17. Dezember 2020 3 Likes

„Cyberpunk 2077“: Die Qual der undurchsichtigen Wahl

Meisterhaftes Dystopie-Building mit spielerischen Schwächen

Lesezeit: 7 min.

„Gut Ding will Weile haben“ ist ein Maxim, dem sich der polnische Softwareentwickler CD Project Red eindeutig verschrieben hat, denn nach etlichen Verschiebungen ist das im Jahr 2013 angekündigte Großprojekt endlich da: „Cyberpunk 2077“. Und je nach Wahl der Plattform (PC, Xbox One, Series S & X, PS4, PS4 Pro und PS5) ist das „Ding“ auch „gut“. Wessen Wahl aber arbiträr schlecht ausfällt, der hätte sich etwas mehr „Weile“ gewünscht. Denn auf den Lastgen-Konsolen sowie der PS4 Pro und Series S zeigt sich wahrlich ein elektrisierendes Schreckgespenst, das anderweitig ein wunderschön ausgearbeitetes RPG sein könnte, mit einer (wieder) frischen, äußerst lebendigen, homogenen Spielwelt, das aber auf allen Plattformen mit Gameplaynöten ringt.

Die Story „Cyberpunks“ ist relativ schnell erzählt: Spielfigur V möchte sich in der pulsierenden Metropole Night Citys einen Namen machen und – je nach ausgewähltem Lebenspfad zu Beginn – startet die Reise an einem anderen Ort. Mit im Schlepptau ist der beste Freund Jackie Welles, der mit V für einen Job angeheuert wird, der Arasaka Megacorporation einen Biochip zu stehlen. Natürlich läuft einiges während der Beschaffung aus dem Ruder und aus gegebenen, äußerst interessanten Anlässen, die nur Sci-Fi auftischen kann, tritt Keanu Reeves’ freigeistiger aber gelegentlich äußerst unsympathischer Rocker/Terrorist Johnny Silverhand in Vs Leben.

„Cyberpunk 2077“ ist eindeutig das ambitionierteste Game aus CPRs Geschichte, was die Story und die daraus resultierenden Entscheidungen verdeutlichen. Das Garn, das um Spielfigur V, den eigensinnigen Johnny und den Biochip gesponnen wird, wartet bereits zu Beginn mit einigen Wendungen auf, die in weiser Voraussicht nicht durch Promomaterial gespoilert wurden. Allerdings wird auch hier der Kern, den die Spieler rausholen, stark davon abhängen wie viel zuvor investiert wurde. Auch wenn die Hauptstory nach gut 25 Stunden abgeschlossen ist – und während dessen Verlauf erstaunlich wenig wirklich reaktive Handlungsfreiheit gelassen wird – werden die meisten Spieler, die nicht viele der erschlagenden Masse an Sidequests absolvierten, vermutlich eines der tristeren Enden in leicht abweichender Konfiguration sehen. Ein oder eine V, die jedoch kampferprobt und gestählt im neongetauchten Feuer Night Citys und zahlloser Nebenquests und mit einer Fülle an neuen Freunden dem Finale entgegentritt, wird sich mit gänzlich anderen, weitreichenderen Entscheidungsmöglichkeiten konfrontiert sehen und quasi zwischen fünf drastisch unterschiedlichen Finalakten wählen können, mit noch weiter ausfächernden Subkonfigurationen. Diesen Umstand verdeutlicht „Cyberpunk 2077“ dem Gelegenheitsspieler aber leider in keiner Form, während viele RPGs die offensichtlichen „großen Entscheidungen“ im Verlauf der Hauptstory verstecken.


