10. Dezember 2020

Richard Corben (1940–2020)

Er brachte nicht nur Farbe in die Mutantenwelt der Comics

Lesezeit: 8 min.

Eigentlich sollte dieser Ende November geschriebene Artikel zur Neuausgabe von Richard Corbens „Mutantenwelt“-Comics an Weihnachten als Lektüre für die Feiertage online gehen. Doch soeben gab Richard Corbens Familie bekannt, dass der amerikanische Comic-Meister am 2. Dezember im Alter von 80 Jahren in Folge einer Herzoperation verstorben ist. Die angedachte Einleitung zum „Mutantenwelt“-Artikel ist traurigerweise genau die Würdigung von Corbens Schaffen und Legende, die auch einen Großteil seines Nachrufs an dieser Stelle ausmachen würde. Seine Kunst war einmalig und gigantisch, im Umgang mit Fans und Kollegen war er ebenfalls ein Riese – umso mehr soll dieser Text nun Richard Corben feiern.

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Berüchtigte Underground-Comix und wegweisende Graphic Novels, Steinzeit und Endzeit, Edgar Allan Poe und H. P. Lovecraft, Conan und Den, Hellblazer und Hellboy, Harlan Ellison und Ray Bradbury, Luke Cage und Frank Castle, Bigfoot und Batman: Sie alle wurden innerhalb eines halben Jahrhunderts von der amerikanische Comic-Legende Richard Corben in Szene gesetzt. Corben war dabei sowohl vom Strich als auch der Textur her unverkennbar. Unabhängig vom Einsatzgebiet, dem Entstehungsjahr oder der betreffenden Ikone war Corbens Stil sein signaturmäßiger Duktus. 2009 wurde der Comic-Meister aus den Staaten mit dem Spectrum Grand Master Award ausgezeichnet, 2012 in die Will Eisner Hall of Fame aufgenommen und 2018 im Rahmen des Comic-Festivals im französischen Angoulême mit dem Grand Prix de la Ville d’Angoulême bedacht – womit er in die Fußstapfen von André Franquin, Moebius, Hugo Pratt, Robert Crumb, Albert Uderzo, Art Spiegelman, Bill Watterson und Katsuhiro Otomo trat. Beim Splitter Verlag ist gerade eine Gesamtausgabe der „Mutantenwelt“-Comics erschienen, die Corben ab 1978 gemeinsam mit Landsmann und Autor Jan S. Strnad realisierte, wobei sie einige Hürden zu überwinden hatten, aber nichtsdestotrotz 1990 ein Sequel produzierten. Der druckfrische Sammelband im Albumformat ist beispielhaft in Hinblick auf Richard Corbens revolutionäres Comic-Schaffen und die frühere Herangehensweise an die gerne mal trashige Postapokalypse.

 

Von der Farm in den Underground

Comics waren seit seiner Kindheit ein wichtiger Teil von Richard Corbens Leben. Bereits als Junge las der 1940 in Anderson, Missouri geborene, auf einer Farm großgewordene Corben Superheldencomics und begann damit, selbst zu zeichnen. Nach der High School machte er am Kansas City Art Institute seinen Abschluss. Seine dort gesammelten Erfahrungen als Trickfilmer verhalfen Corben nach dem Studium zu einem Job in der Werbebranche, wo er acht Jahre lang hauptsächlich Animationen erstellte. Es mag daher wenig überraschen, dass der Fantasy-Held Den, Corbens berühmteste eigene Comic-Figur, 1968 in einem animierten Kurzfilm debütierte, bevor Dens Comic-Abenteuer entstanden. Die Explosion der rohen, ungezügelten amerikanischen Underground-Comix veränderte für Richard Corben dann alles, der Ende der 1960er erste Geschichten in den semiprofessionellen Comic-Magazinen dieser Bewegung publizierte.


