27. Dezember 2021

Die Aufzeichnungen eines Stalkers

Bestsellerautor Wladimir Kaminer über Arkadi und Boris Strugatzki, „Stalker“, Andrei Tarkowski und die Zonen

Lesezeit: 14 min.

Kaum ein anderer Roman in der Geschichte der russischen Science-Fiction erfreut sich so großer Beliebtheit wie Arkadi und Boris Strugatzkis Klassiker Picknick am Wegesrand, jetzt neu übersetzt unter dem Titel Stalker (im Shop). Seit seinem Erscheinen vor 50 Jahren begeistert die Geschichte von Red Shewhart, dem Stalker, der in die geheimnisvolle Zone eindringt und von dort mysteriöse Objekte, von Außerirdischen zurückgelassen, mitbringt, immer neue Generationen von Leserinnen und Lesern. Bestsellerautor Wladimir Kaminer (Russendisko) ist Strugatzki-Fan der ersten Stunde. In seinem Vorwort zur Neuausgabe erzählt er, wie er Stalker zum ersten Mal gelesen hat, was dieses Buch für ihn so außergewöhnlich macht, wie man in der Sowjetunion an Bücher kam und warum Stalker bis heute so faszinierend ist – und noch einiges mehr …

 

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Der Stalker ist ein Mensch, der über Kenntnisse von anomalen Territorien und Gebäuden verfügt und diese Territorien und Gebäude permanent besucht, um ein ästhetisches und psychisches Wohlbehagen zu erlangen.

– aus der russischsprachigen Wikipedia

 

In vielen Bereichen glich meine Heimat, die Sowjetunion, einem Wunderland. Nehmen wir zum Beispiel die Literatur. Als ich das lesefähige Alter erreichte, zählte der Schriftstellerverband der Sowjetunion zehntausend Mitglieder und ein paar Zerquetschte. Um in diesen Verband aufgenommen zu werden, musste man nach damals geltenden Regeln mindestens zwei Bücher veröffentlicht haben und eine von drei Kollegen unterschriebene Bestätigung vorweisen können, dass man auch, wie sie, Schriftsteller sei. Nach diesem Konzept hätten sich die Bücherregale in der Sowjetunion unter der Last der zeitgenössischen Literatur krumm biegen müssen. Sie waren aber leer.

Es war nicht eindeutig klar, welche Rolle die Schriftsteller in unserer Gesellschaft spielten, welche geheime Aufgabe sie zu erfüllen hatten. Aber der sowjetische Staat kümmerte sich sehr um die Mitglieder des Schriftstellerverbandes. Die sowjetischen Schriftsteller waren eine privilegierte Kaste; viele von ihnen lebten in den speziellen »Häusern der Schriftsteller«, sie hatten ein eigenes Literarisches Institut, eigene Restaurants und Sanatorien, die nur für Mitglieder zugänglich waren; ja, ganze Dörfer wurden in »Schriftstellerdörfer« verwandelt. In meiner Fantasie lebten diese Schriftsteller immer spartanisch, gingen einander abends besuchen, und anstatt einen Nachbarn mit »Hallo« zu begrüßen, sagten sie: »Na, was schreibst du denn gerade?«

In der Nähe meines Studienortes am Leningrader Prospekt hinter der Metrostation Aeroport befand sich ein solches Haus der Schriftsteller, an allen Ecken mit Gedenktafeln geschmückt, auf denen die Namen von großen Autoren der Vergangenheit standen, die wir im Schulunterricht auswendig zu lernen hatten. Ich bin damals jeden Tag in der Mittagspause an diesem Haus zum Pelmeni-Essen in die Pelmeni-Kantine vorbeigegangen und habe jedes Mal neugierig geguckt, ob ein Schriftsteller aus der Tür tritt. In Tücher gewickelte Omas saßen auf einer Bank vor dem Treppenhaus; ein südländisch aussehender Mann in Trainingshosen ging mit seinem Hund spazieren; einmal kam ein Mädchen auf dem Fahrrad direkt aus der Tür rausgefahren; junge Mütter mit Kinderwagen trafen sich – allesamt äußerst unliterarisch aussehende Bürgerinnen und Bürger.

