9. März 2020 3 Likes

„Ich wähle einfach Geschichten aus, die meinen Geschmack treffen.“

Im Gespräch mit Autor und Herausgeber Ken Liu („Zerbrochene Sterne“)

Lesezeit: 14 min.

Ken Liu wurde 1976 in Lanzhou, China geboren und lebt seit seinem elften Lebensjahr in den USA. Er gehört zu den besten Kurzgeschichtenautoren der fantastischen Genres, der für seine Erzählungen zurecht mit dem Nebula, dem Hugo, dem Locus und dem World Fantasy Award ausgezeichnet wurde. Neben seinen hervorragenden Storysammlungen „The Paper Menagerie and Other Stories“ und „The Hidden Girl and Other Stories“ veröffentlichte er einen „Star Wars“-Episodenroman über Luke Skywalker und natürlich seine „Seidenkrieger“-Silkpunk-Romantrilogie. Auf Konferenzen oder an Universitäten spricht er außerdem über Futurismus, Technologie, Bücher und anderes. Darüber hinaus ist Liu, der früher als Softwareentwickler, Firmenanwalt und Rechtsberater tätig war, so etwas wie der Kurator der gegenwärtigen chinesischen Science-Fiction im Westen. Als Übersetzer und Herausgeber agiert er schließlich als treibende Kraft, wenn es darum geht, die Geschichten zeitgenössischer chinesischer Autoren auf dem internationalen Markt zu veröffentlichen. Dabei übersetzte er nicht nur Cixin Lius „Die drei Sonnen“ (im Shop) oder Qiufan Chens „Die Siliziuminsel“ (im Shop) ins Englische, sondern stellte als Herausgeber z. B. auch die Anthologie „Zerbrochene Sterne“ mit aktueller Science-Fiction aus China zusammen, die gerade bei Heyne auf Deutsch erschienen ist. Im Interview spricht Ken Liu über seine Arbeit als Herausgeber, Genre-Etiketten, das globale SF-Fandom und sein eigenes Schaffen als Autor.

 


Ken Liu. Foto © Lisa Tang Liu

Hallo Ken. Schön, dass du Zeit für dieses Interview gefunden hast. Erinnerst du dich an die erste moderne chinesische Science-Fiction-Kurzgeschichte, die du gelesen hast?

Hallo! Es ist immer ein Vergnügen, mit neuen Lesern über meine Fiction und meine Arbeit als Herausgeber zu sprechen. Bis 2008 wusste ich nichts über die SF, die im heutigen China geschrieben wird. Die erste zeitgenössische chinesische SF-Story (wobei ich hier die alten Werke von Autoren wie Tong Enzheng auslasse), die ich gelesen habe, war Chen Qiufans „The Fish of Lijiang“. Wir hatten uns zufällig kennengelernt. Chen Qiufan [Anmerkung der Red.: Ken Liu nutzt die chinesische Schreibweise der Namen] kontaktierte mich, weil ich ein wenig internationale Aufmerksamkeit für meine Geschichten erhielt und er einige meiner Storys im Netz gelesen hatte. Sie gefielen ihm und er fragte, ob ich Interesse daran hätte, sie ins Chinesische übersetzt und in China in „Science Fiction World“ veröffentlicht zu sehen, dem größten SF-Magazin der Welt. Er kümmerte sich um den mühsamen Prozess, die Rechte zu bekommen, Übersetzer zu finden und die Übersetzungen bei den Herausgebern einzureichen.

Es war (und ist) schwierig für amerikanische Autoren wie mich, Kontakt zu chinesischen Verlagen aufzubauen, und ohne Chens Hilfe wäre ich niemals in China veröffentlicht worden. Er hat sich so viel Mühe gemacht, nur um einem anderen Autor dabei zu helfen, ein neues Publikum zu erreichen. Das bewegte mich sehr. Es war, denke ich, nicht nur eine Demonstration seines selbstlosen Charakters, sondern auch etwas, das die Wärme, Großzügigkeit und Hingabe von SF-Autoren und -Fans auf der ganzen Welt veranschaulicht, die einander helfen, Zugang zu mehr fantastischer Literatur zu erhalten.

