Allein an Bord
„Das Schiff“ von Greg Bear
Der Albtraum eines jeden interstellaren Reisenden: Du wachst aus dem Hyperschlaf auf und alles um dich herum hat sich verändert! Das gigantische Raumschiff wirkt fremd, die Mannschaft ist verschwunden, die Technik ist ausgefallen … und überall lauern unbekannte Gefahren. Willkommen im wohl existentialistischsten Roman des SF-Großmeisters Greg Bear, „Das Schiff“ (im Shop ansehen)!
Der Autor überrascht uns, indem er statt langer Vorreden und Einführungen gleich zur Sache kommt: Wir Leser wissen genauso wenig wie der noch namenlose Protagonist, was da geschehen ist. Weder ist der Zweck der Reise klar, noch der Umfang des Schiffs – und auch ansonsten tappen sowohl er als auch wir buchstäblich im Dunkeln, auf dem Weg zu irgendeinem Überlebenden und einer Antwort. Durch die Ich-Form der Erzählung wird die Identifikation mit dem Protagonisten noch verstärkt, ein Trick, der schon seit Edgar Allan Poe für erhöhte Spannung sorgt. Ja, der Text wirkt anfangs derart hermetisch, dass ich schon den Verdacht hegte, Bear nähme uns diesmal auf den Arm und wir befänden uns (ähnlich wie bei Iain Banks’ »Die Brücke« oder Michael Marraks »Lord Gamma«) in einer völlig anderen Welt- und Wahrnehmungsebene, einer metaphysischen Reise zu sich selbst oder überhaupt im künstlich am Leben gehaltenen Hirn irgendeines Unglücklichen, dem eine virtuelle Realität vorgegaukelt wird.
Doch spätestens als der Held in einem der einsamen, langen Gänge des Raumschiffs tatsächlich auf den ersten Menschen trifft – ein Mädchen, das ihn den »Lehrer« nennt –, wird klar, dass wir uns zwar in einer völlig undatierten Zukunft befinden, doch wenigstens in dem uns bekannten Universum. Weitere Überlebende tauchen auf – und mit ihnen weitere Verfremdungselemente; es handelt sich um gentechnisch veränderte Kreaturen, bei denen anfangs die Frage ist, ob sie freundlich oder feindlich gesinnt sind (wobei im letzteren Fall schon mal ein Kopf abgebissen wird). Und es kommt noch seltsamer: Das Mädchen behauptet, der Lehrer würde ihm nicht zum ersten Mal begegnen – er sei schon oft durch dieses Raumschiff geirrt und jedes Mal an einer anderen Stelle gescheitert, das heißt: gestorben. Befinden wir uns also doch in einer reinen Bewusstsein-erlebt-seine-letzten-Sekunden-und-erfindet-Rückblenden-Geschichte? Nein, zum Glück ist es etwas einfacher, denn die Erbauer des Raumschiffs beherrschten nicht nur die genetische Manipulation, sondern auch die Klonierung des Menschen. Offenbar hatte man die Besatzung auf die Suche nach einem lebensfreundlichen Planeten geschickt und zuvor physiologisch auf alle möglichen atmosphärischen Bedingungen vorbereitet …
Wie in einem Computer-Adventure suchen der »Lehrer« und seine Begleiter nun Raum um Raum weitere Antworten: Wo sind die anderen? Wohin genau sollte die Reise gehen? Und vor allem: Was ist Unerwartetes geschehen, das sie vom Kurs abbrachte? Hier sei lediglich so viel verraten: Die Lösung fällt keineswegs metaphysisch oder unrealistisch aus, lässt sich aber dennoch kaum erahnen, egal wie viele ähnlich geartete Storys man gelesen hat. Erst als die Gruppe das Zentrum des Schiffs erreicht, werden die Fragen beantwortet – was gleichzeitig eine kleine Schwäche des Romans darstellt, denn fürs Mitdenken wäre es günstiger gewesen, wenn Bear noch mehr Hinweise eingeflochten hätte, statt uns am Ende mit dem großen Aha-Effekt zu konfrontieren.
Ein weiteres Manko des Texts ergibt sich gerade aus seiner Spezialität: Da wir uns ganz und gar mit dem Protagonisten identifizieren sollen und müssen, erhalten wir außer dem von ihm Wahrgenommenen keinerlei Zusatzinformation, ja, es werden im Gegenteil sogar Gedankengänge plötzlich abgebrochen und Überlegungen angestellt, die sich im Nachhinein zwar als legitim, aber für das Verständnis nicht eben hilfreich erweisen. Fazit: ein interessantes Werk, das mitunter große Spannung erzeugt; aller-dings wirkt es wie ein zwischendurch schnell runtergeschriebener Roman – sicherlich nicht Bears bester und definitiv kein Text für Leute, die rasch mal eine leicht verdauliche Space Story konsumieren wollen.
Greg Bear: Das Schiff • Roman · Aus dem Amerikanischen von Usch Kiausch · Wilhelm Heyne Verlag, München 2011 · 478 Seiten · € 7,99 (im Shop ansehen)
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