Ich habe in den fünf Jahren meines Studiums keinen einzigen richtigen Schriftsteller mit Bart und Brille vor diesem Haus gesehen. Dabei konnte man bei uns in jedem Bezirk, ach was, fast auf jeder Straße eine große Buchhandlung finden. In der Regel trugen die sozialistischen Geschäfte die Namen der Waren, die sie anboten. Sie hießen schlicht und einfach »Obst und Gemüse«, »Milch« oder »Brot«. In unserem Bezirk gab es einen sehr großen Laden, der »Streichhölzer« hieß. Anders bei den Buchhandlungen. Diese trugen oft Namen, die nichts über den Inhalt der Läden verrieten. Sie hießen »Sonnenaufgang«, »Horizont« und »Fortschritt«. Zum Sortiment dieser Buchhandlungen zählten vor allem Postkarten und Schulbedarf: Hefte, Kugelschreiber, geografische Karten und ein Globus, auf dem unsere Heimat, immerhin das größte Land der Erde, wie ein riesiger roter Tintenfleck die halbe Kugel bedeckte, darum herum ein unruhiges Meer aus Farben, braun, grün und blau, die unser rotes Vaterland umschlangen, dazu die unerreichbaren Ozeane und die beiden Amerikas.

Im Buchladen Sonnenaufgang in der Straße der Jungen Partisanen neben meiner Schule hing noch eine alte Weltkarte an der Wand. Auf dieser Karte lag die Erde auf dem Rücken von vier Elefanten, die wiederum auf einer Schildkröte standen. Jedes Mal, wenn wir die Schule schwänzten, kauften wir im Eis-Kiosk die superleckeren Waffelröhrchen mit Milchmädchencreme und gingen in den Buchladen. Dort brach unvermeidlich die Diskussion über den Sinn der Elefanten aus. Welche Rolle haben die Elefanten im Weltverständnis unserer Vorfahren gespielt? Die einfachste Erklärung wäre, dass die Elefanten verhindern, dass die flache Erde runterkracht. Dafür würde aber die Schildkröte allein schon vollkommen ausreichen. Einige meiner Schulkameraden vertraten die These, die Elefanten würden mit ihren Rüsseln dafür sorgen, dass sich die Erde durch ihre eigene Schwerkraft nicht verkrümmt und in ein Waffelröhrchen verwandelt, sondern weiter brav und flach wie ein Pfannkuchen daliegt. Das ergab Sinn, denn sonst würden sich alle Länderfarben auf unserem Planeten vermischen und wir hätten in diesem Röhrchen überhaupt keine Heimat mehr.

Wahrscheinlich hatten die sowjetischen Schriftsteller eine ähnliche Aufgabe wie die Elefanten in der Scheibenwelt: Sie sollten unsere Gesellschaft flach halten, damit sie sich nicht krümmt. Ob sie dafür Bücher schrieben, an bestimmten Ritualen teilnahmen oder nur vor sich hin lebten, ist aus heutiger Sicht schwer zu sagen.

Zu behaupten, es habe gar keine Bücher in den sowjetischen Buchläden gegeben, wäre eine Übertreibung. Wir hatten in unserem Sonnenaufgang ein Buchtauschregal mit russischen Ausgaben interessanter ausländischer Autoren, die man jedoch nicht erwerben, sondern nur gegen noch interessantere Ausgaben tauschen konnte. Zum freien Erwerb wurden eine Sammlung der ausgewählten Texte von W. I. Lenin, vor allem sein schmales Büchlein mit dem Titel Materialismus und Empiriokritizismus, zwei Romane des damaligen Generalsekretärs L. I. Breschnew und zwei Bildbände angeboten: Die Errungenschaften des elften Fünfjahresplans und Sibiriens berühmte Baustellen.

Uns war schon damals klar, dass unser Generalsekretär, der kaum auf den Beinen stehen, geschweige denn sprechen konnte, seine Romane nicht selbstständig verfasste. Sicherlich hatten ihm ein paar zerquetschte Schriftsteller aus dem Verband dabei geholfen. Dass alle zehntausend daran geschrieben hatten, war schwer vorstellbar.

