6. April 2023

„Atomic Heart“: Mehr als nur famoses Artdesign

Der dystopische Shooter aus dem Hause Mundfish im Test

Lesezeit: 5 min.

Wenn man sich mit Atomic Heart beschäftigt, kommt man zu Beginn um zwei Punkte nicht herum: zum einen die aktuelle politische Lage rund um den Ukrainekrieg, zum anderen die immens lange Entwicklungszeit. Um beide Punkte, die ja vielfach diskutiert wurden (u. a. auch von uns in mehreren Artikeln), gleich abzuräumen. Nein, Atomic Heart ist keine akute politische Propaganda, die in irgendeiner Form Russland huldigt oder die Vergangenheit, bei aller im Spiel vorhandenen Kritik am Kommunismus, mehr verklärt, als es etwa bei so vielen Shootern der Fall ist. Und ja, der Titel hält eben (wie fast jede Produktion) nicht alle Versprechen, die uns in den vielen Trailern über die Jahre gegeben wurden, überzeugt aber dennoch als erstaunlich packender Mix aus offensichtlichen Vorbildern, sodass sich Shooterfans auf diese Dystopie definitiv einlassen sollten.

Wer noch nicht im Bilde ist, hier die Eckpunkte des ersten Games aus dem Hause Mundfish. Die Story entführt uns in der Rolle eines russischen Elitesoldaten in eine alternative Timeline nach dem Zweiten Weltkrieg. Unter der Federführung eines genialen Wissenschaftlers gelang Russland ein bemerkenswerter Aufstieg im Bereich der Roboter- und KI-Technologie, der dazu führte, dass schwebende Städte oder gigantische Bahntrassen keine Utopie darstellen. Als sich jedoch die eigentlich schon fest im Alltag der Bevölkerung verankerten Roboter plötzlich gegen die Menschen richten und gewaltige Massaker die Folge sind, werden wir zusammen mit unserem KI-Handschuh Charles in ein riesiges Forschungsgebiet geschickt, um nach einer Lösung zu suchen und das Geschehen aufzuklären.

Atomic Heart, das Ende Februar für PC und alle gängigen Konsolen außer Switch erschien, ist sowohl spielerisch als auch beim Design ganz klar von Bioshock oder Deus Ex inspiriert. Aus der Ego-Sicht und stets begleitet von Charles erleben wir eine gut über 20 Stunden dauernde Solokampagne, in der wir in mehreren, meist sogar recht offenen, aber nie im Stile einer richtig großen Open World aufgebauten Maps unterwegs sind. Auf unseren Pfaden warten neben verschiedenen Blechkämpfern, die uns aus der Luft oder mit Kampfsporteinlagen attackieren, ebenso mutierte Angreifer, die für leicht horrorhafte Momente sorgen.

Dank einfachem Knopfdruck suchen wir Büros, Truhen oder erledigte Feinde nach Bauteilen ab, die wir an zahlreichen Automaten in neue Waffen und Verbesserungen wie Elektroschläge, Revitalisierung, schnellere Bewegung oder Kinese investieren. Feinden rücken wir mit Schlag- und Schusswaffen zu Leibe, wobei im Verlauf der Kampagne speziell der Mix aus Ausweichen, Fähigkeiten einsetzen und gezielt zwischen Schlag- und Schusswaffe wechseln ebenso für Abwechslung sorgt wie die Feindpalette inklusive einiger Endbosse, die gerne überdimensional daherkommen.

Kenner der bereits genannten Referenzen Bioshock und Deus Ex dürften sich schnell heimisch fühlen. Denn unser Avatar lässt sich dank mehrerer Skilltrees und Waffenmodifikationen individuell ausstatten und es ist gestattet, bereits getätigte Builds wieder ohne Verlust von Materialpunkten rückgängig zu machen und neue Wege in der Charakterentwicklung einzuschlagen. Wer versiert ist, versucht sich im Stealthmodus an Feinde heranzuschleichen oder sie zu umgehen, denn ist erstmal Alarm ausgelöst, kann es zu massivem Gegneraufkommen plus weiterer Nachhut kommen.