aus „Creepy präsentiert: Richard Corben“; Splitter

Wenig später veränderte Corben mit seiner Kunst selbst die Welt des grafischen Erzählens. Unter anderem wegen der frühen Graphic Novel „Bloodstar“, für die er eine Prosaerzählung von Conan-Schöpfer Robert E. Howard adaptierte – aufgrund dieses Werks von 1976 gilt Corben als einer der Pioniere des von traditionellen Heftstrukturen unabhängigen Comic-Romans, also der Graphic Novel. Und dann waren da natürlich noch seine vielen außergewöhnlich gezeichneten, teils aufsehenerregend kolorierten Kurzgeschichten, die auf beiden Seiten des Atlantiks für Furore sorgten. Denn in den 1970ern revolutionierte der vom Alles-geht!-Spirit der Underground-Comics angetriebene Corben die Kolorier-Techniken der Comic-Branche und verbesserte fast im Alleingang die Wahrnehmung von Farbe als Stilmittel der neunten Kunst, indem er etwa mit der direkten Kombination von Graustufenvorlagen und farbigen Rasterfolien eine völlig neue Farbwirkung und -Tiefe erzeugte.

 

Handwerklicher Neuerer

Für Corben war Farbe mehr als ein Zusatz zu den Linien und Grautönen, dem Bleistift und der Tusche. Farbe war für ihn eine eigene Ausdrucksebene, ja, eine separate psychologische Comic-Bewusstseinsstufe, auf die er großen Wert legte. Dass er dabei eigene Wege und Werkzeuge fand, um seine Storys unkonventionell einzufärben, und dafür letztlich sogar auf die einzelnen Druckplatten einwirkte, brachte ihm früh die Bewunderung von Eisner (für den er daraufhin ein paar Episoden des „The Spirit“-Strips kolorierte), Moebius und anderen Comic-Göttern ein. In Europa, wo Corbens Comics mitunter als weltweite Erstausgaben erschienen und seine Panel-Storys im einflussreichen französischen Magazin „Métal Hurlant“ abgedruckt wurden, erkannte man Corbens Genie noch früher als in den Staaten. Hier wurden die Kurzgeschichten seiner ersten richtig produktiven Phase als Künstler ab 1970 primär in den berühmt-berüchtigten Warren-Comic-Magazinen abgedruckt. Dank deren Magazin-Vertrieb umging Verleger James Warren die staatlich verordnete Selbstzensur der US-Verlage durch den Comics Code, die Horror und Härte in den „Schundheftchen“ lange unmöglich gemacht hatte.


aus „Creepy präsentiert: Richard Corben“; Splitter

Bei Warren veröffentlichte Corben Panel-Kurzgeschichten in den Anthologie-Magazinen „Creepy“, „Eerie“, „Vampirella“, „Comix International“ und „1984“, darunter reichlich krudes Zeug: viel Trash mit Mädels, Monstern und Mutanten, wie das in jener Zeit eben so war, wenn ein Autor die Genres Horror, Fantasy und Science-Fiction beackerte und oft genug überbrückte. Aber Corbens Storys aus jenen Tagen strotzen aus künstlerischer Sicht eben auch schon immer vor dem Drang zur Innovation und zum Experiment (von denen nicht jedes gelang, wie Corben heute als Erster zugibt). Geschichten und Artwork wurden unübersehbar geprägt von dem permanenten Bestreben, das Medium über seine bisherigen Möglichkeiten und Grenzen zu pushen. Corbens unvergleichliche Bilder waren – und sind – sicherlich ein grafisches Abbild dieses Drangs sowie der merkwürdigen Elemente ihrer Plots, Settings und Figuren. Corbens eigensinniges Artwork polarisiert bis heute. Persönlicher Geschmack und subjektives Gefallen ändern an der comic-historischen und -handwerklichen Signifikanz von Richard Corbens Arbeiten aus den 1970ern allerdings rein gar nichts.