Und wie kam es daraufhin dazu, dass du selbst chinesische SF ins Englische übersetzt hast?

Als ich herausfand, dass Chen selbst ein Autor ist, fragte ich ihn nach ein paar seiner Geschichten zum Lesen. Mich beeindruckten sofort Chens einmalige Stimme, seine gewaltige Vorstellungskraft und wie er Dinge mit dem modernen Standardchinesisch tat, von denen ich dachte, sie seien unmöglich. Dieser Eindruck verstärkte sich später, als ich andere Geschichten von ihm las, die danach trachteten, das Potenzial des Schreibens neu zu definieren, darunter eine Story, die in klassischem Chinesisch geschrieben war und die volle polyphone Bandbreite gegenwärtiger chinesischer Mundarten zeigte. Außerdem machte er so scharfe Beobachtungen über Futurismus, unsere unbehagliche Beziehung zu Technologie und unsere Probleme als Akteure mit einem Gewissen, die gegen unpersönliche Autorität stehen … Ich hatte das Gefühl, einen verwandten Geist gefunden zu haben, einen Autor, der eine Leidenschaft für dieselben Dinge hegte wie ich, jedoch aus einer anderen Perspektive an sie heranging.

Ich wollte Chen helfen, Leser außerhalb Chinas zu finden, und sein Schaffen vor allem meinen englischsprachigen Zeitgenossen und Lesern vorstellen. Solch Schönheit muss geteilt werden! Also bot ich ihm an, bei der Übersetzung seiner Story ins Englische zu helfen und einen Markt zu finden. Da ich zuvor keinerlei Interesse oder Erfahrung mit literarischen Übersetzungen hatte, musste ich Übersetzungstheorie pauken und das Handwerk bei fähigen Experten studieren, bis ich genug gelernt hatte, um seiner Story gerecht zu werden.

Wir kannten einander zunächst durch unsere Fiction und wurden dann schnell Freunde. In den Jahren seither haben wir so viel erlebt. Wir helfen einander im Kampf gegen die Launenhaftigkeit von Autorenkarrieren, die sich der Schnittmenge von Technologie und Kunst verschrieben haben, und wehren die Zweifel ab, die ästhetische Unternehmungen immer in ihren Praktizierenden hervorrufen.

Ist es ein Vorteil, mit Freunden zusammenzuarbeiten?

Im Laufe der Zeit freundete ich mich mit weiteren Autoren in China an. Viele von ihnen sind auch in meinen Anthologien vertreten. Ich bin so froh, dass meine Bemühungen eine kleine Rolle dabei gespielt haben, ihre Karrieren über Chinas Grenzen hinaus zu erweitern. Wir alle mögen es, unseren Freunden zur Seite stehen zu können, und wenn unsere Unterstützung zu handfesten Resultaten führt, fühlt sich das gut an.

Der westliche Markt hat chinesische Science-Fiction lange ignoriert – dann reichte mit „Die drei Sonnen“ ein einzelner Roman, um das zu ändern …

Ich denke nicht, dass „chinesische SF“ als Beschreibung einer vermarktbaren Literaturgattung und als Genre-Etikett Sinn ergibt (wobei ich generell schon oft gesagt habe, dass ich Genre-Etiketten allgemein nicht für hilfreich halte und sie nur unter Protest benutze). „Chinesische SF“ scheint spekulative Fiction und Fantastik zu meinen, die in China von chinesischen Autoren geschrieben wird. Doch so, wie niemand mit Bestimmtheit sagen kann, dass alle Fantastik, die in den Vereinigten Staaten von amerikanischen Autoren geschrieben wird, einem festen Muster folgt, vermag auch niemand so etwas für „chinesische SF“ zu sagen.