Solche Anblicke sind leider immer noch keine Seltenheit auf PS4 und Xbox One

Night City ist eindeutig das frenetisch trommelnde, pulsierende Herz von „Cyber Punk 2077“. Sex, Gewalt, Herzschmerz, Klamauk und Komik – und eine ganze Menge an „really weird Shit“ existieren harmonisch Seite an Seite und sind meist nur durch eine Neonreklame oder eine Sexshow voneinander getrennt. In Night Citys Herz existieren Kreol sprechende Voodoo-Gangster der haitianischen Diaspora direkt neben aristo-technokratischen Japanern und geifernden Straßenpropheten. Dieser Schmelztiegel zeigt sich auch in den Outfits, der Architektur der Stadtteile und vor allem der musikalischen Untermalung. Im Verlauf der Story, in den Nachtclubs, auf Straßenmärkten und bei einer gelassenen Autofahrt schallen Elektropop, metallisches Kreischen, klassische Streichmusik und basslastiger Hiphop aus allen Richtungen, die aber ein unglaublich detailverliebtes, homogenes Ganzes ergeben und wie ein einzigartiges Puzzleteilchen eines großen Kunstwerks wirken, statt einem Potpourri in dem man jede Zutat herauspicken kann. Und im gleichen Stil offenbaren sich die fantastischen Nebenquests, die Night City und der Hauptstory ihre Würze verpassen. Man weiß nie, was einen als nächstes erwartet, wenn man einem der nahegelegenen Fragezeichen auf der Map entgegenläuft oder einen der zahlreichen Anrufe entgegennimmt: Sprechende, entflohene Taxis und mit Persönlichkeiten versehene Pistolen, illegale Preiskämpfe, einem äußerst emotionalen Tauchgang oder zutiefst verstörende Auftragskillerarbeit mit dem prophetischen Namen „Sinnerman“ („Sünder“). „Cyberpunk 2077“ kann zum Schreien lustig sein und wenige Minuten später den moralischen Boden unter den Füßen entreißen, dass die Kinnlade herunterklappt. Auch die Hauptstory hat viel Emotion in petto und wartet mit Dostojewksi’schem philosophischem und moral-humanitärem Gedankengut auf.


Häufig bleibt einem die Wahl, wie man an eine Situation herangehen möchte. Im Stillen …

Aber wie auch Night City offene Abgründe zeigt, bleibt „Cyberpunk 2077“ nicht verschont. Die PS4-, Pro-, Xbox One- und Series S-Versionen sind schlichtweg unterirdisch. Was die Grafik angeht erwarten den geneigten Käufer unscharfe, bis zur Unkenntlichkeit verwaschene Texturen und Popups von NPCs, architektonischen Gebilden, Autos, Waffen – eigentlich so alles, was die Grafikpalette hergibt. Je nach eigener Erfahrung kann dann aber auch das Spielerlebnis zum Horrortrip werden, denn Abstürze können die Regel werden sowie verstörende und urkomische Bugs und Glitches wie dauerhaft stöhnenden NPCs oder nicht fertig geladene Gesichtstexturen, die einfrieren und eher an John Carpenters „Das Ding aus einer anderen Welt“ als an „Cyberpunk“ erinnern. Und hier sind noch nicht einmal die etlichen kleinen Makel und spielerischen Unschönheiten aufgezählt wie nicht auszuführende Befehle bei Knopfdruck, lange ladende Menüs, auch wenn im Hintergrund die Action noch fortlaufend ist oder verschwindende NPCs.

Und auch das Gameplay lässt leider trotz überschwappender Möglichkeiten zu wünschen übrig, denn viele der Skills und Fertigkeiten zeigen erst deutliche Wirkung, wenn man die hohen Level erreicht (von 50 Levelstufen Vs) und alles darin investiert. So sind zu Beginn Attributpunkte in Konstitution, Reflexe, technische Fähigkeiten, Coolness und Intelligenz zu verteilen, die einen Maximalwert von 20 haben können und stetig neue Perks und Skills freischalten, je nach Attributwert, und abschließend bei Levelaufstieg einen frei verteilbaren Attributpunkt mit sich bringen. So bleiben bei 50 Leveln bei ausgewählter Konzentration des Spielers gut zwei Attributwerte, die man auf das Maximum von 20 steigern könnte, um an die wirklich guten Skills zu kommen. Das einzige Problem dabei ist, dass sich die Punkte nicht zurücksetzen lassen und somit das Experimentieren zurückhalten. Auch wenn im Verlauf des Games die eigene Spielweise fortentwickelt und herauskristallisiert werden sollte, könnte man sich gerade später über früh verschwendete Attributpunkte ärgern. So kann man sich zwar innerhalb der Missionsparameter in ein Gebäude hereinschleichen und bei hoher Konstitution Türen aufbrechen, oder bei technischem Knowhow stattdessen Türen hacken oder sich schlichtweg mit der Pistole im Anschlag reinballern.


