei siebzehn Minuten. Sie blinzelte erneut. Zwei Minuten? Der Anzug hätte viel früher reagieren müssen. Irgendetwas lief hier gewaltig schief. »Audrey, kannst du jetzt Kontakt zu den anderen Schiffen herstellen?«

»Nein. Die Kommunikationskanäle sind noch immer gestört.«

»Ich rede nicht von der Bodenkontrolle. Ich will den Konvoi erreichen. Irgendjemanden!«

»Tut mir leid, Charlotte. Meine Daten legen Störungen durch eine Sonneneruption nahe. Du solltest dich beeilen. Das Risiko von Strahlenerkrankungen ist deutlich erhöht.«

Charlotte schnaubte. Als ob das der dringendste Grund ist, sich zu beeilen. Sie widerstand der Versuchung hinaufzusehen, sondern konzentrierte sich auf die ausgeblichene stumpfe Außenhaut des Containers unter ihren Stiefeln. Vorsichtig löste sie einen Fuß, setzte ihn vor sich und spürte, wie sich der Magnet wieder am Metall festsaugte. Dann der andere Fuß. Die konstante Beschleunigung des Schiffs vermittelte ihr das Gefühl, bergauf zu gehen und gegen einen spürbaren Gegenwind anzukämpfen. Fünfzehn Meter vom Ausstieg bis zum Ende des Containers. Fünf Meter bis zum nächsten Container lediglich auf einem schmalen Wartungssteg. Dreißig Meter über den Container, wieder fünf Meter, und so weiter. Eng, aber sie konnte es schaffen. Die Lücke zwischen den Containermodulen tauchte vor ihr auf, und auf einmal hatte Charlotte das Gefühl, sich auf eine dunkle Gletscherspalte zuzubewegen, über die frühere Tourengeher eine schmale Leiter gelegt hatten. Sie hatte das irgendwann in einer alten Dokumentation über Bergsteiger gesehen, aus der Zeit, als es in den Alpen noch Gletscher gegeben hatte und als man den Himalaja einfach so betreten durfte. Damals hatte sie sich gefragt, was Menschen zu derart verantwortungslosen Wagnissen veranlassen mochte. Jetzt wurde es ihr plötzlich klar. Es gab Situationen, in denen Stehenbleiben den Tod bedeutete. So einfach war das: Man blieb stehen und starb – oder man lief weiter und starb nur vielleicht.

Klack. Klack. Klack. Das monotone Klicken der sich lösenden und wieder anhaftenden Magnetstiefel war neben ihrem eigenen Atem das einzige Geräusch, das sie hier draußen begleitete. Es erinnerte sie an das Ticken eines Countdowns, der ihre letzten Atemzüge zählte. Der Steg tauchte vor ihr auf, schmaler und filigraner, als sie ihn in Erinnerung hatte. Unter ihr gähnte schwarz der Schlund zwischen den Lastmodulen, außerhalb des harten Lichts, das von der fernen Sonne kam. Der starke Strahler an der Seite ihres Helms machte die Schatten nur noch tiefer. Gefühlt brauchte sie eine Ewigkeit, bis sie die fünf Meter hinter sich gebracht hatte. Sobald sie den nächsten Container unter den Stiefeln hatte, beschleunigte sie ihr Tempo. Dreißig Meter. Fünf Meter. Dreißig Meter. Fünf Meter. Dreißig Meter, fünf Meter …

Inzwischen rannte sie. Die Hälfte der Strecke lag hinter ihr. Vor ihr ragte der klobige Verbund aus Tanks auf, der das hintere Ende des Zugschiffs markierte, und links und rechts daneben, weit außen, brannten die blauen Flammen der beiden gewaltigen Triebwerke, die die Olympia mit steter Beschleunigung in Richtung Erde trieben. Gleichzeitig schien es, als hänge ihr Schiff bewegungslos im leeren Raum. Bei aller Geschwindigkeit waren die Sterne viel zu weit weg, um sich vor ihren Augen auch nur um das Geringste zu verschieben, und so schien es, als laufe sie auf einem Feld in Richtung Schatten, so wie ein kleines Nagetier vor einem Räuber in Richtung seines Baus flüchtete.

Sie überquerte den letzten der Container so schnell, wie es ihre Stiefel erlaubten, stampfte über den letzten Steg und prallte beinahe gegen das verschlossene Schott. Die Sauer- stoffanzeige des Helmdisplays wies sechs Minuten aus. Mehr als genug Zeit.

Charlotte klappte ein Panel neben dem Schleusenring auf und gab den Entriegelungscode ein.

Nichts geschah.

»Schon wieder? Audrey? Kannst du dieses Schott öffnen?« Niemand antwortete.