Lieber nähere ich mich chinesischer SF als vielfältiger Sammlung individueller Werke von einzigartigen Autoren, ganz ohne Motivation, ihnen ein gemeinsames Etikett oder einen einheitlich analysierenden Rahmen aufzuzwängen. Liu Cixins „Die drei Sonnen“ ist ganz anders als Tang Feis „Call Girl“, und doch sind beide wundervolle Kunstwerke, die etwas einmaliges über die menschliche Natur sagen. Chen Qiufans „Die Siliziuminsel“ hat nur ganz wenig mit Xia Jias „Goodnight, Melancholy“ [aus „Zerbrochene Sterne“] gemein, dennoch rührten sie mich beide zu Tränen und zeigten mir etwas Neues über das Potential von Fantastik auf. Die Werke haben verschiedene politische, soziale und ästhetische Standpunkte und beschäftigen ich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit Macht und Privilegien. Ich sehe keinen Gewinn darin, zu versuchen, sie in einen Topf zu werfen und kollektiv etwas über sie auszusagen.

Ich bin erfreut, dass so viele Autoren und Werke außerhalb Chinas Leser gefunden haben, die sie lieben, denke jedoch nicht, dass der Zuspruch des Marktes uns viel darüber sagt, wie dieser Markt andere Autoren und Werke aufnehmen wird, die ebenfalls aus China kommen. Jeder Autor und jede Geschichte müssen für sich ihr eigenes Publikum finden. Ich weiß äußerst wenig darüber, wieso sich manche Bücher verkaufen, und andere nicht – und das gilt für jeden im Verlagsgeschäft. Jedes gute Buch hat eine perfekte Zielgruppe, doch es scheint, dass wir immer noch richtig, richtig schlecht darin sind, Bücher und ihre ideale Leserschaft zusammenzuführen. Alles, was wir tun können, ist, so vielen Menschen wie möglich von den Büchern zu erzählen, die wir lieben, und das Beste hoffen.

Wie wurde aus dem Übersetzen einzelner Geschichten aus China das Herausgeben ganzer thematischer Anthologien in Buchform?

Da ich fast all meine Zeit und all mein Streben dem Schreiben meiner eigenen Fiction widme, bin ich vermutlich nicht dazu berechtigt, mich als zu Herausgeber bezeichnen. Unter diesem Vorbehalt wird meine Arbeit als Übersetzer und Herausgeber vollständig von meinem Interesse daran angetrieben, guten Geschichten von Autoren in China dabei zu helfen, Leser außerhalb Chinas zu finden. Während Magazine wie [das amerikanische] „Clarkesworld“ inzwischen tolle Arbeit dabei leisten, den englischen Lesern übersetzte Kurzgeschichten zugänglich zu machen, schätzen es manche Leser eher, einzelne Bücher zur Verfügung zu haben, die einem bestimmten Organisationsprinzip folgen.

So wenig ich auch denke, dass „chinesische SF“ als Label zum Zusammenfassen vielfältiger Werke sinnvoll ist, stellt die Tatsache, dass viele Leser „chinesische SF“ als Kategorie erkunden möchten, doch eine Nachfrage dar, die zu befriedigen Sinn ergibt. Deshalb entschied ich mich, „Invisible Planets“ und „Zerbrochene Sterne“ als Schaukästen für Autoren aus China zu erschaffen, die mir gefallen. Leser greifen zu diesen Büchern, um Erzählungen von Autoren zu entdecken, mit denen sie nicht vertraut sind und die in einer Sprache schreiben, die sie im Original nicht lesen können, und ich hoffe, dass sie in diesem Prozess einen oder mehr Autoren entdecken, für die sie die idealen Leser sind.

Wie müssen wir es uns vorstellen, wenn du eine Anthologie wie „Zerbrochene Sterne“ zusammenstellst?

Ein Großteil der Arbeit ist so ähnlich wie bei jedem anderen Magazin- oder Anthologie-Herausgeber: Bedingungen aushandeln, Rechte sichern, Autoren an fällige Abgabetermine erinnern, etc. etc. Aber manches von dem, was ich tue, ist ungewöhnlich.

Ich fertige fast alle Übertragungen ins Englische selbst an (bei ein paar Storys in „Zerbrochene Sterne“ half mir die unglaubliche Carmen Yiling Yang). Weil die Autoren meine Freunde sind, glaube ich, dass ich ein tieferes Verständnis ihrer Stimmen und ihrer Absichten habe, und trachte danach, dass meine Übersetzungen ihrem Vertrauen in mich gerecht werden.

