27. März 2020 3 Likes

Des ersten Kaisers liebstes Spiel

Eine Science-Fiction-Story aus „Zerbrochene Sterne“, herausgegeben von Ken Liu

Lesezeit: 14 min.

„Mögest du in interessanten Zeiten leben!“ So lautet eine alte chinesische Verwünschung, und sehr viel interessanter als jetzt können die Zeiten kaum werden. Da trifft es sich, dass gerade die deutsche Übersetzung von „Zerbrochene Sterne“, Ken Lius Anthologie mit sechzehn Science-Fiction-Kurzgeschichten (im Shop), herausgekommen ist – und zu dem Christian Endres den Herausgeber kürzlich interviewt hat.

Ken Liu (Hrsg.): Zerbrochene SterneUm Ihnen ein wenig die Zeit zu vertreiben (und sie auf etwas angenehmere Weise „interessant“ zu machen), stellen wir Ihnen eine ganze Story daraus kostenlos zur Verfügung: „Des ersten Kaisers liebstes Spiel“ von Ma Boyong.

Über diesen Autor schreibt Ken Liu:

Ma Boyong ist ein äußerst produktiver und beliebter Science-Fiction-Autor, Essayist, Dozent, Internetkommentator und Blogger. Sein Werk vermischt Alternativweltgeschichte, den historischen Roman, Wuxia-Kampfkunstromane und Magischen Realismus mit traditionellen Science-Fiction- und Fantasy-Elementen. Mas pointierte, humorvolle, gelehrte und an Anspielungen reiche Prosa stellt auf überraschende und unterhaltsame Weise traditionelle Elemente der chinesischen Kultur und Geschichte gegenwärtigen Entwicklungen gegenüber. Ohne umfassendes Wissen über die chinesische Internetkultur sowie die frühe Geschichte des Landes ist der Humor allerdings kaum zu verstehen – es wird daher der rege Gebrauch eines Lexikons empfohlen.

 

Des ersten Kaisers liebstes Spiel

Aus dem Chinesischen von Karin Betz

 

»China ist einiges Reich. Endlich Zeit zum Chillen. Ich will Spiele!«

Fröhlich verkündete Qin Shihuang auf seinem Thron in der Hauptstadt Xianyang sein erstes Edikt als neuer Kaiser.

Hand aufs Herz: ein verständlicher Wunsch. Nach der anstrengenden Eroberung von sechs Staaten hatte der ruhmreiche erste Kaiser von China sofort zahlreiche landesweite Reformen bewerkstelligt: Die Vereinheitlichung der Schrift, die Vereinheitlichung der Wagenspur und Straßenbreite, die Einführung gleicher Maß- und Gewichtseinheiten und schließlich ein verbindliches Unicode-System für Computertext. Dank dieser nützlichen Reform konnte das Volk im ganzen Reich ohne jede Hilfssoftware neue Programme installieren, ohne unverständlichen Zeichensalat zu erhalten. Zu seinen wichtigsten ersten Amtshandlungen gehörte außerdem der Bau der Großen Firewall im Norden, um sein Reich vor den Cyberattacken und der nervigen Pop-up-Werbung der Barbarenvölker zu schützen.

Diesen kräftezehrenden Maßnahmen hatte der Kaiser die wertvollen Jahre seiner Jugend geopfert. Jetzt, da endlich Frieden im Reich herrschte, war es an der Zeit, sich eine Ruhepause zu gönnen, in der er auch einmal ganze Tage zockend vor dem Computer abhängen wollte wie jeder andere auch.

Die Nachricht, dass der Kaiser ein Gamer werden wollte, verbreitete sich wie ein Lauffeuer im ganzen Land und wurde zum Topthema an allen Stammtischen. Die meisten Leute begrüßten die Neuigkeit. Ein Herrscher, der sich auf Computerspiele verstand, musste etwas auf dem Kasten haben. Angeblich hatte schon Zhang Yi, der Chefstratege des Reichseinigers, seine legendäre Methode, um Missgunst und Misstrauen unter den sechs Gegnern des Qin-Reichs zu säen und ihre »vertikale Allianz« zu unterminieren, dem Spiel Alliance Destroyer abgeschaut. Zhang Yi hatte als Student, statt sich dem Auswendiglernen der konfuzianischen Klassiker zu widmen, den ganzen Tag Computerspiele gespielt – er war der beste Beweis dafür, wie weit man es damit bringen konnte. Ein echter Zocker war offensichtlich auch ein versierter Staatslenker.

