„Der Hafen der Geheimmisse“
Ein charmanter Parallelwelt-Comic von Pierre Gabus und Romuald Reutimann
„Der Hafen der Geheimmisse“ ist eine neue Comic-Serie aus Frankreich, die von Autor Pierre Gabus und Zeichner Romuald Reutimann entwickelt wurde. Ihr erstes Album „Das Monster aus dem Meer“, gerade im Hamburger Carlsen Verlag auf Deutsch erschienen, siedeln die beiden Kreativen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und vor allem in der halbfiktiven nordfranzösischen Küstenstadt New Cherbourg an – und zwar in einer fantastischen Parallelwelt, in der es nicht nur Menschen gibt, sondern auch grüne Meerleute und anderes.
In New Cherbourg wissen dennoch nur wenige Eingeweihte, dass die Gründler existieren, die einer hochentwickelten Kultur am Grund des Ozeans entstammen und mitunter auf riesigen Fellwalen reiten. Geht es nach den paar Insidern auf dem Festland, die mit retrofuturistischen Tauchbooten zu den Gründlern gelangen, bleibt das besser so, soll nicht einmal der zuständige Minister mehr erfahren, weil man ihm nicht trauen kann. Als eine Akte über einen vor nicht allzu langer Zeit gestrandeten Fellwal von ausländischen Spionen gestohlen wird, müssen die New Cherbourger Agenten-Zwillinge Emile und Emil, die schräge Superkräfte haben und sich z. B. in Stein verwandeln können, in Aktion treten und die Übergabe der Dokumente im örtlichen Hotel vereiteln, wo gerade eine neue Ladung exotischer Vögel mit dem Luftschiff angekommen ist. Aber auch der junge Gus, der Möwen mit viel Geschick und einem nicht ganz so sonnigen Ziel abrichtet, und seine schwimmerprobte Schwester Julienne werden in die Angelegenheit der Geheimagenten involviert …
Der im echten Cherbourg geborene Romuald Reutimann und sein französischer Landsmann Pierre Gabus, beide Mitte 50, debütierten 2004 mit „Valbert“ gemeinsam und inszenierten zusammen z. B. noch das 2012 auf dem bekannten Comic-Festival in Angoulême als beste Serie ausgezeichnete „Cité 14“ sowie „L’extravagante Croisière de Lady Rozenbilt“. In „Der Hafen der Geheimmisse“ setzen sie auf den so genannten Atomstil, der die klassische, prägende Ligne claire des frankobelgischen Comics nach den Klassikern von Hergé und Co. in den 1970ern mit einem humoristischen, wenn nicht sogar satirischen Augenzwinkern weiterentwickelte. Es geht noch immer ausgesprochen klar und realistisch zu, jedoch etwas freier und funnier, um nicht zu sagen: schwungvoller. Das sieht in diesem Fall wieder einmal sehr hübsch aus und hat nicht zuletzt einen Schuss Tardi, gehört allerdings auch klar zu einem massiven nostalgischen Ansatz der Abenteuerserie zwischen Krimi, Fantasy und Science-Fiction. Dasselbe gilt für den eigensinnigen Erzählstil: Die Story entwickelt sich bloß langsam und kommt ausgesprochen episodisch daher, sogar mit mehreren klaren Brüchen und nur wenigen Höhepunkten in der Handlung. Im Original heißt die Serie ganz passend „New Cherbourg Stories“, und die ersten Geschichten wurden vor ihrer Albumveröffentlichung sogar klassisch in Zeitungen und Magazinen serialisiert.
Und trotzdem liest man „Das Monster aus dem Meer“ irgendwie gern – nicht gebannt, nicht geflasht, aber einfach gern. Genug Behaglichkeit und Charme muss diese neue, auf alt gemachte Genre-Serie dann ja haben. In das zweite Album „Die Stille des Meeres“ wird man Ende Dezember deshalb gerne reinschauen.
Abb.: © Gabus, Reutimann, Casterman. © der deutschen Ausgabe Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2021
Pierre Gabus, Romuald Reutimann: Der Hafen der Geheimnisse Bd. 1: Das Monster aus dem Meer • Carlsen, Hamburg 2021 • 64 Seiten • Album: 12 Euro
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