Auch die Art, wie ich Geschichten auswähle, mag erwähnenswert sein. Seit ich Chen Qiufans „The Fish of Lijiang“ übersetzt habe, halte ich mich bei meiner Übersetzungsarbeit an eine einzelne Vision: Ich widme mich nur Geschichten, die in meinem Kopf bleiben und mich auf irgendeine Art tief bewegen. Weil mein Ansatz höchst persönlich, individualistisch, nichtakademisch und idiosynkratisch ist, sind die idealen Leser der Anthologie Leute, die meinen Geschmack teilen. Ich kümmere mich nicht um Preise, die Sichtweise anderer Kritiker oder „objektive“ Maßstäbe für den Impact oder Wert einer Story. Aufgrund meiner großen Verpflichtung gegenüber meinem eigenen Geschmack ignoriere ich bereitwillig Nonsense wie das Auswählen der „besten“ oder „am besten zu vermarktenden“ Geschichten und wähle auch keine Storys aus, die einen erdachten „flächendeckenden“ Überblick zeitgenössischer chinesischer SF „präsentieren“. Ich wähle einfach Geschichten aus, die meinen Geschmack treffen, und stelle sie zusammen ohne das geringste Interesse daran, die Auswahl anhand eines Meta-Narrativ oder gegenüber den Erwartungen von irgendjemandem zu rechtfertigen. Ich denke, dass das für meine Autoren und Leser das Beste ist.

Hast du gewusst, wie viel Arbeit eine Anthologie bedeutet? Und kommt der Herausgeber und Übersetzer Ken Liu dem Autor Ken Liu zeitlich in die Quere?

Es stellte sich als wesentlich mehr Arbeit heraus, als ich erwartet habe! Gezerre mit Autoren, das Auseinandersetzen mit internationalem Recht und rechtlichen Streitfragen, das Redigieren und Überarbeiten, die Tantiemen verteilen … seitdem verspüre ich letztlich viel mehr Wertschätzung für meine eigenen Herausgeber, wenn ich als Autor zu Anthologien beitrage.

Das Übersetzen nimmt zweifellos Schreibzeit und Aufmerksamkeit von mir in Anspruch. Ich sehe es allerdings als meinen Beitrag zur internationalen Community von Fans und Autoren. Die Geschichte über Chen Qiufan, die ich vorhin erzählte, ist keine Ausnahme. Im Verlauf meiner Karriere haben Autoren und Übersetzer und Fans und Herausgeber in verschiedenen Ländern keine Mühen gescheut, für meine Arbeit einzutreten, eine Verbindung zu Lesern herzustellen und mir dabei zu helfen, Märkte jenseits der USA und Großbritanniens zu finden. Ohne ihre Hilfe hätte ich definitiv nicht die internationale Karriere, die ich heute habe. Meine Arbeit als Übersetzer und Herausgeber sehe ich in derselben Manier. Ich tue, was zahllose andere Mitglieder des globalen SF-Fandoms schon immer getan haben: Unsere Liebe zur SF mit anderen teilen und die Karrieren derer befeuern, die wir bewundern.

Zu sehen, wie viele Leute jetzt daran arbeiten, SF von chinesischen Autoren weltweit einem Publikum zugänglich zu machen, ist großartig, verglichen mit damals, als ich damit anfing. Jetzt kann ich mich mehr auf meine eigene Fiction konzentrieren.

Hat es dein Schreiben gepusht, mit so vielen Autoren zusammenzuarbeiten? Wenn ich eine Storysammlung von dir lese, merke ich z. B. jedes Mal, dass ich formal etwas Neues ausprobiere, nur weil du etwas ganz anderes abseits des Üblichen gemacht hast …

Oh, es ist wunderbar, das zu hören, danke! Mit so vielen erstaunlichen Autoren so eng zusammenzuarbeiten, inspiriert mich dazu, in meinen eigenen Geschichten einen Zacken zuzulegen, obwohl es, wie du schon sagst, nichts Direktes und subtiler ist. Eines der Dinge, die ich dadurch erlangt habe, diese Geschichten genau zu lesen, auseinanderzunehmen und auf Englisch wieder zusammenzusetzen, ist das Verständnis für die Kunstfertigkeit von Fiction. So viele unserer geschätzten Vorstellungen von Fiction … etwa wie wir narrative Spannung erzeugen, einen für den Leser ansprechenden Charakter heraufbeschwören oder dem Leser den Raum lassen, am Weltenbau mitzuwirken … beruhen auf Konventionen, die in verschiedenen Schreibgemeinschaften keineswegs universell sind. Das brachte mich dazu, freier im Experimentieren zu sein und auf der Jagd nach meiner eigenen Ästhetik herkömmliche „Schreibregeln“ zu vernachlässigen.