Um die wegweisende Brillanz von Corbens Arbeit als seiner Zeit vorauseilender Kolorist – als couleur directe-Pionier – erfassen zu können, muss man sich vor Augen führen, wie flach bzw. vollflächig Comics in jener Ära meistens koloriert worden sind, wie wenige Nuancen und Farbtiefe es gab. Corben fiel daher nicht bloß wegen seines ungewöhnlichen Zeichenstils mit merkwürdigen Proportionen, Physiologien und Gesichtern oder filmischen Perspektiven auf, die vollständig aus dem Schema des Gewohnten fielen. Genauso hervorstechend waren die gigantische Hyperplastizität seiner Figuren und die übersteuerte Atmosphäre seiner Kulissen, die er mit Licht, Schatten und grellen, eigenwilligen und ungewohnten Farbabstufungen erreichte. (Selbst in den Graustufen, die bei Warren möglich waren und dem einfachen Schwarz-Weiß der anderen Publisher gegenüberstanden, reizten Meister und Neuerer wie Corben, Steve Ditko oder Gene Colan die visuelle Tiefe ihrer Comics aus).

 

Rückkehr in die Mutantenwelt

Mutant World“ wurde ursprünglich in Warrens Magazin „1984“ veröffentlicht, das 1978 an den Start ging und 1980 aufgrund einer Intervention von George Orwells Erben in „1994“ umbenannt werden musste. Darüber hinaus gab es Stress und einen Prozess, weil man eine nichtautorisierte Adaption von Harlan Ellisons „A Boy and His Dog“ – nicht zu verwechseln mit der späteren Corben-Fassung – veröffentlichte. Comic-Genie Wally Wood brach indessen mit Warren, da man eine seiner Geschichten für die Magazin-Publikation massakrierte, indem man sie kürzte und Seiten und Panels ohne Rücksprache mit dem Künstler neu arrangierte.

Richard Corben und Jan Strnad, der ab dem dritten Kapitel des „Mutantenwelt“-Serial in „1984“ von Corben als Autor dazu geholt worden war, bekamen ebenfalls ihre Texte umgeschrieben und ganze Seiten umgestellt. Dabei waren Corben und Strnad, die seit 1971 zusammenarbeiteten, ein eingespieltes Team (ohne Corben realisierte Strnad später allerhand Drehbücher zu Zeichentrickserien wie „Aladdin“, „Darkwing Duck“ und „RoboCop“, aber auch Comics zu „Star Wars“ und „Starship Troopers“). Die Happen von „Mutantenwelt“ fanden sich zwischen August 1978 und September 1979 in den Ausgaben 1 bis 8 von „1984“ – Corbens letzte Innenseiten für Warren. Einen Sammelband lehnten Corben und Strnad aufgrund der Eingriffe in ihre Geschichten wenig überraschend ab. Erst 1982 kümmerte sich Corben um einen solchen Komplettband der Warren-Serie, der in seinem Selbstverlag Fantagor Press herauskam. Corben griff logischerweise auf das textlich und bildlich unveränderte Material vor den Umstellungen bei Warren zurück, überdies entstanden acht neue Seiten, darunter die heutige Eröffnung der Geschichte.


aus „Creepy präsentiert: Richard Corben“; Splitter

Anno 1990 taten sich Strnad und Corben für die fünf US-Hefte umfassende Miniserie „Son of Mutant World“ zusammen, die als minderwertige Farbversion und teilweise nur in Schwarz-Weiß gedruckt war und lediglich in Europa einen Sammelband sah. Im Jahr 2019 bekamen Strnad und Corben via Kickstarter 65.000 Dollar für eine Gesamtausgabe beider Serien zusammen, und Corbens Tochter Beth verpasste der Fortsetzung eine gelungene einheitliche Neukolorierung, die dem großartigen Corben-Standard der letzten 20 Jahre entspricht. Dieser perfekten, von den Machern gesteuerten und perfektionierten Edition liegt die Splitter-Gesamtausgabe von Ende 2020 zugrunde, nachdem auf Deutsch 1982 der erste „Mutantenwelt“-Teil im Volksverlag erschienen war – und zwischen 1984 und 1993 als indiziert auf der Liste der jugendgefährdenden Schriften stand. Carlsen brachte 1992 Original und Fortsetzung in der Reihe „Die phantastische Welt des Richard Corben“.