W. I. Lenin hingegen hatte seine Abhandlungen bestimmt selbst geschrieben; sie waren in meiner Jugend nicht nur in der Buchhandlung, sondern überall präsent. Materialismus und Empiriokritizismus zum Beispiel lag auch im Warteraum des Friseurs auf dem Tisch. Dieses Büchlein hatte, wie gesagt, nur wenige Seiten, und ich habe es sehr oft in der Hand gehabt, aber nie zu Ende gelesen. Interessanterweise lag Materialismus und Empiriokritizismus auch in der Poliklinik beim Zahnarzt vor der Tür, so wie heute in der uns vertrauten Welt beim herkömmlichen Zahnarzt im Wartezimmer beruhigende Lektüre auf dem Tischchen ausgelegt wird, die Zeitschrift Barbara etwa oder ADAC Motorwelt, die den Warteraum in eine Komfortzone verwandeln, den Patienten beruhigen und ihn möglicherweise von seinem Schmerz ablenken. Diese Rolle spielte in meiner Heimat Lenins Buch.

Bei vielen meiner Landsleute ist diese Lektüre mit ihrer inneren Komfortzone zusammengewachsen. Ich kenne Menschen, die diese Abhandlung später in die Migration mitnahmen. Ich selbst suche manchmal unbewusst danach, wenn ich mich unsicher und verlassen auf fremdem Terrain fühle. Und trotzdem bezweifle ich sehr, dass jemand von uns Materialismus und Empiriokritizismus zu Ende gelesen hat – außer W. I. Lenin.

Aber gut, wir haben uns verplaudert und sind vom Thema abgekommen. Es gab also keine Bücher in den Geschäften und keine Autoren zum Anfassen. Gleichzeitig waren wir »das belesenste Land der Welt«. Alle hatten zu Hause große Bibliotheken. Die Bücher erreichten ihre Leser an den Ladentheken vorbei. Sie wurden in den unzähligen Büros, Instituten und Betrieben als spezielle »Bestellungen zu den Feiertagen« verteilt, sie wurden gegen zwanzig Kilogramm Altpapier in den »Sammelpunkten der sekundären Ressourcen« getauscht, sie wurden in den Hauslotterien verlost, auf dem Schwarzmarkt gekauft und in eigener Produktion zu Hause hergestellt.

Manchmal ergab sich die Möglichkeit, ein begehrtes Buch »mit Zugabe« zu erwerben: Man war verpflichtet, neben der Wunschlektüre noch zwei Exemplare von Sibiriens berühmte Baustellen zu kaufen. Die konnte man wiederum später an den Sammelpunkten für sekundäre Ressourcen gegen Die drei Musketiere von Alexandre Dumas tauschen. Manche Bücher hatten einen sehr langen Weg kreuz und quer durch das ganze Land, bis sie ihre Leser erreichten.

Die sowjetische Planwirtschaft belieferte alle Buchläden gleichermaßen spärlich, und wenn die Bücher in den Großstädten innerhalb von Sekunden aus den Regalen verschwanden, so konnten sie in von den Metropolen weit entfernten Regionen noch eine Zeit lang in den Buchläden stehen, als wäre nichts geschehen. In Mittelasien, im Kaukasus oder in den kleinen lettischen Dörfern konnten nicht alle Menschen Russisch lesen, und viele wollten es auch gar nicht. Also fuhren die Großstädter in die Provinz – je weiter, desto besser –, besuchten dort die Buchläden und schleppten die Bücher nach Hause.

Komischerweise wurde die DDR von der sowjetischen Planwirtschaft sehr großzügig mit russischsprachigen Büchern beliefert, vermutlich in der Hoffnung, dass alle Ostdeutschen dadurch besser Russisch lernen würden. Die Ostdeutschen hatten alle Russisch in der Schule, aber die meisten haben nur ein Wort gelernt: Dostoprimetschatelnosti – Sehenswürdigkeiten. Das ist ein langes Wort, aber doch zu kurz, um auf Russisch Bücher lesen zu können. Wenn sowjetische Touristen in die DDR kamen, kauften sie die russischen Bücher und brachten sie in die Heimat zurück.

Der einfachste Weg, dem die meisten russischen Familien folgten, um an gute Literatur zu gelangen, war, ein Abonnement für eine Zeitschrift abzuschließen. Zusätzlich zu dem Abo bekam man die Möglichkeit, einen Vertrag für eine sogenannte »Bibliothek« zu unterschreiben. Jede Zeitschrift druckte nebenbei Bücher, die Band für Band jeden Monat (oder manchmal auch nur einmal im Jahr) an die Abonnenten verschickt wurden. Meine Mutter besaß ein Abo der Zeitschrift Feuerchen. Die Zeitschrift schickte uns regelmäßig wertvolle Ausgaben der Feuerchen-Bibliothek, jede Menge russische Klassik, vierzehn Bände Guy de Maupassant, der mir sehr gut half, munter durch die Pubertät zu kommen, fünfzehn Bände von H. G. Wells, daneben Romane von John Galsworthy, Jack London und Sir Arthur Conan Doyle, den mein Vater vergötterte.