Die SF-Szene ist klasse, aber dennoch nicht immer frei von Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit – man denke nur an die Sad Puppies-Bewegung damals. Hast du wegen deiner Pionierarbeit für Science-Fiction aus China in den USA immer nur positives, oder auch negatives Feedback erhalten?

Neil Clarke [Red.: Der Herausgeber des amerikanischen SF-Magazins „Clarkesworld“] leistet im Verbund mit anderen Organisationen, Übersetzern und Autoren großartige Arbeit, wenn es darum geht, Übersetzungen aus aller Welt zu einem größeren Teil der Science-Fiction-Kurzgeschichten-Szene im englischsprachigen Raum zu machen. Andere Verleger und Herausgeber trugen ebenfalls erheblich dazu bei, SF von überall auf der Welt ins Englische zu holen. Ich bin sehr gespannt, zu sehen, wohin diese Bemühungen führen werden, da ich der Meinung bin, dass uns nur mehr Diversität dem ultimativen Ziel näher bringen kann, das volle Spektrum des menschlichen Potentials zu begreifen.

Dadurch, dass ich so darauf konzentriert bin, persönliche ästhetische Ziele zu erfüllen, muss ich gestehen, fast nie darauf zu achten, was andere sagen. Ein Tag bietet schlichtweg nicht genügend Zeit oder mentalen Raum, um sich über Kritiker Gedanken zu machen, wenn ich mehr aus Liebe denn aus Angst schreibe (und das gilt genauso für die Autoren, für die ich mich einsetze). Einfach ausgedrückt, blicke ich mich nicht nach Negativität oder Hass oder Vorurteilen um, und ich schaue auch nicht nach Lob oder Positivität. Es ist besser, Werke zu erschaffen und zu fördern, von denen ich weiß, dass sie gut sind, als externe Bestätigung zu suchen. Mein Agent muss mich öfters eigens anpingen und mir erzählen, dass es eine überschwängliche Besprechung oder enthusiastische Berichterstattung auf einer großen Plattform gibt, die ich mir ansehen soll, da ich das Aufsehen gar nicht bemerke. Das macht mich vermutlich zu einem schrecklichen Autor und Herausgeber in Hinsicht auf das Generieren von Publicity, aber die Meinung anderer Leute beunruhigt mich einfach nicht genug.


„Good Hunting“ in der Netflix-Anthologieserie „Love Death + Robots“

Wir haben vorhin bereits über Genre-Etiketten gesprochen. Nervt es dich dann umso mehr, wenn andere deine Bücher in Kategorien einsortieren?

Ich würde mir niemals die Freiheit herausnehmen, anderen Autoren oder Lesern zu sagen, wie sie Genre-Etiketten verwenden sollen, aber ich selbst spürte nie das Verlangen, Fiction eines Genres oder „Typs“ zu schreiben. Ich verstehe, dass Labels nötig sind, um meine Fiction zu vermarkten – am Ende müssen meine Bücher in irgendeinem Regal im Buchladen stehen. Doch wenn ich schreibe, gehe ich nie von dem Gedanken aus, dass ich eine „Fantasy“- oder eine „Science-Fiction“-Story schreiben will. Ich versuche lediglich, eine Geschichte zu erzählen, in der ein gewisser metaphorischer Aspekt unserer Wirklichkeit literarisch real wird. Selbst meine Romane, die als epische Fantasy etikettiert sind, haben im Grunde keine Magie, sondern Maschinenbau. Für mich ist die Literarisierung des Metaphorischen, das Unbeschreibliche greifbar machen, die conditio sine qua non aller großer Literatur, und wirklich der Funke, der mich ursprünglich dazu brachte, Geschichten erzählen zu wollen.