Charlotte richtete sich auf, ihre Augen suchten das Display ab. »Audrey?«

Schweigen.

Sie betrachtete das rote Leuchten des Verriegelungsmechanismus. Das hier war nicht die einfache Schleuse eines Wegwerfcontainers, das hier war ein Schott zum Andocken von Hangarbrücken, groß genug, um Verladestapler hineinzufahren. Nichts, was man von außen einfach überbrücken konnte.

»Audrey, verdammt. Meldung!« Noch immer schwieg die AVA.

»Merde!«

Mit einem Blinzeln wählte sie den Schiffscomputer. »Olympia. Ich brauche Zugang zur Heckschleuse des Laderaums. Jetzt.«

»Zugang nicht gewährt. Bitte geben Sie Ihren Autorisierungscode ein.«

Die Stimme des Schiffs ließ Charlotte innehalten. Das war nicht die freundliche Stimme einer älteren Dame, nicht die Stimme, die Charlotte für ihren Bordcomputer eingestellt hatte. Das war die unpersönliche Stimme der Werkseinstel- lungen. »Was ist hier gerade los, Olympia?«

»Inkorrekt. Geben Sie bitte Ihren Autorisierungscode ein.« Charlotte biss die Zähne zusammen. »Autorisierungscode

2-7-3-2-2-9-5-1-4-2-3-7-7-9-1, Charlotte Darville.«

»Inkorrekt. Geben Sie den Autorisierungscode manuell ein.«

Was? Sie ging den Code im Kopf durch. Von wegen inkorrekt. Sie kannte ihn besser als ihre Sozialversicherungsnummer.

Fünf Minuten.

Sie klappte die Tastatur der Schleuse heraus und begann mit zitternden Fingern zu tippen. »Bestätigt.« Das Licht sprang auf Blau um.

Charlotte keuchte und bemerkte erst jetzt, dass sie die Luft angehalten hatte.

»Olympia, öffne die Schleuse.« Die beiden Schotttore glitten beiseite, gleichzeitig aktivierten sich die Lichter innerhalb der Kammer. Charlotte murmelte ein stummes Gebet und betrat ihr Schiff. »Außenschott schließen. Druckausgleich.«

Mit einem Rumpeln, das von ihren Fußsohlen her in ihren Anzug drang, schloss sich das Außentor wieder. Luft strömte ein, und eine große Anzeige an der Wand kletterte stetig, bis sie schließlich den vollständigen Druckausgleich verkündete. Charlotte ließ sich gegen die Wand sinken und schloss die Augen. Die Anzeige für den Sauerstoffvorrat ihres Anzugs hatte zu blinken begonnen. Drei Minuten. Das war zu knapp gewesen. Wirklich. Sobald sie den Mond erreicht hätten, würde sie irgendjemanden Verantwortlichen bei ADO Eurospace gründlich zusammenfalten. Dieses Schiff war offensichtlich ein einziger Schrotthaufen. Sie öffnete den ersten Verschluss am Halssiegel ihres Helms. Ein durchdringender Warnton ließ sie zusammenfahren. Sie riss die Augen auf. Das Helmdisplay wurde plötzlich von einer grellroten Warnmeldung dominiert. Lebensgefahr. Umgebung lebensfeindlich. Sofort Anzugversiegelung überprüfen. Was?

»Olympia, bestätige die Sicherheit der Schleusenatmosphäre.«

»Schleusenatmosphäre sicher«, entgegnete die computerisierte Stimme ihres Schiffs.

»Aber ich habe hier eine verdammte Umweltwarnmeldung!«

»Schleusenatmosphäre geprüft und sicher. Druck normal, Temperatur normal. Rückschluss: Fehlfunktionen in Anzugs- Messarray und Elektronik. Stellen Sie den VacSuit bitte umgehend vollständig zur Überprüfung zur Verfügung.«

