7. Mai 2019 5 Likes

„Wir gehen einer Welt des Vergessens entgegen.“

Im Gespräch mit Sebastian Pirling über seinen Roman „Der Planet der verbotenen Erinnerungen“

Lesezeit: 8 min.

Im März erschien „Der Planet der verbotenen Erinnerungen“, der erste Roman von Heyne SF-Lektor und diezukunft-Kollege Sebastian Pirling im Brendow Verlag. Darin schickt er den Gedankendesigner Benjamin G. Sacharow auf eine Forschungsreise zum weit entfernten Planeten Makoto, was für die Menschen der Zukunft keine große Sache ist. Denn sie haben sich ziemlich weiterentwickelt; Religionen, Erinnerungen und Träume hat man auf dem Weg zu den Sternen gleich ganz abgelegt, dafür den Körper ziemlich aufgepimpt. Doch auf Makoto soll es eine geheime Gemeinschaft geben, die verbotene Rituale praktiziert. Und als Benjamin die fremde Welt erreicht, lernt er dort Menschen kennen, die dem Göttlichen auf der Spur sind, das es eigentlich gar nicht (mehr) geben dürfte.

Für „Der Planet der verbotenen Erinnerungen“ hat Sebastian 2017 den C.S. Lewis-Preis gewonnen, der mit einem Veröffentlichungsvertrag prämiert wird. Wir haben uns mit ihm zusammengesetzt, um über das Buch zu sprechen.

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Du arbeitest als Lektor für den Heyne-Verlag, hast also den ganzen Tag mit Texten zu tun. Hat man da am Abend nicht die Nase voll von Buchstaben und SF?

Ganz ehrlich? Nein. Ich kann gar nicht zu viel von Büchern haben, und das ist schon mein ganzes Leben so. Ich habe immer und überall gelesen, sehr zum Kummer meiner Eltern. Es kam vor, dass ich wegen irgendeiner Sache in den Keller geschickt wurde und dann einfach nicht zurückkam – weil ich da unten bei einem Buch in einer alten Bücherkiste hängengeblieben bin und mich festgelesen habe. Deshalb war Leseverbot auch die bevorzugte Disziplinarmaßnahme meiner Kindheit. Jetzt also tagtäglich mit Büchern arbeiten zu können fühlt sich für mich immer noch so an, als hätte jemand nicht aufgepasst und den Bock zum Gärtner gemacht.

Wieso eigentlich SF? War dieses Lektorat Ziel, Wunsch, Traum, Zufall?

An dieser Stelle kommt C. S. Lewis ins Spiel. Dass mir die Fantastik so viel bedeutet, hat unter anderem mit einer Blinddarmoperation zu tun, der ich mich mit sieben Jahren unterziehen musste. Wir machten Urlaub in Ungarn am Balaton, und die Woche war fast vorbei, als mein Appendix schlappmachte und ich in Siófok operiert werden musste. Als Trost ließen die Freunde, mit denen wir am Plattensee waren, mir zwei Narnia-Romane von C. S. Lewis da. Seitdem hat mich die Faszination für Mythen, für Fantasy und Science-Fiction nie mehr losgelassen. Als ich dann im Rahmen meines Anglistikstudiums in Liverpool an der dortigen Science Fiction Library studierte, bekam ich nicht nur einen schönen Überblick über das Genre, sondern auch große Lust, darin zu arbeiten. Ein Praktikum bei Panini Comics, diverse Jobs als Übersetzer, Layouter und Redakteur später bin ich dann ganz klassisch über eine Stellenausschreibung im Börsenblatt bei Heyne gelandet. Ein Traumjob, nach wie vor.

Wenn man den ganzen Tag mit SF-Literatur zu tun hat, was ist da die Motivation, es selbst zu versuchen? „Das kann ich auch“ oder „Das was ich lesen möchte, gibt es nicht, also schreibe ich es selbst?“

Weder noch. Ich hatte als Lektor schon immer große Hochachtung vor Menschen, die einfach mal so dreihundert, vierhundert, siebenhundert Seiten Text aufs Papier zimmern. Das ist ja wirklich eine „Erschaffung aus dem Nichts“. Die Hochachtung davor hat sich nur noch verstärkt. Der Unterschied zwischen einer Story und einem Roman ist wie der zwischen einem 800-Meter-Lauf und einem Marathon. Was meine eigene Romanidee angeht, dafür hat sich Science-Fiction als Experimentierfeld tatsächlich angeboten. Wie sähe ein Glaube an Gott in einer völlig von Religion befreiten Welt aus? Das hat definitiv etwas Utopisches (oder Dystopisches, je nach Perspektive). Dazu kommt, dass der Preis, für den ich das Exposé eingereicht hatte, ausdrücklich nach Fantasy oder Science-Fiction verlangt hat.

Du meinst den C.S. Lewis-Preis. Wie bekommt man diesen Preis?