Unter dem Hofadel herrschte dagegen keine ungeteilte Freude über dieses Vorhaben. Computerspiele waren schließlich ein eher armseliges, süchtig machendes Vergnügen für den Plebs, von dem ein Kaiser gebührlichen Abstand nehmen sollte. Sie schlugen vor, den Kaiser durch eine Elektroschocktherapie von der Sucht nach dem digitalen Opium zu heilen – mit dem Ergebnis, dass der Kaiser mit seinem berühmten Edikt »Den Attentätern keine Chance« unter dem Hofstaat aufräumte und zahlreiche Köpfe rollten.

Die lebhaftesten Debatten allerdings löste Qin Shihuangs Ankündigung unter den Gelehrten der Hundert Schulen aus. Das waren echte Nerds, die den Kaiser ständig mit neuen Ideen für gute Regierungspraxis nervten. Sie ahnten die Tragweite seines Vorhabens, schließlich war Qin Shihuang Herr über alles unter dem Himmel, und die Wahl seiner Spiele hätte unweigerlich Auswirkungen auf die Philosophie seiner Regentschaft. Die Gunst der Stunde gab den Gelehrten eine Handhabe, unter dem Deckmantel unterhaltsamer Spiele politischen Einfluss zu nehmen. Der Kaiser musste einfach nur süchtig nach einem von den Philosophen programmierten Spiel werden, und schon würden seine Vorstellungen zur Reform der Gesellschaft ihren weisen Ideen entsprechen.

Die Hauptstadt Xianyang füllte sich daraufhin mit Computernerds, zahlreichen Start-ups und ihren Vorzeigeprodukten. Hundert Schulen wetteiferten um die Gunst des Kaisers und hofften auf einen kometenhaften Aufstieg.

Als Erste traten die Legalisten auf den Plan. Diese hatten nun das unverschämte Glück, dass ihr wichtigster Vordenker Li Si längst Minister am kaiserlichen Hof war. Schon einen Tag nach der Verkündung des kaiserlichen Edikts bat Li Si um eine Audienz und näherte sich, mit einer DVD unter seiner Robe, mit zahlreichen Verbeugungen dem Thron.

»Was hat mein geliebter Minister mir Schönes mitgebracht?« Der Kaiser hatte sich gestattet, ihn im Jogginganzug zu empfangen, um keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass er zum Chillen entschlossen war.

»Es heißt Civilization.«

Kniend überreicht ihm Li Si mit beiden Händen die selbstgebrannte DVD, auf die er wegen der gebotenen Eile eigenhändig in perfekter Siegelschrift mit einem Permanentmarker den Titel kalligrafiert hatte. Der Kaiser winkte einen Diener herbei, der die DVD in das Laufwerk seines mit goldenen Drachen verzierten Computers einlegte. Während der Computer zu lesen begann, stellte ein zweiter Diener umsichtig eine Schale mit Räucherstäbchen neben den Ventilator des Geräts. Feiner Duft durchzog den ganzen Palast.

Ein dritter Diener bediente die Maus und begann mit der Installation. Der ganze Hofstaat hielt gespannt den Atem an. In der Halle war nur noch das Summen des Computerventilators zu hören.

Fünf Minuten später war die Installation abgeschlossen, und ein vierter Diener servierte dem Kaiser auf einem Sandelholztablett ein drahtloses Keyboard und eine Maus. Zuletzt kniete sich ein fünfter Diener in einer Robe mit besten Gleiteigenschaften für die kaiserliche Computermaus hin und bot dem Thron seinen breiten Rücken dar.

»Dies ist ein ganz legalistisches Computerspiel«, erklärte Li Si in feierlichem Ton. »Der Spieler nimmt die Rolle eines Staatslenkers an und regiert mit rücksichtsloser Grausamkeit. Der Wille aller NPCs entspricht dabei dem Willen Eurer Majestät.«

»Mega!«, sagte der Kaiser, schnappte sich die Maus und legte los.

