11. Mai 2020 2 Likes

Die Gewalt der Natur

Eine erste Leseprobe aus Cixin Lius neuem Roman „Kugelblitz“

Lesezeit: 10 min.

Am Abend seines vierzehnten Geburtstages muss der junge Chen mit ansehen, wie seine Eltern von einem Kugelblitz getötet werden. Fortan ist Chens Lebensweg vorgezeichnet, denn er beschließt, sich ganz der Erforschung dieses spektakulären Phänomens zu widmen. Dabei stößt er auf Erstaunliches …

Cixin Lius neuer Roman „Kugelblitz“ (im Shop) ist seit heute überall erhältlich, wo es Bücher gibt. Mit einer ersten Leseprobe geben wir Ihnen einen kleinen Vorgeschmack.

 

Prolog

Es war mein Geburtstag, doch daran erinnerte ich mich erst, als meine Eltern am Abend die Kerzen auf dem Geburtstagskuchen anzündeten und wir uns zu dritt um die vierzehn kleinen Flammen herum setzten.

Draußen tobte ein Gewitter, und das Universum schien aus nichts anderem als aus dicht aufeinanderfolgenden Blitzen und unserer kleinen Wohnung zu bestehen. Im blauen Licht der Blitze zeichneten sich die Regentropfen überscharf ab; für einen Moment schienen sie zu erstarren und hingen wie glitzernde Kristallketten dicht an dicht zwischen Himmel und Erde. Bei ihrem Anblick durchzuckte mich ein Gedanke: Wie faszinierend eine solche Welt doch wäre! Ringsum begleitet von einem feinen Klirren ginge man inmitten von lauter Kristallschnüren durch die Straßen. Doch wie sollte eine solch anmutige, lichte Welt einem heftigen Gewitter trotzen!

Die Welt, die ich sah, hatte sich schon immer von der Welt der anderen unterschieden. Ich wollte die Welt verändern – das war die einzige Erkenntnis, die ich damals über mich selbst gewonnen hatte.

Seit das Gewitter am frühen Abend losgebrochen war, folgten Blitze und Donnerschläge immer rascher aufeinander. Anfangs rief mir noch jeder Blitz jene Kristallwelt, die so flüchtig vor mir aufgeschienen war, wieder in Erinnerung, während ich angespannt den dazugehörigen Donnerschlag erwartete. Doch dann kamen die Blitze so geballt, dass ich nicht mehr unterscheiden konnte, welcher Donner zu welchem Blitz gehörte.

Nichts führt einem so eindrucksvoll vor Augen, wie kostbar das eigene Zuhause ist, wie ein entfesseltes Gewitter. Beim Gedanken an die grauenvolle, bedrohliche Welt dort draußen empfindet man es als überwältigendes Glück, von der Wärme der eigenen vier Wände umfangen zu werden. In solchen Momenten fühlt man mit jeder Kreatur, die im Freien, ohne Dach über dem Kopf, zitternd Sturm und Gewitter überstehen muss. Am liebsten würde man das Fenster öffnen, um ihnen allen Zuflucht zu gewähren, doch man wagt es nicht, denn die Außenwelt erscheint einem so entsetzlich, dass man davor zurückschreckt, auch nur den kleinsten Hauch von ihr in sein behagliches Zuhause eindringen zu lassen.

»Ach ja, das Leben …« Den Blick auf die Flammen geheftet, leerte mein Vater sein Bier in einem Zug. »Unberechenbar ist es, nichts als Wahrscheinlichkeit und Glück, wie ein Zweig, der in einem Bach treibt und an einem Stein hängen bleibt oder von einem Strudel gepackt wird …«

»Wie soll der Junge denn das in seinem Alter verstehen!«, warf meine Mutter ein.

»Er ist alt genug!«, widersprach mein Vater. »Er ist reif genug, um die Wahrheit über das Leben zu erfahren.«

»Als wüsstest du darüber Bescheid!«, frotzelte sie.