Die neuen Bände von Conan Doyle ließen allerdings immer länger auf sich warten, irgendetwas war in unserem Wunderland kaputtgegangen. 1990 wanderte ich nach Deutschland aus, und meine Mutter folgte mir nach, ohne den letzten Band von Conan Doyle bekommen zu haben. Kurz danach löste sich die Sowjetunion auf. Mein Vater verkaufte unsere Moskauer Wohnung und packte die restlichen Sachen zusammen, um ebenfalls zu uns nach Berlin zu ziehen. Am letzten Tag vor seiner Abreise bekam er die Benachrichtigung: »Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass der letzte Band von Conan Doyle gerade zu Ihnen unterwegs ist.« Mein Vater stand vor einem Dilemma: Auf das Buch warten oder losfahren? Es war eine schwierige Entscheidung. Er hat sich nach längerem Zögern für die zweite Variante entschieden und ist nach Berlin gefahren, wo er nach vielen Jahren verstarb, ohne seine russische Conan-Doyle-Sammlung vervollständigt zu haben. Der letzte Band ist wahrscheinlich noch immer unterwegs.

Die zeitgenössische Literatur führte im Wunderland ein spannendes, anstrengendes Leben zwischen Augenzwinkern und Illegalität, sie tanzte ein seltsames Ballett auf den Lippen des Leviathans. Eine besondere herausragende Rolle spielte die Science-Fiction, auf Russisch »wissenschaftliche Fantastik« genannt. Sie war bei der Bevölkerung besonders beliebt. Weil diese Romane alle jenseits unseres Landes, auf einem anderen Planeten, in einer anderen Galaxie oder in einer anderen Zeit spielten, hatten sie bessere Chancen, an der staatlichen Zensur vorbei das Leben auf unserem Planeten, in unserem Land, in unserer Zeit zu thematisieren. Und die ungekrönten Könige der sowjetischen Fantasten waren die Brüder Strugatzki.

Eines ihrer bekanntesten Themen ist die plötzliche Veränderung eines Erdteils – wenn auf einem begrenzten Territorium die physischen und mentalen Gesetze durch einen historischen Kataklysmus oder einen Besuch von Außerirdischen verändert werden und eine Zone entsteht. Die Menschen, die um die Zone herum leben, wissen nicht genau, wofür die Zone gut ist, aber sie verbinden mit der Zauberkraft der Zone ihre Hoffnungen, ihre geheimen Wünsche und Träume, ihre Zukunft.

Unter Lebensgefahr gehen sogenannte Stalker in diese Zone, um dort nach den besonderen Dingen zu suchen, die unser Leben zum Positiven verändern könnten. Angeblich sei dort irgendwo eine Kugel versteckt, die alle Wünsche wahr werden lässt. Um an diese Kugel zu kommen, muss man einen Menschen opfern. Und das Glück, das mit einem solchen Preis erkauft werden muss, erweist sich als …

Ich möchte den Inhalt von Stalker, wie der Roman in der neuen Übersetzung heißt, jetzt nicht weiter verraten. Schließlich kann jeder das Buch selbst kaufen und lesen. Picknick am Wegesrand, so die Übersetzung des russischen Titels, wurde 1971, also vor genau fünfzig Jahren, geschrieben und ein Jahr später in einer Literaturzeitschrift veröffentlicht. Gleich danach wurde die Zeitschrift eingestellt und das Buch acht Jahre lang nicht mehr verlegt. Die sowjetische Zensur hatte sehr feine Antennen, und obwohl alle Helden des Romans ausländische Namen tragen, hat die Zensur in der Zone etwas gerochen – etwas zum Schreien Bekanntes.