Anfangs lief alles bestens. Qin Shihuang spielte als Qin Shihuang, dehnte seinen Machtbereich schnell von einer Stadt auf eine ganze Region aus und riss sich im Handumdrehen die Pyramiden und andere Weltwunder unter den Nagel. Die Große Mauer hätte er sich sparen können, aber da er nun schon einmal dabei war, nahm er sie auch mit.

Danach ging das Gemetzel weiter. Die chinesische Zivilisation des Qin Shihuang war ziemlich kriegslüstern. Unter dem Motto »Die Welt gehört mir« musste er jede Stadt auf der Landkarte unter seine Kontrolle bringen, investierte deshalb schon von der Steinzeit an in die Aufrüstung und führte einen Krieg nach dem andern. Das Spiel war ganz nach seinem Geschmack, denn es erinnerte ihn an seine eigenen glorreichen Feldzüge.

Es dauerte aber nicht lange, bis er des Spiels überdrüssig war. Als Ergebnis seiner militärischen Aggression war er inzwischen mit sämtlichen anderen Zivilisationen verfeindet. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als alle Mittel für Militärbarracken und Waffen auszugeben. Das führte zu Aufständen in den von ihm eroberten Städten, die die hohen Steuern und die Not durch Kriege nicht mehr ertragen wollten. Nun hatte er ein Reich voller Rebellen am Hals.

»Euer Majestät.« Li Si mischte sich hüstelnd in den Spielverlauf ein. »Wenn ich mir eine kleine Hilfestellung erlauben dürfte: Wie wäre es, die Zufriedenheit des Volks durch ein paar nette Freizeiteinrichtungen zu sichern?«

Aber Qin Shihuang wollte davon nichts hören. Wer war hier der Kaiser? Er spielte schließlich zu seinem eigenen Vergnügen, und nicht, um sich den Kopf über die Zufriedenheit des gemeinen Volks zu zerbrechen.

»Es ist am Volk, den Kaiser zu unterhalten, nicht umgekehrt.« Mit diesen Worten setzte er das Spielbudget für Volksvergnügen auf null und verbriet kurzerhand die Bevölkerung einer ganzen Stadt für den Bau neuer Katapulte. »Die sollten froh sein, für ihr Vaterland geopfert zu werden!«

Wie nicht anders zu erwarten, brach sein Reich aufgrund zu vieler Rebellionen und Invasionen zusammen, und er verlor die Partie. Wütend schloss er das Spiel und schlug seine Maus so heftig auf, dass der Mousepad-Diener vor Furcht zitterte.

Li Si war vorausschauend genug gewesen, um bei dieser Version von Civilization den Parameter für das Spielerranking im historischen Vergleich zu entfernen. Sonst hätte das Ergebnis wohl nicht nur für Civilizationdas Aus bedeutet.

Der Minister fühlte sich unschuldig. Wer hätte geglaubt, dass der Kaiser sich nicht mit dem Spielermodus »Kaiser« zufriedengeben, sondern ohne Zögern »Gott« wählen würde. Das habe nicht einmal ich erwartet, dachte er, als er sich, mit kaltem Schweiß auf der Stirn, eilig zurückzog.

Als nächster Gelehrter machte ein Vertreter des Konfuzianismus dem Kaiser seine Aufwartung. Real Humanshieß das Spiel, dass der Mann namens Kong Fu dem Kaiser mitgebracht hatte. »Das Programm geht noch auf die Zhou-Dynastie zurück, und wir sind die Einzigen, die es wiederbeleben konnten«, sagte er stolz. Die Konfuzianer bildeten sich ziemlich viel darauf ein, als Einzige Zugang zum unbeschädigten Quellcode der Zhou- Dynastie zu haben.

»Wie spielt man das?«, fragte der Kaiser, der sich nur mäßig für die Zhou-Zeit interessierte. Aber vielleicht war mit dem Spiel etwas anzufangen.

»Euer Majestät müssten zuerst einen Spieler schaffen, den Ihr in eine künstliche Welt versetzt. Dort muss er seinem Leben einen Sinn geben, indem er die Riten des Konfuzianismus befolgt, das heißt zum Beispiel, Euren Nachbarn häufig Besuch abzustatten, damit sie Euch gegenüber freundlich gesinnt werden. Wie sagte doch gleich der weise Menzius: ›Für meine Eltern sorgen und den Eltern der andern das Gleiche tun, für meine Kinder sorgen und den Kindern der andern das Gleiche tun‹. Ziel dieses Spiels ist die Stärkung sozialer Interaktion …«, dozierte Kong Fu.