Der Brendow Verlag, neben Ueberreuter die Heimat der Narnia- und Perelandra-Romane, schreibt ihn jedes Jahr aus. Man kann ein Romankonzept mit Leseprobe einreichen, das sich – nach Lewis’ Vorbild – mit den Mitteln der Fantastik mit dem christlichen Glauben auseinandersetzt. Die Idee für meine Geschichte schwirrte mir schon lange im Kopf herum. Einen Monat vor Abgabefrist habe ich dann alles einmal zusammengeschrieben und hingeschickt. Dass ich dann nicht nur in der Endrunde gelandet bin, sondern sogar für den Preis ausgewählt wurde, hat mich völlig überrumpelt.

Es bedeutet mir tatsächlich sehr viel, einen Preis mit diesem Namen verliehen bekommen zu haben. Ich bin in einem streng konservativen evangelikalen Umfeld aufgewachsen. Lewis war mit seinen Romanen und Essays der erste Autor, der nicht nur frischen Wind in meine Sicht auf die Welt und meinen eigenen Glauben gebracht hat. Er hat mich auch gelehrt, dass man vor kritischen Fragen, vor dem Zweifeln und vor dem literarischen Genuss an antiken Texten keine Angst haben muss. Diese innere Freiheit, Denkgebäude und religiöse Traditionen infrage stellen zu können, ohne sich dabei selbst zu verlieren, verdanke ich C. S. Lewis.

„Der Planet der verbotenen Erinnerungen“ schildert eine Zukunft, in der die Menschen sich aufgepimpt, aber sehr elementare Dinge vergessen bzw. verdrängt haben. Aber auf der Welt, die der Protagonist besucht, stellen ein paar „Radikale“ eben diese Lebensweise infrage. Wie weit hergeholt ist diese Zukunftswelt?

Nun, ich glaube tatsächlich, dass wir einer Welt des Vergessens entgegengehen. Oder vielleicht sollte ich besser sagen: einer Welt des Erinnerungsverlusts. Wenn man sich umschaut, kann man live beobachten, wie jeder Aspekt unserer Welt zunehmend in Daten verwandelt wird. Das ist ein gewaltiger Paradigmenwechsel. An die Stelle einer direkten Mensch-Welt-Beziehung rückt ein indirekter Mensch-Daten-Bezug, der nur noch über Geräte, also über irgendeine Form von technischem Interface vermittelt wird. Den Beziehungsverlust, also den Verlust der Fähigkeit zu Beziehung überhaupt, der damit einhergeht, den erleben wir gerade landauf, landab. Ich empfehle, Byung-Chul Hans Buch „Psychopolitik“ zu lesen, darin rechnet er mit dem neoliberalen Evangelium von Big Data ab. „Daten sind zählbar, aber nicht erzählbar“, sagt er, denn die Mechanik des Datenstroms ist der Kraft der Erinnerung diametral entgegengesetzt. Und was ist Erinnerung, wenn nicht eine Erzählung von uns selbst? Davon wollte ich erzählen.

SF trägt die Wissenschaft schon im Namen, daher ist es vielleicht kein Wunder, dass Religion eher eine untergeordnete Rolle in diesem Genre spielt. In „Der Planet der verbotenen Erinnerungen“ ist sie aber das große Thema. Deine Figuren müssen sie erst (wieder) entdecken. Der Roman ist natürlich ein Spiegel der Gegenwart. Ist denn etwas verloren gegangen?

Das ist in gewisser Weise sehr autobiografisch. Das, was bei mir verloren gegangen ist, könnte man wohl den „Kinderglauben“ nennen. Also ein Glaube nicht so sehr an Gott selbst, sondern vielmehr eine Gewissheit, in einem religiösen Kontext geborgen zu sein. Immer auf alles fertige Antworten bekommen zu können. Aber je mehr mir bewusst wurde, wie christliche Kirchen sich eben jene neoliberale Mechanik der Selbsttäuschung und Selbstausbeutung zu eigen gemacht haben, die Han beschreibt, und je stärker mir als Erwachsenem der damit einhergehende Beziehungsverlust auffiel – die Schwierigkeiten, Freunde zu finden, die Ängste vor feministischen und religionskritischen Fragen und damit letztlich vor den Menschen, die diese Fragen stellen –, umso mehr hat mir das geholfen, mich kritisch mit der evangelikalen Szene auseinanderzusetzen. Dietrich Bonhoeffer als Aktivist und Denker ist mir dabei ein großes Vorbild. Sein Traum von einem „religionslosen Christentum“, wie er es nennt, hat mich beim Schreiben immer begleitet.