»Aber ja doch! Natürlich weiß ich Bescheid!« Mein Vater kippte das nächste halbe Bier hinunter und wandte sich mir zu. »Eigentlich, mein Sohn, ist es gar nicht schwer, ein wunderbares Leben zu führen. Ich verrate dir, wie: Du suchst dir irgendein kniffliges Problem, über das sich alle Welt den Kopf zerbricht – am besten ein mathematisches, zu dessen Lösung du nur ein Blatt Papier und einen Bleistift brauchst. Zum Beispiel die Goldbach’sche Vermutung oder Fermats Letzten Satz. Oder du nimmst dir ein rein naturphilosophisches Problem, für das du nicht einmal Papier und Stift benötigst – zum Beispiel den Ursprung des Universums. Und dann verschreibst du dich mit Leib und Seele der Lösung dieses Problems, aber dabei darf es dir im Grunde nur auf die Arbeit, nicht auf den Erfolg ankommen. Vor lauter Hingabe wirst du gar nicht merken, dass dein Leben wie im Flug vorübergeht. Das meinen die Leute, wenn sie sagen, dass jemand einen Halt gefunden hat.

Oder du entscheidest dich für das Gegenteil und machst das Geldverdienen zu deinem einzigen Lebensinhalt. Du denkst nur darüber nach, wie du noch mehr Geld scheffeln kannst, ohne dich zu fragen, was du damit anstellen sollst. Noch im Angesicht des Todes wirst du dich an deinen Haufen Gold klammern wie Balzacs Vater Grandet und sagen: ›Das stärkt mich!‹ Der Schlüssel zu einem wundervollen Leben ist also irgendetwas, das dich fasziniert. Mich zum Beispiel …« Er zeigte auf die kleinformatigen Aquarelle, die überall im Zimmer an den Wänden hingen. Seine Bilder waren sehr konventionell und bieder gemalt und gaben nicht den geringsten Anflug von Genie zu erkennen. Sie spiegelten den Schein der Blitze wie flimmernde Monitore. »Mich fasziniert das Malen, auch wenn ich weiß, dass aus mir kein zweiter van Gogh mehr wird.«

»Das ist wahr«, sinnierte meine Mutter. »Idealisten und Zyniker bemitleiden einander, aber in Wahrheit sind sie beide glücklich dran.«

Meine Eltern, die sonst immer sehr geschäftig waren, hatten sich auf einmal in Philosophen verwandelt, so als feierten sie ihren eigenen Geburtstag.

»Mama, halt mal still!«, rief ich dazwischen und zupfte aus ihrer Haarpracht, die so dicht und pechschwarz war, ein weißes Haar heraus. Genauer gesagt erwies sich das Haar als zur Hälfte weiß und zur Hälfte schwarz.

Mein Vater hielt das Haar vor die Lampe und musterte es. Im Schein der Blitze glomm es wie ein Glühfaden. »Soweit ich weiß, ist dies das erste weiße Haar deiner Mutter überhaupt – jedenfalls das erste, das wir entdeckt haben.«

»Jetzt reicht’s aber! Für dieses eine wachsen mir nun sieben weiße Haare nach!« Verärgert riss ihm meine Mutter das Haar aus der Hand und warf es beiseite.

»Tja, so ist das Leben.« Mein Vater zeigte auf die Kerzen auf dem Kuchen und sagte: »Stell dir vor, du nimmst so eine kleine Kerze und stellst sie in der Wüste Gobi auf. Wenn gerade kein Wind weht, kannst du sie vielleicht sogar anzünden. Und dann gehst du fort. Was würdest du fühlen, wenn du aus der Ferne noch einmal zu der Flamme zurückblicken würdest? Mein Junge, so ist das Leben: zerbrechlich und flüchtig. Ein Hauch, und es erlischt.«

Schweigend betrachteten wir die Flammen, als wären sie eine Schar kleiner Lebewesen, die wir sorgsam aufgezogen hatten. Sie zitterten im kalten bläulichen Licht, das durch die Fenster hereinfiel.

Draußen ging eine neue Kaskade heftiger Blitze nieder.