Ich habe dieses Buch als Kind von meinem Onkel bekommen und es in einer Nacht verschlungen. Mein Onkel Stanislaw war ein begnadeter Handwerker. Neben seinem Job im Medizinischen Institut, wo er neue, festere Glasfaserstrukturen für irgendwelche Beatmungsgeräte entwarf, wartete er die Technik der kubanischen Botschaft in Moskau. Und in der kubanischen Botschaft standen Kopiergeräte. Stanislaw baute zu Hause eine portative Buchbinderei. Er vervielfältigte die Zeitschriftenausgabe von Picknick am Wegesrand in der kubanischen Botschaft und produzierte zu Hause ein schönes Hardcover aus sowjetischer Glasfaser. Mit der Zeit hatte Stanislaw eine Strugatzki-Gesamtausgabe aus eigener Herstellung. Er verlieh die Bücher aus seiner Bibliothek gerne an seine zahlreichen Freunde und Verwandte, so habe ich das Buch über den Stalker für zwei Nächte bekommen und es in einer Nacht durchgelesen. Diese Glasfaserbücher machten auf mich den Eindruck, als wären sie ebenfalls aus der Zone gekommen. Es waren Bücher aus einer Zukunft, die unsere Vergangenheit geworden ist. Krass, oder?

Die Sowjetunion war als Zukunftsprojekt entstanden. Das erklärte Ziel war es, im Kommunismus zu landen, in einer Gesellschaft der Glücklichen, in der jeder nach seinen Möglichkeiten gibt und nach seinen Bedürfnissen bekommt. Das Land war ziemlich verwahrlost, aber das reale Leid störte nicht. Was hatte es für einen Sinn, sich um das tägliche Brot zu kümmern, wenn wir kurz davorstanden, den Kommunismus zu erreichen, wo sich alle Probleme von allein lösen werden? »Unsere Kinder werden im Kommunismus leben«, hat W. I. Lenin gesagt.

Die Führer des Landes, unsere Stalker, wussten, was noch fehlte, sie gaben klare und unmissverständliche Anweisungen. »Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.« Gesagt, getan, das Land wurde elektrifiziert, nichts geschah. »Wir brauchen hunderttausend Traktoren, das Stahlpferd wird die alten Zossen der Bauern ersetzen und uns in den Kommunismus fahren«, hieß es in den Zeiten der Industrialisierung unter I. W. Stalin.

Nikita Chruschtschow hat später die leninsche Formel ausgeweitet: »Der Kommunismus kommt nach der vollständigen Elektrifizierung und Chemisierung des Landes«, sagte er. Er wollte unbedingt, dass bis nach Sibirien überall Mais wächst. »Aber spätestens 1980«, fügte er hinzu. Das ganze Land strengte sich an, um den Traum endlich Realität werden zu lassen, doch nichts geschah; das widerliche Schwein des Lebens holte uns immer wieder ein. Die ersten Zweifel kamen auf, sie wurden in der »wissenschaftlichen Fantastik« ausgedrückt. Was ist, wenn die Zone nur verspricht und nichts erfüllt, wenn es gar keine Abkürzung zum Glück gibt?

Ich habe das Gefühl, dieses Buch lebt. Seine Geschichte ändert sich alle sieben Jahre und wird mit der Zeit permanent fortgeschrieben. Damals, als ich die verbotene Variante auf dem Papier der kubanischen Botschaft von meinem Onkel ausgeliehen bekam, habe ich mich und meine Umgebung mit der Zone und deren Bewohnern verglichen. Im Buch werden sie nicht eindeutig beschrieben, aber nachts hört man aus der Zone seltsame zähneknirschende Geräusche. Außerdem kommen die verstorbenen Verwandten immer wieder aus der Zone in ihre alten Häuser zurück, sie können sich bewegen, essen und sogar trinken, sind aber Fälschungen, künstlich erzeugte Kopien von den echten Menschen, die nicht mehr leben. In unserem sozialistischen Alltag wimmelte es nur von solchen nachgemachten Figuren. Auch die Außerirdischen im Roman, wenn sie es denn wirklich gab, haben es gar nicht ernst mit uns gemeint. Sie haben hier eigentlich nur gefrühstückt. Ich fühlte mich auf einmal wie ein Teil des großen Experiments, wie ein Versuchskaninchen. Alles war bloß Schein.

Sieben Jahre nach dem Erscheinen von Picknick am Wegesrand kam der Film Stalker in die Kinos, der dem Regisseur Andrei Tarkowski zum Weltruhm verhalf und ihn gleichzeitig tötete. Es hat sehr lange gedauert, bis sich die Brüder Strugatzki und der Filmregisseur auf eine Drehbuchversion einigen konnten.