In „Mutantenwelt“ erzählen Strnad und Corben die Geschichte des naiven, verplanten Mutanten Dimento, der in einer postapokalyptischen Zukunft „nach dem großen Fehler“ nicht nur unter Hunger und Bestien leidet, sondern auch unter anderen Mutanten sowie einer schönen Frau, Soldaten, Klonwissenschaftlern und Priestern, die ihn allesamt ausnutzen und verletzten. Im freizügigeren, durchdachteren und von den Machern favorisierten Nachschlag „Sohn der Mutantenwelt“ liegt der Fokus dann auf Dimentia. Sie streift mit ihrem riesigen Grizzly Ollie als Freund und Reittier durch eine ungebrochen brutale Postapokalypse, in der noch immer das Gesetz des Stärkeren gilt, das Überleben hart umkämpft ist. Dimentia und ihr Bärenfreund geraten zwischen Siedler, eine Mutantenbande auf dem Kriegspfad, zwei Jäger und einen fliegenden Astronom, der davon überzeugt ist, dass diese raue Welt bald endgültig untergehen wird …

Wie bereits erwähnt, ist das Sequel über die Mutantenwelt runder und stimmiger als das originale Serial, das allerdings seinen eigenen ungeschlachten Charme hat. Anhänger von Corbens Œuvre und/oder deftigen postapokalyptischen Stoffen werden beiden simplen, aber allemal unterhaltsamen Geschichten in der Gesamtausgabe etwas abgewinnen können. Dazu muss man kein Comic-Historiker sein, wenngleich hier eine eigene Faszination ins Spiel kommt angesichts der ersten Storyline und ihrer Kolorierung. Als Bonus gibt es im Hardcover noch Vor- und Nachworte der Kreativen aus verschiedenen Epochen, eine Cover-Galerie und ein paar Referenzfotos, auf denen Corben, Strnad, Karen Gilbertson und Bruce Jones zu sehen sind, die in Figuren der Mutantenwelt verwandelt werden sollten.

 

Das Warten auf Vic und Blood

Nachdem Splitter vor „Mutantenwelt“ die unverzichtbare „Creepy präsentiert“-Gesamtausgabe und die überragende Poe-Sammlung „Geister der Toten“ veröffentlichte und im All Verlag die neuzeitliche Warren-Hommage „Schatten auf dem Grab“ von Corben and friends erschien, warten Corben-Bewunderer nun eigentlich nur noch auf eine überfällige Neuausgabe der legitimierten Comic-Interpretation von Ellisons „Vic und Blood: Die Geschichte eines Jungen und seines Hundes“ durch Richard Corben, die 1988 entstand.

Bis dahin erstrahlt die postapokalyptische Mutantenwelt in neuem Glanz und in ihrer definitiven Form – eines von vielen passenden, exemplarischen Denkmalen für Comic-Meister Richard Corben, der nun im Alter von 80 verstorben ist.

Alle Bilder: © Richard Corben; Autorenfoto: Dona Corben

Jan Strnad, Richard Corben: Mutantenwelt Gesamtausgabe • Splitter, Bielefeld 2020 • 160 Seiten • Hardcover: 35 Euro


aus „Mutantenwelt Gesamtausgabe“; Splitter


aus „Mutantenwelt Gesamtausgabe“; Splitter


aus „Mutantenwelt Gesamtausgabe“; Splitter


aus „Mutantenwelt Gesamtausgabe“; Splitter

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