20. Januar 2019 1 Likes

Von der Sinnlosigkeit der Mehrbegabung

Robert Silverberg schildert in „Es stirbt in mir“ die Krise eines Telepathen

Lesezeit: 3 min.

Die Möglichkeit von Telepathie gehört von Anfang an zu den herausragenden Gedankenspielen der Science-Fiction und hat großartige Bücher wie etwa „Slan“ (1940/1946) von A. E. van Vogt oder Alfred Besters Hugo-Gewinner „The Demolished Man“ von 1951 (deutsch als: „Demolition“) hervorgebracht. Spätestens 1972 war die Zeit für Helden jedoch vorüber, weshalb Robert Silverberg in „Dying Inside“ („Es stirbt in mir“, im Shop) eine Figur schildert, die mit der Fähigkeit des Gedankenlesens nicht nur wenig Sinnvolles anzufangen weiß, sondern dann auch noch bemerken muss, dass sie diese Eigenschaft allmählich verliert.

Robert Silverberg: Es stirbt in mir„In seinen akut ausgeprägten Dostojewkijschen Momenten war David Selig eher geneigt, seine Gabe als einen Fluch zu empfinden als eine harte Strafe für irgendeine unvorstellbare Sünde.“ Schon seit seiner Kindheit ist ihm klar, ein Telepath zu sein, und jetzt, mit Anfang vierzig, hat er noch immer nichts aus seiner Fähigkeit gemacht. David Selig lebt im New York der 1970er Jahre und verdient sein Geld damit, desinteressierten oder schlicht unfähigen Studenten Seminararbeiten zu schreiben, die er ihnen dann für wenig Geld verkauft. Zu mehr hat er es nicht gebracht, obwohl ihm seine Gabe eine beträchtliche Überlegenheit verleiht. Letztlich aber nutzt er sie nur für gelegentliche Sexabenteuer und flüchtige Überlegenheitsgefühle, wenn es ihm gelingt, aufschlussreiche Details aus den Gedanken seines Gegenübers zu ziehen – auch wenn diese oft wenig schmeichelhaft für ihn ausfallen. Seine dauerhaften Beziehungen scheitern durchgehend. Zwar hat sich das Verhältnis zu seiner Schwester, die instinktiv um Davids Fähigkeit weiß, weitgehend stabilisiert. Aber von seiner Freundin ist er verlassen worden, nachdem er sich im Zusammenhang mit einem LSD-basierten Horrortrip unabsichtlich selbst verraten hat. Zudem gibt es einen Konflikt mit einem aggressiv auftretenden Studenten, der mit Davids Arbeit nicht zufrieden ist. Doch nun weicht die Gabe. Sie verschwindet langsam, weshalb es David immer schwerer fällt, anderer Menschen Gedanken zu lesen. Sollte sie eines Tages ganz verschwinden – und wenn ja, wäre das überhaupt von Nachteil?

„Es stirbt in mir“ ist – wie fast alle Bücher aus Silverbergs „kritischer Phase“, die laut Uwe Anton von 1967 bis 1976 dauerte – ein ungewöhnliches und ambitioniertes Buch, das Genregrenzen verschiebt. Dies beginnt bereits damit, dass es sich nicht um eine Heldengeschichte handelt, sondern eher um ihr genaues Gegenteil. Anders als in dem kurz darauf erschienenen Roman „The Stochastic Man“ („Der Seher“, im Shop) sieht sich die Hauptfigur nämlich nicht in der Lage, ihre besondere Fähigkeit in einen Vorteil zu verwandeln, und sei es auch nur, um sich selbst Gewinn zu verschaffen. Ja, anders als bei einem Bekannten, der ebenfalls Telepath ist und diese Gabe erheblich besser einzusetzen versteht, scheint es beinahe so, als wäre es David unangenehm, ein „Mehrbegabter“ zu sein. Trotzdem empfindet er das allmähliche Verschwinden seines Talents als Verlust, obwohl ihm hieraus auch die Chance erwächst, endlich „Gleicher unter Gleichen“ zu sein und wie ein regulärer Mensch leben zu können.

„Es stirbt in mir“ ist in erster Linie ein ausdifferenziertes Charakterporträt, in dem allerdings auch die Zeit der 1970er Jahre mit ihren Freiheiten und ihren Untiefen mitschwingt; die anhaltende sexuelle Revolution umfasst dabei beide Bereiche. Urbane Vereinzelung und Außenseitertum sind ebenfalls Themen des Buchs, das sich allerdings primär als Gleichnis auf Fähigkeiten lesen lässt, die – etwa altersbedingt – unaufhaltsam verschwinden. Hierin erinnert es an das Meisterwerk „Flowers for Algernon“ (1959/1966; deutsch als „Blumen für Algernon“ bzw. „Charlie“) von Daniel Keyes, bei dem die Hochbegabung allerdings künstlich erzeugt wird. David Selig ist zudem ein Antiheld wie etwa Jonathan in „Herovit‘s World“ (1973; „Herovits Welt“) des fast völlig vergessenen Barry N. Malzberg. Mit diesem teilt „Es stirbt in mir“ das Thema der Kreativität, die vielleicht jene Begabung ist, an die Silverberg bei der Niederschrift in erster Linie gedacht haben mag.

Ein weniger talentierter Schriftsteller hätte aus diesem Stoff einen larmoyanten Sechshundertseiter gemacht, doch der an Genreökonomie geschulte Silverberg fasst sich nicht nur erheblich kürzer, er arbeitet zudem mit allen zur Verfügung stehenden Tricks (wie Perspektivwechseln und Rückblenden), um den im Grunde unauffälligen Plot zu einer ebenso kompakten wie faszinierenden Lektüre zu machen. Dass sich am Ende für David Selig ein Weg aus der Misere aufzeigt, soll hier nicht verschwiegen werden. Ohne das Erlöschen seiner Gabe ist dieser jedoch nicht zu beschreiten.
 

Robert Silverberg: Es stirbt in mir • Originaltitel: Dying Inside • Roman • Aus dem Amerikanischen von Gisela Stege • Heyne, München 2014 • E-Book: € 3,99 (im Shop

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