Tarkowski machte einen Film über das Scheitern der Zivilisation; darüber, was bleibt, wenn nichts mehr da ist. Eine lange Kameraeinstellung zeigt, wie am Grund eines Baches die übrig gebliebenen Teile einer Zivilisation liegen: alte Fotos, Uhren, Papierfetzen. Der Film begeisterte damals alle Cineasten (und tut das bis heute).

Für den Dreh suchte Tarkowski eine passende Landschaft und fand sie in der Nähe von Tallinn, auf dem Gelände eines geschlossenen Stromkraftwerks neben einem Chemiekombinat, dessen regenbogenfarbene Abfälle direkt in den See flossen. Dem Regisseur hat es sehr gefallen, dass die Wasseroberfläche dort in allen Farben leuchtete und sich sogar die Luft manchmal hellrosa färbte. Angeblich haben sich Tarkowski und seine Frau bei diesen Dreharbeiten Lungenkrebs geholt. Sie starben sieben Jahre später. Auch der Kameramann und etliche Schauspieler hatten nach dem Dreh mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen.

Im selben Jahr, in dem Andrei Tarkowski starb, explodierte der Atomreaktor in Tschernobyl. Das Unglück erschuf eine Zone – als würde das Leben dem Buch und dem Film nacheifern. Einige Jahre später kamen die ersten Stalker; Menschen, die in die Sperrzone von Tschernobyl eindrangen, um die verseuchten Raritäten herauszuholen. Der radioaktive Tourismus hat von Anfang an viele Anhänger, damals munkelte man schon, dass Radioaktivität in kleinen Dosen durchaus gut für die Gesundheit sein kann und bei bestimmten Menschen sogar übernatürliche Fähigkeiten, Telepathie oder Dauererektion hervorruft. Die realen Gaben der Tschernobyl-Zone, die vierköpfigen Pusteblumen, schleimige gelbe Pilze oder gigantische Welse, die Tauben fraßen, waren bei Weitem nicht so spannend wie die Gaben der Zone in Stalker.

Sieben Jahre nach der Reaktorkatastrophe nahm ich den Roman der Strugatzkis noch einmal in die Hand und stellte fest, dass sich meine Heimat dieses Buch offenbar zu einer Art »Roadmap« auserkoren hat. Die Strugatzkis waren die meistgelesenen Autoren in der Sowjetunion; auch nach dem Untergang des großen Landes wurden sie oft verlegt. Stalker ist der bekannteste ihrer Romane, die Gesamtauflage ihrer Bücher liegt bei um die vierzig Millionen Exemplare, und wenn man die ungezählten, von Lesern wie meinem Onkel Stanislaw in eigener Produktion hergestellten Ausgaben dazurechnet, müssten alle lesefähigen Russen ihre Geschichten gelesen haben. Und wenn ein ganzes Land das Gleiche gelesen hat, wird das Volk zum Autor der Fortsetzung. Noch heute spinnt Russland diese Geschichte der Schriftstellerbrüder weiter fort.

Inzwischen ist meine Heimat, die Sowjetunion, seit dreißig Jahren weg. Aber unsichtbar verfolgt sie uns weiter. Sie hat sich in eine große Zone verwandelt. Wie in einer Grube sind dort die schönsten und tollsten und zauberhaftesten Träume vergraben – von einem neuen Menschen, vom Land der Wunder und vom Glück für alle. Wie die Stalker gehen wir immer wieder hin, oft unter Lebensgefahr, um uns die seltsamen unerklärlichen Artefakte zu holen, um Kreativität und Lebenslust zu tanken und Dinge mitzunehmen, die wir nie richtig einsetzen können. Ich tue das auch. Ich tauche ab und zu in der Zone unter, um einen genialen Roman zu finden, der die Menschen zittern und lachen lässt, komme aber höchstens mit einem Vorwort wieder zurück.

 

Wladimir Kaminer: Vorwort aus: Arkadi und Boris Strugatzki: Stalker • Roman • Aus dem Russischen neu übersetzt von M. David Drevs • mit umfangreichem Bonusmaterial • Wilhelm Heyne Verlag, München 2021 • 400 Seiten • Als Paperback und E-Book erhältlich (Audio-Download im Shop von sprichwort-audioverlag.de) • € 12,99 (Paperback) im Shop

Mehr über Wladimir Kaminer erfahren Sie auf wladimirkaminer.de.

Titelbild/Autorenfoto © Boris Breuer

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