Den Kaiser ödete schon die Erklärung an. Wäre er nicht gerade im Freizeitmodus und gut aufgelegt gewesen, hätte er diesen Pedanten längst von den Wachen abführen lassen. Hoffentlich war das Spiel selbst weniger langweilig als die Anleitung.

Endlich gab der Alte die Maus aus der Hand, und Qin Shihuang konnte loslegen. Als Erstes wollte er einen Swimmingpool anlegen lassen, aber das Spiel meldete: »insufficient ressources«.

»Das soll wohl ein Witz sein«, brummte er. »Mir gehört doch schließlich das ganze Reich, wie kann ich da nicht genug übrig haben, um ein Loch zu buddeln?«

»Ein wahrer Herrscher ist ein Vorbild für seine Untertanen, er verschwendet nicht und schützt den Staat vor dem Bankrott«, leierte Kong Fu herunter.

Stirnrunzelnd spielte Qin Shihuang weiter. Ich hätte besser längst ein großes Loch gegraben und dich und deine Konsorten darin entsorgt, dachte er.

Kurze Zeit später hatte er die nächste Frage. »Warum kommen meine Nachbarn nicht mit Geschenken, um mir die Ehre zu erweisen?«

»Man soll regen Austausch mit den Nachbarn pflegen, Euer Majestät, ihnen oft Geschenke machen und sie gnädig stimmen. Erst dann werden Sie Eure Güte erwidern«, wagte Kong Fu zu erläutern. »Wie sagte doch der heilige Konfuzius: ›Menschlichkeit und Respekt …‹«

»Schwachsinn!«

Der Kaiser war außer sich vor Wut. Er war der Kaiser, und die Welt war ihm untertan. Das fehlte noch, dass er die Barbaren nebenan aufsuchte und sich lieb Kind machte, damit sie ihm den gebührenden Respekt erwiesen. Die spinnen, die Konfuzianer.

Dieses Spiel war ein versteckter Aufruf zur Untergrabung der Staatsgewalt, so viel stand fest. Innerhalb eines Monats ließ er die Herstellung und Verbreitung des rebellischen Spiels verbieten, Tausende illegaler DVDs konfiszieren und ihre Händler festnehmen. Dann beorderte er Soldaten, ein riesiges Loch zu graben, in das er die Händler mitsamt den DVDs werfen und anzünden ließ.

Als Dritter sprach ein Mohist am Hof vor. Er hielt es für die beste Strategie, dem Kaiser gleich reinen Wein einzuschenken. »Unsere Schule steht für Pazifismus«, sagte er. »Wir sind gegen Krieg und Aggression. Deshalb habe ich Euer Majestät ein sogenanntes Tower Defense Game mitgebracht. Es heißt Call of Duty,und Ihr müsst nichts weiter tun, als Euch zu verteidigen, verteidigen und nochmals verteidigen.«

Die Startseite des Spiels zeigte eine Horde Zombies auf der einen und diverse Pflanzen auf der anderen Seite. Der Kaiser fand das nicht uninteressant. »Was sind das für welche?«, wollte er wissen.

»Das sind die Feinde Eures Reichs, Majestät.«

»Und das Grünzeug da?«

»Das ist Eure Euch treu ergebene Leibwache, Majestät.«

Dieses Spiel war, ehrlich gesagt, ganz nach seinem Geschmack. Toll, wie schnell die Leichen seiner Feinde überall verstreut herumlagen! Das Einzige, was ihn störte, war, dass er immer so lange untätig warten musste, bis wieder eine Welle von Zombies angriff, anstatt gleich Strafexpeditionen in das Hoheitsgebiet der Zombies schicken zu dürfen.

»So ist es gedacht, Euer Majestät. Wir greifen überhaupt nicht an. Irgendwann erkennen Eure Feinde, dass sie Euer Reich nicht erobern können, und geben auf.«

Der Mohist war mit dem Spielverlauf sehr zufrieden. Der Kaiser erreichte höchste Punktzahlen und schien vom Entertainment Value des Spiels überzeugt.