In diesem Moment drang er durch die Wand ins Zimmer ein, gleich neben einem Ölgemälde, das eine Orgie griechischer Götter zeigte – so als wäre er ein Gespenst, das dem Bild entsprungen war. Er war so groß wie ein Basketball und verströmte verschwommenes rotes Licht. Anmutig schwebte er über unseren Köpfen und zog einen dunkelroten Schweif hinter sich her. Seine Flugbahn war unberechenbar, und sein Schweif zog verwirrend komplizierte Bahnen in der Luft über uns. Im Flug gab er ein dumpfes Pfeifen von sich, in dessen tiefen Grundton sich ein schrilles Heulen mischte, als wäre er ein Geist, der in einer urzeitlichen Einöde eine primitive Flöte blies.

Erschrocken packte meine Mutter meinen Vater mit beiden Händen – eine Bewegung, die mich für den Rest meines Lebens schmerzlich verfolgen sollte. Hätte meine Mutter das nicht getan, wäre mir vielleicht zumindest ein Elternteil erhalten geblieben.

Der kugelförmige Geist schwebte weiter, als suchte er etwas. Endlich hatte er sein Ziel gefunden. Er verharrte einen halben Meter über dem Kopf meines Vaters, während sein Heulen noch tiefer wurde und schubweise ertönte wie Hohngelächter.

In diesem Moment konnte ich sein halb durchsichtiges, rot leuchtendes Inneres erkennen: Es wirkte unendlich tief, und aus seinem bodenlosen Abgrund wirbelten blaue Funken empor wie Sterne und stürzten einem Geist entgegen, der mit Überlichtgeschwindigkeit durch das All rauschte.

Wie ich später erfuhr, erreichte die Energiedichte in seinem Innern zwanzig- bis dreißigtausend Joule pro Kubikzentimeter. Zum Vergleich: Ein Sprengstoff wie TNT entwickelt nicht mehr als zweitausend Joule pro Kubikzentimeter. Doch auch wenn die Temperatur in seinem Innern auf über zehntausend Grad steigen konnte, blieb seine Oberfläche kalt.

Mein Vater hielt eine Hand über sich – nicht um das Ding zu berühren, sondern um seinen Kopf zu schützen. Doch kaum hatte er den Arm ausgestreckt, schien seine Hand eine Anziehungskraft auszuüben, die das Ding an sich zog wie die Spitze eines Blatts einen Tautropfen.

Mit einem grellen weißen Blitz und einem ohrenbetäubenden Knall explodierte die Welt um mich herum.

Als sich meine geblendeten Augen wieder erholt hatten, bot sich mir ein Anblick, der mich mein Leben lang begleiten sollte: Als hätte jemand in einer Bildbearbeitungssoftware den Graustufenmodus gewählt, waren die Körper meiner Eltern schlagartig schwarz-weiß geworden – oder besser gesagt: aschgrau, denn schwarz waren nur die Schatten, die das Lampenlicht in Furchen und Falten warf. Grau wie Marmor waren meine Eltern. Noch immer reckte mein Vater eine Hand über sich, während meine Mutter sich vornüberbeugte und seinen anderen Arm gepackt hielt. Aus den Gesichtern dieser beiden Statuen blickten ihre versteinerten Augen noch immer wie lebendig.

Ein seltsamer Geruch schwängerte die Luft – wie ich später erfuhr, war es der Geruch von Ozon.

»Papa!«, schrie ich. Keine Antwort.

»Mama!«, schrie ich. Keine Antwort.

Der Moment, in dem ich mich den beiden Statuen näherte, war der grauenerregendste meines Lebens. Das Grauen, das ich bis dahin kannte, hatte mich zumeist in meinen Träumen heimgesucht, und in meinen Albträumen hatte mich mein waches Unterbewusstsein vor dem seelischen Zusammenbruch bewahrt, indem es meinem Bewusstsein aus einem entlegenen Winkel zugerufen hatte: Das ist ein Traum. Auch nun schrie mir eine Stimme in meinem Innern aus Leibeskräften diese Worte zu – es war die einzige Kraft, die mich noch aufrechthielt, während ich auf meine Eltern zuging. Ich streckte eine zitternde Hand nach meinem Vater aus. Als meine Finger die aschgraue Oberfläche seiner Schultern berührten, hatte ich das Gefühl, als durchstieße ich eine äußerst dünne und brüchige Schale. Ich hörte ein leises Knacken wie von einem Glas, das man im tiefsten Winter mit kochendem Wasser füllt, sodass es zerplatzt, und vor meinen Augen fielen die beiden Statuen in sich zusammen wie zwei kleine Lawinen.