Es gibt einen Zwiespalt zwischen organisierter Religion und dem Glauben an etwas Göttliches. Auf „Kirche“ sind (in unserem Land) viele eher weniger gut zu sprechen. Aber kommt man aufs „Göttliche“ sind die Leute weit vorsichtiger. In deinem Roman spielt das nicht direkt eine Rolle, schwingt aber mit …

Das erlebe ich auch so. Dieses Unbehagen an den Kirchen als Institution ist ja nicht unbedingt etwas Schlechtes, im Gegenteil. Es gibt meiner Meinung nach immer noch viel zu wenig innerkirchliche Religionskritik. Ich habe vor drei Jahren vor Ostern einmal ein Selbstexperiment namens „40 Tage Gott fasten“ gemacht. Dabei habe ich, anstatt auf Alkohol, Nutella oder Nikotin zu verzichten, mich stattdessen mit Religionskritikern jeglicher Couleur auseinandergesetzt, um herauszufinden, was ihre Kritik mir als Glaubendem zu sagen hat. Es war teilweise unangenehm, denn ein Ludwig Feuerbach oder ein Bertrand Russell etwa sind keine naiven Stänkerer, sondern brillante Köpfe, die den Finger schonungslos in die Wunden der Glaubensinstitutionen legen. Aber es war auch heilsam – weil ich gemerkt habe, dass ich manche Gewissheiten aufgeben kann, während mir andere Ideale und Überzeugungen umso klarer werden. Könnte es sein, dass in den Kirchen immer noch zu viele Antworten gegeben und zu wenig Fragen zugelassen werden?

SF ist seit Jahren sehr „groß“ und zwar in so ziemlich allen Medien. Es ist auch keine komische Genre-Schmuddelecke mehr, dafür werden auch viel zu relevante Themen verhandelt. Woran liegt das?

Darüber wird immer wieder heiß debattiert, zum Beispiel erst kürzlich wieder auf dem PAN-Branchentreffen der Fantastik. Ich selbst kann nur vermuten, dass ein Grund für diese Offenheit gegenüber den Erzähltechniken der Science-Fiction sicherlich die fortschreitende kulturelle Sättigung damit ist. Nicht jeder Mensch, der den letzten Avengers-Film gesehen hat, wird sich als Genrefan bezeichnen. Aber die Hemmschwelle gegenüber den Topoi und Konventionen der Science-Fiction sinkt. Ein anderer Grund ist sicherlich, dass unsere Alltagstechnologie bereits einen Grad der Distanz zu uns erreicht hat, die schon an das Fiktionale heranreicht. Niemand kann ein Smartphone reparieren, wir können es nur noch benutzen. Seine Funktionen aber sind hinter seiner Oberfläche verborgen – und das ist fast dasselbe, als wenn wir einen Kommunikator als fiktionales Gerät gezeigt bekommen. Unsere Gegenwart ist nicht mehr Zukunft als früher, aber sie ist vielleicht „futuristischer“ geworden.

Welche Autoren würdest du als Einfluss oder Vorbild für dich bezeichnen? Gab es prägende Erfahrungen?

Das ist eine Fangfrage, klar, denn sobald man Namen anderer Autoren nennt, wird man auch an ihren Werken gemessen. Aber ich mache mir da keine Sorgen, denn die, von denen ich lerne, so oft ich sie lese, sind so weit oben auf dem Olymp der Literatur, dass ich im Vergleich zu ihnen gern schlechter abschneide. Über C. S. Lewis habe ich schon gesprochen, und über Dietrich Bonhoeffer und Byung-Chul Han auch. Ursula K. Le Guin begeistert mich immer wieder mit ihrer unaufgeregten, aber poetisch fein gemeißelten Prosa und ihren komplexen Figuren. Hayao Miyazakis Prinzessin Mononoke hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen, und wenn ich es irgendwann einmal schaffe, eine Hauptfigur zu schreiben, die tatsächlich „die Welt mit unverstelltem Blick“ sieht, wie es in dem Film heißt, dann würde mich das sehr glücklich machen. Helen MacDonalds „H wie Habicht“ ist eins der besten Bücher über Trauer und Leid, über Natur und Naturbetrachtung, über Neuanfänge und über die Wirkung von Literatur im Leben. Ich könnte jetzt immer so weiter machen, aber eine Empfehlung noch zum Schluss. Ein Buch hat mich beim Schreiben ganz besonders geprägt: „Ich und Du“ von Martin Buber, eine poetische Philosophie der Beziehung. Große Leseempfehlung!

Wie geht es nach „Der Planet der verbotenen Erinnerungen“ weiter? Wird es eine Fortsetzung geben? Einen neuen Roman?

Na ja, wenn man einmal auf den Geschmack gekommen ist … Eine direkte Fortsetzung wird es nicht geben, dazu ist die Geschichte abgeschlossen genug. Aber ich habe noch Ideen für ein paar Erzählungen, die in der Welt des Romans spielen. Mal sehen, wann ich wieder zum Schreiben komme.

Sebastian Pirling: Der Planet der verbotenen Erinnerungen • Moers 2019, Brendow Verlag • 352 Seiten • 16,– €

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