Zur Atmosphäre tragen neben dem unglaublich stimmigen wie vielfältigen Retrofuturismuslook die sehr zahlreichen Dialoge bei, die unser Held nicht nur mit Charles oder einigen weiteren Figuren (gerne auch toten) führt, sondern sogar mit dem sexhungrigen Automaten Nora, der mit seinen schlüpfrigen Anspielungen in Dauerschleife vielleicht fast schon zu penetrant sexistisch ausgefallen ist. Dennoch spürt man in den Audiologs, Dialogen und der Ausstattung der Räume die Liebe der Entwickler zum atmosphärischen Detail, welches schon Bioshock zum echten Klassiker avancieren ließ.

Die Story gewinnt dabei zwar mangels Originalität und trotz immerhin einer für die beiden möglichen Endings relevanten Entscheidung keinen Blumentopf (bringt aber herrlich surreale Szenen hervor) und so manches Detail verschwimmt in den zahlreichen Gesprächen, doch das ungleiche Team aus mürrischem Elitekämpfer und überhöflichem KI-Sidekick wächst einem definitiv ebenso ans Herz wie so manche schrullige Nebenfigur wie etwa eine Art Baba Jaga-Omi mit fliegendem Technohaus oder ein Bahnroboter, der selbst umgeben von Leichen auf das korrekte Vorzeigen eines gültigen Fahrscheins besteht.

Spielerisch gibt es ebenfalls nur wenig zu meckern, wobei gerade die Kampfmechanik häufig doch arg hakelig ausfällt. Gerade gegen mehrere Gegner ist Zielen und Ausweichen oft schwierig, Stealth mangels Deckung kaum möglich und das häufige Lösen von Minispielchen an verschlossenen Türen kann durchaus nerven. Dagegen stehen etwa die Implementierung von drei ausgewogenen Schwierigkeitsgraden, viele Speicherräume und die sehr flüssige Steuerung unserer Figur. Außerdem ist positiv zu vermerken, dass die Macher immer wieder kleinere Rätseleinlagen in den Spielfluss integrieren, die dem jeweiligen Abschnitt zusätzlich eine unverkennbare Eigennote verpassen und das actionreiche Treiben ohne zu viel Anspruch an die grauen Zellen auflockern. Einziger Wermutstropfen dabei: Man könnte mit Hilfefunktionen oder einer erneuten Erklärung manchen unnötigen Zeitverlust verhindern. Aber das ist, wie bei den anderen genannten Kritikpunkten, insgesamt Mäkeln auf relativ hohem Niveau.

Das trifft ebenso auf das Prinzip einer Open World Light zu, das nach dem ersten größeren Abschnitt in einer noch recht düsteren Forschungsanlage übernimmt. So richtig viel gibt es abseits der Story nämlich nicht zu tun und die Jagd nach weiteren Waffenbauplänen in versteckten Teststationen braucht es eigentlich nicht, da man mit dem Standardarsenal gut auskommt. So sind die besagten Stationen zwar eine nette, durchaus willkommene Dreingabe. Richtige Bringer in Sachen Spielspaß und Atmosphäre sind sie aber dann doch nicht.

Technisch kann Atomic Heart leider nicht ganz das Niveau der Trailer halten und erweist sich speziell auf Lastgen-Konsolen (wir spielten auf PS4) als nur grafisch überdurchschnittlich ansprechend, wenn man das Artdesign weglässt. Dennoch läuft der Titel bis auf kleinere Ruckler ohne größere Pannen und die Ladezeiten halten sich in Grenzen. Soundtechnisch gefällt vor allem der Einbau vieler klassischer Musikstücke großer Komponisten, aber auch so mancher poppiger Song untermalt das dystopische Geschehen angenehm passend. Die Sprecher liefern dazu ebenfalls (auf Englisch) eine ordentliche Performanz ab und runden Atomic Heart so zu einem zwar nicht ganz polierten, manchmal gar etwas störrisch anmutendem Shooter, der mit seinem großen Bruder Bioshock insgesamt aber mithalten kann. Die über Jahre aufgebauten Erwartungen erfüllt dieser eben „nur“ richtig gute Shooter dann aber doch nicht.

Fazit

Atmosphärisch fesselnder Dystopie-Shooter, der mit Abwechslung und tollem Artdesign punktet, dem jedoch ein wenig mehr Feinschliff gut getan hätte

Atomic Heart • Mundfish • Open World/Shooter • PS4/PS5/Xbox One/Xbox Series X/PC

Abb. © Mundfish

 

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