Auf dem Teppich bildeten sich zwei Aschehaufen. Das war alles, was von meinen Eltern übrig blieb.

Die Holzstühle, auf denen sie eben noch gesessen hatten, standen unverändert dort, nur dass sie nun von einer Ascheschicht bedeckt waren. Ich strich die Asche weg – die Sitzflächen waren vollkommen unversehrt geblieben und fühlten sich kalt an. Die Öfen in den Krematorien, das wusste ich, brauchten dreißig Minuten, um einen menschlichen Körper bei zweitausend Grad Celsius restlos zu Asche zu verbrennen. Also dachte ich: Das ist ein Traum.

Wie verloren sah ich mich im Zimmer um, und mein Blick fiel auf das Bücherregal: Hinter der Glastür stiegen dichte Schwaden aus weißem Rauch von den Brettern auf. Als ich hinüberging und die Tür öffnete, zerstob der Rauch, und ich sah, dass ein Drittel der Bücher zu Asche zerfallen war, und zwar von derselben Farbe wie die beiden Haufen auf dem Teppich. Die Regalbretter jedoch zeigten keinerlei Brandspuren. Das ist ein Traum.

Aus dem halb geöffneten Kühlschrank sah ich Dampf aufsteigen, und als ich auch hier die Tür öffnete, entdeckte ich, dass das tiefgefrorene Hähnchen gar war und appetitlich duftete. Auch die Garnelen und der Fisch im Tiefkühlfach waren gar. Der Kühlschrank selbst jedoch war heil geblieben, und der Kompressor sprang gerade lautstark an. Das ist ein Traum.

Ich spürte, dass mit mir irgendetwas nicht stimmte. Als ich mein Sakko öffnete, fiel eine Ladung Asche von mir ab – das Hemd, das ich getragen hatte, war restlos verbrannt, das Jackett darüber jedoch unversehrt geblieben, weshalb ich zunächst nichts bemerkt hatte. Als ich die Sakkotaschen befühlte, verbrannte ich mir die Hand, denn mein PDA war zu einem glühend heißen Plastikklumpen geschmolzen. Dies musste ein Traum sein, und zwar ein höchst absonderlicher!

Wie betäubt setzte ich mich wieder auf meinen Stuhl. Die beiden kleinen Aschehaufen, die auf der anderen Seite des Tisches auf dem Teppich lagen, konnte ich von meinem Platz aus nicht erkennen, doch ich wusste, dass sie da waren. Draußen ebbten Blitz und Donner ab, und schließlich hörte es auf zu regnen. Dann lugte der Mond zwischen den Wolken hervor und warf einen geisterhaften Silberglanz durch die Fenster. Wie betäubt blieb ich sitzen und rührte mich nicht von der Stelle; in meinem Bewusstsein existierte die Welt nicht mehr, ich trieb in einer grenzenlosen Leere.

Irgendwann – ich weiß nicht, wie viel Zeit verstrichen war – weckte mich die Morgensonne, die durch das Fenster drang. Wie betäubt stand ich auf, um zur Schule zu gehen. Ich tastete erst nach meinem Ranzen und dann nach der Tür, so als herrschte ringsum Dunkelheit, denn mein Blick verlor sich in einer unendlichen Ferne.

Als sich mein Geisteszustand nach einer Woche wieder halbwegs normalisiert hatte, erinnerte ich mich als Erstes daran, dass ich an jenem Abend Geburtstag gehabt hatte. Doch in meinem Kuchen hätte nur eine einzige Kerze, nein, gar keine stecken sollen, denn in jener Nacht hatte für mich ein neues Leben angefangen. Ich war nicht mehr derselbe Mensch wie vorher.

Genau wie mein Vater kurz vor seinem Tod gesagt hatte, war auch ich von nun an von etwas fasziniert, und ich wollte das wundervolle Leben leben, von dem er gesprochen hatte.

 

Cixin Liu: „Kugelblitz“ ∙ Roman ∙ Aus dem Chinesischen von Marc Hermann ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2020 ∙ 544 Seiten ∙ Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

 

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