Qin Shihuang hatte den Blick starr auf den Bildschirm gerichtet und klickte wie verrückt mit der Maus. Seine Maisraketen und Erbsenkanonen machten einen Zombie nach dem anderen platt.

Fünf Stunden später konnte der Kaiser kaum mehr die Augen offen halten und war völlig geschafft. Mehrere Diener hatten sich nacheinander als Mousepad zu Verfügung gestellt.

Aber die Zombies schienen nicht aufgeben zu wollen. Kaum dass er einmal nicht aufgepasst hatte, schlüpfte ein Zombie auf sein Hoheitsgebiet und mampfte seine Kürbisse weg. Im Nu brach die ganze Verteidigung des Reichs zusammen.

»Betrug!«, schrie der Kaiser. »So ein Scheißspiel!« Er schleuderte die Maus von sich und rieb sich sein entzündetes Handgelenk. »Hast du nicht gesagt, dass ich mich nur verteidigen muss? Sechshundert Attacken habe ich abgewehrt, und die kommen immer noch.«

»Nun ja, Euer Majestät … Ihr habt leider im Infinity-Modus gespielt.«

»Und das sagst du mir jetzt? Ihr dämlichen Mohisten habt einfach keine Ahnung von der Realität des Kriegs!«

Genervt gab der Kaiser dem Mohisten zu verstehen, dass er sich davonscheren solle, goss aber trotzdem noch schnell die Pflanzen des Palastgartens, bevor er seine Sitzung beendete.

Im Laufe der Zeit sprach eine Gelehrtenschule nach der anderen bei ihm vor und pries dem Kaiser ihre Spiele an. Die Militaristen kamen mit Steel Hero, die Agrikulturianer waren stolz auf ihr Garden Tycoon, die Logiker legten ihm ihr sorgfältig designtes Reverse Judgement ans Herz, und die Yin-Yang-Schule ließ sich nicht abwimmeln, obwohl der Kaiser schon den Namen ihres Spiels Die Legenden der Adlerkrieger ziemlich öde fand. Nach einem einzigen Spielversuch gab der Kaiser jeweils auf. Jedermann fragte sich, was für ein Spiel dem glorreichen Kaiser bloß gefallen könnte.

Zwischenzeitlich lenkte ein anderes Ereignis von dieser wichtigen Frage ab. Da keins der Spiele den Kaiser wirklich zu unterhalten verstand, unternahm er mit seinem Wagen ein paar Spritztouren. Als seine Entourage gerade durch Bolangsha fuhr, fiel auf einmal ein riesiger Eisenhammer vom Himmel und zerschmetterte seinen Beiwagen. Der Kaiser schwor grausame Rache an dem Attentäter und setzte alles in Bewegung, um ihn aufzuspüren.

Die Fahndung zeitigte zunächst keinen Erfolg. Der Kaiser hatte bereits drei erfolglose Chefermittler hinrichten lassen, als der vierte endlich ein paar sachdienlichen Hinweisen nachgehen konnte. Anhand der Fallhöhe des Hammers, dem beim Aufprall verursachten Krater und dem Muster, nach dem sich die Überreste des Beiwagens verteilten, schloss er, dass der Attentäter ein leidenschaftlicher Angry Birds-Spieler sein musste. Da sich nur wenige im Reich ein iPhone4 oder ein iPad leisten konnten – die einzigen Geräte, auf dem das Spiel lief –, grenzte das die Zahl der Tatverdächtigen erheblich ein.

Die Ermittlungen führten schnell zu einem Mann namens Zhang Liang. Der junge Mann konnte aber leicht beweisen, dass er unschuldig war. Er hatte nämlich vor der Reichseinigung dem Volk der Han angehört, das auch als Koreaner bekannt ist. Angehörige dieses Volks spielten ausschließlich StarCraft, ein Spiel, das den Spielern jede freie Minute abverlangte. Unmöglich hätte er Zeit für das Spielen von Angry Birds erübrigen können. Der Chefermittler musste einsehen, dass das ein hieb- und stichfestes Alibi war.

Ein Mann namens Xu Fu rettete die verfahrene Situation.

Xu Fu hatte blondes Haar und blaue Augen und präsentierte sich dem Hof in einem nagelneuen Armani-Anzug und auf Hochglanz polierten braunen Lederschuhen. Zweifellos war dieser Mann ein Mitglied der globalen Elite.