… oder mit gezückten Waffen, voller Glanz und Glorie

Aber wenn es ans Eingemachte geht, bleibt dem Spieler oft nur eine Wahl, wenn man sich  festgefahren hat: Hacken, hacken, hacken bis der Feind umfällt und gelegentlich ein paar Kugeln verschießen, oder man schleicht sich auf die stets gleiche Art durch jeden Komplex und schaltet systematisch auf die gleiche Art und Weise einen nach dem anderen aus. Etwas Abwechslung können hier die aktiv durch Nutzung gesteigerten Subattribute wie Stealth, Athletik. verschiedenen Feuerwaffenspezifikationen usw. bieten, die durch stetige Anwendung automatisch steigern und neue Perkpunkte freischalten. Aber auch hier läuft es wieder darauf hinaus, dass diese von den gesetzten Attributpunkten beschränkt werden. So wird man auch bei dauerhaftem Schleicheinsatz nur die Perks freischalten können, die der gesetzte Attributwert der Oberkategorie (hier Coolness) freigibt. Anzumerken sei noch, dass jede Waffe geführt werden kann – inklusive der Ausrüstung der einzigartigen „ikonischen“ Klasse, die ganz besondere Fertigkeiten mit sich bringt – aber viele erst bei genügend gesetzten Attributpunkten ihr wahres Potenzial offenbaren.

„Cyberpunk 2077“ ist letztlich ein Kind seiner Zeit: Viel zu früh angekündigt und doch in einigen Fällen viel zu früh auf den Markt geworfen. Die PS4 und Xbox One-Versionen sehen und spielen sich zwar auf den neuen Konsolen der PS5 und Series X deutlich besser, bleiben aber vermutlich der breitesten Masse, die dank Lieferengpässen und Botkäufen nicht auf Nextgen umsteigen konnte, noch verwehrt. So bleibt lediglich der Griff zur PC-Version, falls man einen starken Heimrechner sein Eigen nennen kann. Laut CD Project Red war den Entwicklern der Stand der Lastgen-Versionen nicht bewusst, was ein wenig befremdlich wirkt, wenn man verkündet, dass allein der Preorderkauf die 8-Millionen-Marke geknackt hat und die Entwicklungskosten eingespielt sind, von denen der Großteil vermutlich auf die alten Konsolen fallen wird und man schließlich auf über 7 Jahre offener Entwicklungszeit zurückblicken kann.


In den Nebenquests steckt die volle Ladung an goldenen Überraschungen

Dafür kommen noch im Frühjahr 2021 die waschechten Nextgen-Versionen auf den Markt, die dann auch kostenlos für jeden Besitzer der Lastgen verfügbar sein werden. Hier sei gesagt, dass jeder, der bislang warten konnte, dies auch bedingt noch tun sollte, oder sich im Klaren sein muss, dass das eigene Spielerlebnis getrübt werden kann. Darüber hinaus gesehen, wartet „Cyberpunk 2077“ mit einer emotionalen Achterbahnfahrt auf, die Dank des inzwischen wieder frisch wirkenden Cyberpunk-Settings immense Entscheidungsfreiheit bietet, wenn auch vieles davon zunächst undurchsichtig oder versteckt bleibt. Ein Game of the Year ist „Cyberpunk“ für den bescheidenen Autoren vermutlich nicht, mit oder ohne Bugs, aber dennoch ziemlich nahe dran.

„Cyberpunk 2077“ ist seit dem 10. Dezember 2020 für PC, Xbox One und Playstation 4 erhältlich.

Cyberpunk 2077 • CD Project Red • RPG • PC/Xbox One/PS4

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