Ich erinnere ich daran, dass mir ein Kritiker einmal sagte, dass man meine Science-Fiction nicht mögen würde, weil sie sich wie Fantasy lese, während sich meine Fantasy wie Science-Fiction lese. Ich nahm diese versuchte Beleidigung als Kompliment, denn ohne Rücksicht auf Genre-Etiketten und -Grenzen zu schreiben, war schon immer mein modus operandi.

Dennoch könnte man sagen, dass deine bisherigen Romane eher in Richtung Fantasy neigen. Ist die Kurzgeschichte perfekt für Science-Fiction, und werden wir von dir auch mal einen SF-Roman sehen?

Die Kurzform ist meiner Auffassung nach auf einmalige Weise dafür geeignet, mit literarischen Techniken zu experimentieren. Ich habe Geschichten ohne Handlung oder Figuren oder irgendein anderes Element geschrieben, das für Fiction als essenziell erachtet wird. Durch ihre Natur verlangt die kurze Form weniger Aufmerksamkeit und Zeit vom Leser, und sie erlaubt es dem Autor, Experimente umzusetzen, die ihre freundliche Aufnahme überstrapazieren würden, würden sie in der Länge eines Romans durchgeführt werden. Das bedeutet nicht, dass ich in meinen Romanen nicht mit Form und Technik herumprobiere, doch die stilistischen Experimente in meinen Romanen sind, mangels eines besseren Wortes, „konservativer“.

Wie gerade schon gesagt, kann die „Dandelion Dynasty“-Serie [Red. „Seidenkrieger“ im Deutschen] sowohl als Fantasy als auch als SF gelesen werden, oder als beides (das ist teilweise der Kern von Silkpunk). Nachdem ich zehn Jahre an dieser Serie gearbeitet habe, bin ich bereit, mich etwas Neuem zuzuwenden. Ich werde zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht viel über diesen geplanten Roman sagen, außer, dass er sich mit Themen beschäftigen wird, die mich seit Langem faszinieren, und dass ich aufgeregt bin, meine Langstrecken-Fiction in eine neue Richtung zu führen.

Deine Kurzgeschichte „Good Hunting“ wurde von Netflix in der ersten Staffel der Anime-Anthologie „Love Death + Robots“ adaptiert. Hatte das einen Effekt auf deine Popularität?

Ich höre auf alle Fälle von vielen begeisterten Fans, die mir schreiben oder mit mir persönlich über die Adaption reden. Obwohl ich nicht mit dem Ziel schreibe, meine Geschichten auf dem Bildschirm adaptiert zu sehen, bin ich definitiv ebenso aufgeregt wie jeder andere, wenn es passiert. Ich bin mir sicher, dass die Reichweite einer solchen TV-Serie meinem Schaffen mehr Leser bechert hat, und das ist immer etwas, das man feiern sollte.

Wo siehst du chinesische SF – Science-Fiction aus China auf dem westlichen Markt – in zehn Jahren? Wird sie sich hier behaupten, oder ist sie nur ein Trend?

Da ich, wie gesagt, nicht viel über das Verlegen weiß und skeptisch bin, was „chinesische SF“ als Kategorie angeht, habe ich das Gefühl, keine nützlichen Vorhersagen dazu machen zu können. Ich kann nur sagen, dass in meinen Augen einzelne Autoren und Werke, die ihr perfektes Publikum finden, überdauern werden. Dazu gehört eine große Portion Glück, doch es ist nicht völlig dem Zufall überlassen. Solange wir die Geschichten vertreten und promoten, die uns zutiefst bewegen, machen wir die literarische Szene vielfältiger, interessanter, demokratischer, gefälliger, menschlicher und, letzten Endes, einfach besser.

Ein schönes Schlusswort. Danke für das Gespräch, Ken!

Autorenfotos: Lisa Tang Liu

Ken Liu (Hrsg.): Zerbrochene Sterne • Aus dem Chinesischen und Englischen übersetzt von Karin Betz, Lukas Dubro, Johannes Fiederling, Marc Hermann, Kristof Kurz, Felix Meyer zu Venne und Chong Shen • Heyne, München 2020 • 672 Seiten • E-Book: 13,99 Euro

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.