»Was hast du mir für ein Spiel mitgebracht?«, fragte der Kaiser aufgeregt, als er den USB-Stick in Xu Fus Hand bemerkte.

»Ich habe mir erlaubt, Eurer Majestät ein Spiel mitzubringen, das alles übertrifft, was Ihr je zu Gesicht bekommen habt«, sagte Xu Fu mit großer Selbstgewissheit und schob den USB-Stick in den Computer. Dann öffnete er eine Powerpoint-Datei und hielt einen perfekten Vortrag.

»Das sind bloß Folien, wo ist denn das Spiel?«

»Ein Staat, der sich nur mit unmittelbaren, schnellen Ergebnissen begnügt, Euer Majestät, kann auf Dauer nicht neben seinen Wettbewerbern bestehen. Wir müssen weitblickend agieren und in die Zukunft investieren, um nachhaltigen Wohlstand zu sichern.«

»Was soll das denn heißen?«

»Das Spiel, das ich Euch mitgebracht habe, Majestät, ist unzweifelhaft das Meisterwerk eines großartigen Genies. Nichtsdestotrotz befindet es sich noch in der Entwicklungsphase, unter der Aufsicht eines Expertenteams auf der Insel Penglai. Wenn Euer Majestät bereit wären, ein gewisses Risikokapital in den Kickstart des Projekts zu investieren, garantiere ich Euch, dass Ihr innerhalb eines Jahres die Betaversion in Händen halten werdet, und in nur drei Jahren ist das Spiel auf dem Markt. Wie meine Präsentation gezeigt hat, handelt es sich um eine einmalige Gelegenheit: Hervorragende Rendite bei geringem Risiko.«

»Aber …« Der Kaiser zögerte. Die Worte dieses Xu Fu klangen durchaus überzeugend, aber sein Geld in ein Spiel zu investieren, das es noch gar nicht gab, erschien ihm nicht ganz koscher. Alle anderen waren schließlich mit fertigen Produkten in den Händen zu ihm gekommen.

»Vorsicht ist etwas für feige Barbaren, Euer Majestät. Eine solche Gelegenheit kommt so schnell nicht wieder.«

Das professionelle Auftreten des Blonden überzeugte den Kaiser schließlich. Er gab Befehl, eine mit den Schätzen seines Reichs beladene Flotte nach Penglai zu senden, die der Anschubfinanzierung des Spielentwicklers dienen sollten. Xu Fu versprach, in ein bis drei Jahren mit dem großartigsten Spiel des ganzen Universums in Händen zurückzukehren.

»Ich freue mich schon darauf, das Produkt vor der Markteinführung testen zu dürfen!«, rief der Kaiser Herrn Xu Fu vor der Abreise nach.

Xu Fu entblößte lächelnd sein makelloses, weißes Gebiss und winkte dem Kaiser zum Abschied enthusiastisch zu. »Auf bald, Euer Majestät! Verlasst Euch auf mich!«

Als die Schiffe schon am Horizont verschwunden waren, fiel Qin Shihuang plötzlich ein, dass Xu Fu nie den Namen des Spiels erwähnt hatte. Er wandte sich an seinen engen Vertrauten Zhao Gao. »Sag mal, hat dieser Xu Fu dir den Namen dieses geheimnisvollen Spiels verraten?«

»Das nicht«, hob Zhao Gao mit ehrerbietig gesenktem Haupt an, »aber ich habe mir erlaubt, einen Blick in seinen Laptop zu werfen.«

»Und wie heißt es nun? Sag schon!«

Zhao Gao dachte angestrengt nach. »So etwas wie Duke Nukem Forever, Euer Majestät.«

»Klingt toll«, sagte Qin Shihuang und rieb sich die Hände. »Ich kann es kaum erwarten.«

 

Weitere Kurzgeschichten finden Sie in:

„Zerbrochene Sterne“, herausgegeben von Ken Liu · Aus dem Chinesischen und Englischen übersetzt von Karin Betz, Lukas Dubro, Johannes Fiederling, Marc Hermann, Kristof Kurz, Felix Meyer zu Venne und Chong Shen · Wilhelm Heyne Verlag · 672 Seiten · E-Book: 13,99 Euro · (im Shop)

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