Schrotthaufen. Charlotte schüttelte den Kopf. Sie öffnete den Helm, riss ihn vom Kopf, saugte tief die kühle Filterluft des Hauptladeraums ein. Und würgte. Instinktiv griff sie sich an den Hals. Ihre Lunge schien plötzlich mit Wasser gefüllt zu sein. So viel sie auch einatmete, sie bekam keine Luft. Mit einem entsetzten Laut presste sie den Atem wieder heraus, atmete erneut ein und hustete, weil es das Gefühl zu ersticken nur verstärkte. Fahrig hob sie den Helm, versuchte, ihn sich wieder über den Kopf zu stülpen und einrasten zu lassen, doch er glitt ihr aus den Handschuhen, fiel zu Boden und rollte einen Schritt weiter. Charlotte sackte auf die Knie. Sauerstoffmangel ließ ihre Ohren rauschen und begann bereits, die Ränder ihres Gesichtsfelds abzudunkeln. Panik wallte in ihr auf, und sie unterdrückte nur mit äußerster Mühe einen dritten Atemzug, als sie auf allen vieren vorwärtskroch, dem Helm hinterher. Ihre Lunge brannte, und ihr Puls hämmerte so heftig in ihrem Hals, dass in ihr erneut das Gefühl aufstieg, sich übergeben zu müssen. Dann bekam sie den Helm zu fassen, schob ihren Kopf hinein und ließ ihn einrasten. Zischend strömte Atemluft in ihren Anzug. Charlotte sog sie mit einem Schluchzen ein, hustete, atmete erneut durch und blieb keuchend liegen, bis sich ihr Puls wieder zu normalisieren begann. »Olympia! In der verdammten Schleuse fehlt Sauerstoff«, krächzte sie. »Öffne das innere Schott. Sofort!«

»Autorisierungscode erforderlich. Geben Sie bitte Ihren Autorisierungscode ein.«

Hilflose Wut stieg in Charlotte auf. »Du hast meinen verdammten Code bereits! Mach das Schott auf!«

»Autorisierungscode erloschen. Geben Sie bitte einen gültigen Autorisierungscode ein.«

»Was?« Charlotte starrte ungläubig auf den Terminalmonitor in der Wand über ihr, auf dem sich träge das Firmenlogo von ADO Eurospace drehte. »Was soll dieser Mist jetzt? Ich ersticke hier gleich!« Wie aufs Stichwort begann die Dreißig-Sekunden-Warnung in ihrem Helmdisplay zu blinken.

»Ihre Codes wurden wegen nicht autorisierten Zugriffs auf Frachtbehälterschotts deaktiviert. Setzen Sie sich bitte umgehend mit der Flugkontrolle in Verbindung.«

Charlotte fluchte. »Gib mir die Flugkontrolle! Sofort!«

»Kommunikation mit Flugkontrolle zurzeit nicht möglich. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal.«

»Fick dich!« Hastig zerrte sie einen Versorgungsschlauch aus der Bauchtasche und stöpselte ihn direkt in eines der Sauerstoffventile in der Kammerwand. Das erwartete Zischen blieb aus. »Unautorisierter Zugriff«, erklärte ihr das Schiff.

»Audrey! Verdammt, Audrey, öffne das verdammte Ventil!« Panik schnürte ihr den Hals zu.

»Ihre persönliche AVA wurde wegen missbräuchlichen Zugriffs vorübergehend deaktiviert«, stellte das Schiff fest. »Setzen Sie sich bitte umgehend mit der NOAH-Sicherheit in Verbindung.«

Die Vorratsanzeige von Charlottes Anzug sprang auf null, und plötzlich überkam die junge Französin eine unerwartete Ruhe. Sie atmete tief ein und trat an das winzige Bullauge in der Mitte des Außenschotts.

Die Pracht eines Sternenhimmels, den auf der Erde so noch niemand mit bloßem Auge gesehen hatte, blickte teilnahmslos zurück. Für einen langen Moment sah sie schweigend hinaus.

Das All mochte unendlich sein. Doch sie war so weit gelaufen, wie sie konnte, und trotzdem kam für jeden unweigerlich einmal der Punkt, an dem man nicht mehr weiterkam. An dem es keinen Punkt gab, zu dem man noch fliehen konnte. Irgendwann machte es keinen Unterschied mehr, ob man lief oder stehen blieb.

Man sagte, dass die Wege auf die Gipfel des Himalaja mit Toten markiert waren. Vielleicht musste das so sein. Vielleicht mussten auch die Wege zu den Sternen mit Toten markiert werden. Sie atmete aus und wieder ein. Benommenheit machte sich in ihr breit. Kohlendioxid. Das Einzige, was in ihrem Anzug noch kreisen konnte. Es fiel ihr erstaunlich leicht, das Warnsignal zu ignorieren.

Vermutlich wurde sie jetzt zu einer dieser Wegmarken auf dem Zug der Menschen hinaus ins All. Das war nicht der Plan gewesen – aber was lief im Leben schon jemals nach Plan?

Sie atmete erneut ein, und die Dunkelheit schloss sich über ihr, als sie zusammensackte. Ein paar Warnmeldungen flackerten noch für einige Zeit hektisch über ihr Helmdisplay, bis nach einer Weile der letzte Warnton verstummte.

Irgendwann erlosch das Licht in der Schleusenkammer wieder.

 

T.S. Orgel: „Terra“ ∙ Roman ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 ∙ 512 Seiten ∙ Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

 

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