„Wir haben keine Antimemetik-Abteilung“ von Sam Hughes
Eine Organisation im Kampf gegen unbekannte realitätsfressende Ideen
Das Mem bzw. Meme gehört zur Memtheorie und der Memetik. In diesem Themenkomplex geht es um Informationsweitergabe, Informationseinheiten und Informationsmuster, um Selektion und Replikation innerhalb unserer Kultur, soziokulturelle Evolution zwischen Darwin und Daten. Inzwischen hat sich das englischsprachige Wort Meme ebenfalls weiterentwickelt und wird gemeinhin als Bezeichnung für viral gegangene Elemente in Sozialen Medien genutzt.
Sam Hughes (im Shop) ist eine andere Art von Internetphänomen: Der Programmierer und Autor erlangte unter dem Pseudonym qntm (sprich: Quantum) Bekanntheit. Seine Science-Fiction-Kurzgeschichten, die er Mitte der 2010er auf der Share-World-Plattform SCP Wiki veröffentlichte, wurden millionenfach online gelesen. Noch nie gehört? Keine Panik. Jetzt lässt sich diese Informationslücke ganz leicht schließen, da Hughes’ Roman „Wir haben keine Antimemetik-Abteilung“ (im Shop) just bei Heyne auf Deutsch erschienen ist. Für die Buchfassung hat der 1983 geborene Brite seine Storys bearbeitet, neu arrangiert und um ein paar Meta-Spielereien erweitert.
Alles dreht sich um einen Krieg zwischen einer geheimen Organisation der Menschen und den Entitäten einer fremden Realität, die unsere Welt mit hochansteckenden Ideen vergiften (Memetik) oder die Ideen und Erinnerungen unserer Wirklichkeit zerstören (Antimemetik) – und die Menschheit so womöglich schon einmal beinahe ausgelöscht haben, es nun noch einmal zu tun drohen. Diese kleinen bis gigantischen, stofflichen bis spirituellen Wesen (die so genannten Unbekannten) aus dem fünfdimensionalen Ideenraum manifestieren sich als tödliche Ideen, als schwarze Informationslöcher, als Anomalien, als übernatürliche Ereignisse oder als für die meisten Leute unsichtbare Monster, tarnen sich als Gedanken, Gottheiten, Mythen. Oder als der zyklopische Stein-Monolith vom Cover …
Die Agenten und Wissenschaftler der Unbekannten-Organisation um Marie Quinn erforschen, bekämpfen und inhaftieren die Eindringlinge aus einer anderen Ideenwelt. Allerdings können Quinn und Co. trotz spezieller experimenteller Medikamente weder ihrer Wahrnehmung und ihren Beobachtungen, noch ihren eigenen Gedanken oder Erinnerungen trauen – wenn die nicht eh von Kreaturen in ihrem Augenwinkel gefressen werden. Die schwierige, wechselhafte, manipulierte Realität für Marie und ihresgleichen veranschaulicht Sam Hughes in seinem Episodenroman auch dadurch, dass er seine Prosa-Kapitel, die Erlebnisse und Dialoge seiner Figuren sowie die abgedruckten Akten der UO mit geschwärzten, also zersetzten Stellen versieht.

Für SF-Fans ist „Wir haben keine Antimemetik-Abteilung“ Erlebnis und Vergnügen in einem. Beim Lesen prickelt es direkt hinter den Augen, kribbelt es entlang der Hirnrinde, jucken die Synapsen, bitzelt das Gedächtnis. Man hat das Gefühl, eine neue Version der im Roman verpönten X-Akten oder des ikonischen Cthulhu-Mythos zu erleben, zu erfahren – eine geniale Zusammenarbeit von Philip K. Dick, Chris Carter und H. P. Lovecraft, einen faszinierenden Mix aus China Miéville, Jeff VanderMeer und Warren Ellis, oder eine messerscharfe Gemeinschaftsproduktion von Grant Morrison, Caitlin R. Kiernan, Matt Ruff und Christopher Nolan. Zwischendurch gibt’s sogar eine Prise Douglas Adams und Richard Matheson.
Sam Hughes’ smarter, cooler Roman definiert die klassische Weird-Fiction und den kosmischen Horror ein wohltuendes Stück weit neu, ohne die grundlegenden Ideen und Konzepte zu verleugnen (oder zu vergessen). Das Ergebnis dehnt den Kanon und die Logik, ist ein packendes fantastisches Genre-Highlight zum Jahresendspurt. Aber natürlich könnte dieser ganze Text hier auch bloß der Versuch sein, die Realität mit einer sich über Lesestapel und Weihnachtswunschzettel verbreitenden Idee zu infizieren und so zu zerstören …
Sam Hughes: Wir haben keine Antimemetik-Abteilung • Roman • Aus dem Amerikanischen von Urban Hofstetter • Heyne, München 2025 • 320 Seiten • Erhältlich als Hardcover, eBook und Hörbuch Download • Preis des Hardcovers: 20,00 € • im Shop
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Christian Endres berichtet seit 2014 als Teil des Teams von diezukunft.de über Science-Fiction. Er schreibt sie aber auch selbst – 2024 ist bei Heyne sein SF-Roman „Wolfszone“ erschienen.
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