Der Beginn einer neuen Zeitrechnung
Eine erste Leseprobe aus Kathleen Weises Science-Fiction-Debüt „Der vierte Mond“
Ein bisschen rar sind sie in der deutschsprachigen Science-Fiction-Landschaft schon noch, die starken Geschichten von starken Autorinnen. Umso schöner, dass sich nun mit Kathleen Weise, die am renommierten Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studierte, eine wunderbare Erzählerin des Genres angenommen hat. In ihrem Debüt „Der vierte Mond“ (im Shop) führt sie uns nicht nur die menschlichen Abgründe auf der Erde vor Augen, sondern nimmt uns auch mit zu den Sternen, genauer gesagt zum ewigen Eis des Jupitermondes Kallisto. Dort beginnt ihre Geschichte, und sie beginnt mit einem Knall …
„Der vierte Mond“ erscheint am 08. Februar 2021, und wir wünschen Ihnen schon einmal viel Vergnügen mit unserer kurzen Vorableseprobe.
1
Im Jahr 2104,
Jupitermond Kallisto, Chione-Station
Obwohl er es besser weiß, hofft Sam auf ein Wunder.
Genau wie damals, als Ida nach dem Unfall mit dem Highbus ins Koma gefallen ist. Oder als sie beim Stevinus-Aufstand auf dem Erdmond den Weltraumhafen gegen Saboteure verteidigt haben und Colin neben ihm getroffen zu Boden ging. Sam glaubt nicht an Wunder. Aber jetzt hofft er auf eins.
»Wir müssen etwas tun!«, schreit er, aber niemand bewegt sich.
Dicht gedrängt steht die Crew im mittleren der tief ins Eis eingelassenen Kokons aus Basaltfaser, dem Zentrum dieser merkwürdigen Stationsblume, die sie alle nur spöttisch das Gänseblümchen nennen.
»Was hat Mercer vor?«, fragt Laure. Vorgebeugt starrt sie auf die CommWall und versucht zu begreifen, was sie auf den Monitoren sieht. Ihre Stirn glänzt feucht von Furcht und Fieber, und immer wieder ruft sie Mercers Namen.
Doch der Pilot im Orbiter Hunderte Kilometer über ihnen reagiert nicht.
Sam blickt hinauf zum Deckenlicht des Moduls, durch das spärlich Licht fällt, aber dort ist nichts zu erkennen. Die Eurybia und Mercer befinden sich beinahe auf der anderen Hemisphäre des Jupitermonds. Nur die ohrenbetäubenden Warnsignale, die durch das Schiff schallen, sind über die Funkverbindung zu hören.
»Dieser Idiot«, flüstert Sam. Auf den Monitoren beobachtet er, wie Mercer zitternd in der Eurybia sitzt und von Dingen redet, die sie hier unten auf Kallisto weder sehen noch verstehen können. Dabei läuft dem Piloten der Schweiß übers Gesicht, und seine Augen sind rosa unterlaufen wie bei einem fiebernden Kleinkind.
»Er halluziniert«, sagt Bea. Auch sie wirkt blass und verschwitzt.
»Wir könnten den Lander startklar machen und versuchen, ihn zu erreichen«, schlägt Sam vor, aber Adrian schüttelt den Kopf.
»Niemand kann an ein Schiff andocken, dessen Flugroute er nicht berechnen kann«, sagt er, seine sonst ruhige Commander-Stimme zittert. Das Fieber steigt bei ihm stündlich.
»Was ist mit der Überbrückung von hier aus?«
Joãos Finger fliegen erfolglos über die Displays der CommWall. Sein T-Shirt ist im Rücken dunkel vom Schweiß, und nervös tritt er mit dem Ballen gegen den Hocker, auf dem er sitzt. »Mercer hat eine Blockade eingebaut«, sagt er, »die ich so schnell nicht auflösen kann, er fliegt das Schiff manuell. Das ganze System läuft auf Sparflamme, wir haben Glück, dass die Bordkamera überhaupt noch etwas zu uns überträgt.«
Laure legt ihm die Hand auf die Schulter, und sofort hört er auf, den Fuß zu bewegen. Einer nach dem anderen versuchen sie, über Funk auf Mercer einzureden, aber er scheint sie gar nicht zu hören.
Als Letzter versucht es Sam. »Mercer!«, schreit er. »Du musst den Kurs ändern! Du wirst aufschlagen.«
Keine Reaktion.
Während die Eurybia immer schneller auf Kallistos Oberfläche zurast, brüllt sich Sam heiser, bis ihm schwindlig wird und Laure sein Handgelenk packt. »Brems ab!«, ruft er weiter. Wieder und wieder, bis ihm die Stimme bricht. Laures Griff wird schmerzhaft, aber er sagt nichts dazu.
Am Ende müssen sie zusehen, wie Mercer unbeweglich auf die Frontscheibe der Eurybia starrt, hinter der Kallisto immer näher kommt. Diese schmutzige Eiskugel ist alles, was Mercer noch vor sich sieht. Dann gibt es einen Lichtblitz auf den Monitoren der Station, der sie alle nach hinten zucken lässt, und das Bild erlischt. Der Ton hält sich einen Augenblick länger.
Siebenundvierzig Sekunden nach Kontaktabbruch hört die Eurybia auf, Signale von der anderen Seite des Jupitermonds zu senden. Die letzte Anzeige geht auf Null – doch noch immer bewegt sich niemand. Mit hochgezogenen Schultern sind sie vor den Monitoren erstarrt, und Sam schnappt nach Luft, weil ihm das Atmen so schwer fällt wie nach einem Marsch über unebenes Gelände.
Die Eurybia war ihr wachsames Auge im Orbit über ihnen. Ihr Absturz lähmt sie, aber solange sich niemand bewegt und keiner spricht, steht auch die Zeit still. So lange ist Mercer noch am Leben und die Eurybia nicht zerstört.
Erst dann sitzen sie auf Kallisto fest, und Sam muss einsehen, dass das Wunder, auf das er gehofft hat, nicht geschehen ist.
Kathleen Weise: „Der vierte Mond“ • Roman • Wilhelm Heyne Verlag, München 2021 • 448 Seiten • Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)
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