28. Januar 2013 1 Likes 1

Die großen Fragen

„Existenz“ – David Brin geht ans Eingemachte

Lesezeit: 4 min.

David Brins „Existenz“ (im Shop ansehen) ist eine Herausforderung, und zwar in mehrerlei Hinsicht. Bereits der Titel suggeriert, dass es hier ans Eingemachte geht: Nicht weniger als das Wesen und die Bedeutung von Existenz sollen hier erörtert werden, frei nach Steven Weinberg (»Warum existiert überhaupt etwas und nicht nichts?«). Und das Gewicht des schwer in der Hand liegenden Werks verdeutlicht, dass sich der Autor besonders ausgiebig darauf einließ.

Existenz also, was ist das? Das Gewimmel unseres durchs All treibenden Heimatplaneten, wie ihn der Astronaut Gerald Livingstone jeden Tag von oben betrachtet, wenn er den Müll mehrerer Raumfahrergenerationen aus dem Orbit fischt? Ein guter Einstieg in eine Geschichte, da er uns ein holistisches Gefühl von Schönheit und Gefährdung des Lebens vermittelt: dort unten eine gewaltige, fragile Erde; hier oben Abfallpartikel als Sinnbild für deren Zerstörung. Wer hilft uns bei der Bewahrung unserer Existenz, da wir selbst offenbar damit überfordert sind? Tatsächlich taucht in genau diesem Moment die mögliche Antwort auf: Eines der vom »Müllcowboy« aufgelesenen Überbleibsel entpuppt sich als außerirdisches Artefakt. Eine Botschaft von einer weiter fortgeschrittenen Zivilisation? Ein Rettungsanker für unsere Gesellschaft? Nach einer Berechnung von SETI-Gründer Frank Drake sollte es rein mathematisch betrachtet im Universum von außerirdischem Leben nur so wimmeln, und David Brin selbst arbeitete später an neuen Fassungen der »Drake-Gleichung« mit.

Bevor wir auf diesen Gedankenfaden jedoch weiter eingehen könnten, konfrontiert uns der Autor in den folgenden Kapiteln mit einer extrem hohen Anzahl weiterer Handlungsstränge, Einschübe, Zitate und didaktischer Erörterungen zum berühmten Fermi-Paradox: »Wenn es im Universum doch von Leben wimmeln müsste, wo ist es dann?«

Wie schon in seinem Epos »Erde« wählt er hierzu das Stilmittel fragmentarischer Erzählungen, die sich erst im Lauf der weltumspannenden Handlung zusammenfinden. Ein chinesischer Fischer findet im unterseeischen Müll des überschwemmten Shanghai ein weiteres Alien-Artefakt; eine Journalistin kommt – in Folge eines Attentats zur halb digitalen Existenz verdammt – einer Verschwörung gegen den technologischen Fortschritt auf die Spur; eine Diplomatin muss sich mit einflussreichen feudalistischen Gilden auseinandersetzen, während ihr Sohn nach einem missglückten Orbit-Ausflug ins Meer stürzt und dort von gentechnisch optimierten Delfinen gerettet wird. Hinzu kommen mysteriöse Auszüge aus dem »Füllhorn der Pandora« mit einer langen Liste von Bedrohungen der menschlichen Existenz; »Interlodulien« einer Blackjack-Generation, über den Text verstreute »Scanalysen«, »WIENS« (steht für: »Wow, ist es nicht seltsam …«) sowie Auszüge aus SlateZines und geheimnisvollen »Erläuterungen zur Bewegung«. Damit nicht genug, folgen Verweise auf Bücher und Filme (auch Charles Stross wird erwähnt), und hochfunktionale Autisten sowie Asperger-Patienten melden sich zwischendurch zu Wort. Das im Roman entworfene globale, vielstimmige Panorama fasziniert zwar, leidet jedoch unter seiner eigenen Zerrissenheit und bleibt daher – im Gegensatz etwa zu Ian McDonalds ausgezeichnetem »Cyberabad« (im Shop ansehen) – an der Oberfläche menschlicher Zwänge und Emotionen.

»Existenz« ist vielmehr ein virtuoser, abwechslungsreicher Trip, der zwischen naturwissenschaftlicher Ernsthaftigkeit und hollywoodartigen Szenarien schwankt. In nicht weniger als neunundneunzig Kapiteln kommt es zu geschätzten Hunderten von Perspektivwechseln und einem Dutzend Hauptcharakteren. Es wirkt, als hätte Brin – nachdem er 2002 mit »Copy« seinen letzten Roman vorgelegt hatte – zehn Jahre lang Notizen gesammelt, Kurzgeschichten entworfen und Vorträge gehalten, die er nun versucht, zu einem Ganzen zu vereinen.

Es ist wahrlich ein Feuerwerk an Ideen, das er hierbei zündet: Die mannigfaltigen Probleme unserer Welt Mitte des 21. Jahrhunderts (ökologische und ökonomische Krisen) werden ebenso angesprochen wie nukleare Zwischenfälle, ein sich entwickelndes »Weltnetz« und der Kampf zwischen Technikbegeisterten und jenen, die sich von ihr abwenden wollen. Nebenher streut er faszinierende Techno-Ideen ein: Einen erweiterten und mit dem menschlichen Körper verbundenen Cyberspace, »KI-Pads«, »eAugen«, »eOhren«, »Tru Vu«-Brillen, genetisch veränderte Papageien als Nachrichten-Fernübermittler und vieles mehr.

Bei all dem Durcheinander ist es ein Wunder, dass Brin es schafft, die zentralen, eingangs gestellten Fragen nie aus den Augen zu verlieren – wenngleich er die Geduld seiner Leser arg auf die Probe stellt und vieles unfertig, unausgegoren wirkt. Und er verknüpft sie mit weiteren, für unsere Zukunft wesentlichen Fragen: Wo lauern die Gefahren für unser Fortbestehen? Muss jede Zivilisation zwangsläufig ihrem Untergang entgegengehen – sei es durch zu viel oder zu wenig Komplexität? Wie würden wir auf eine »Nachricht aus dem All« reagieren, die uns ein Ende der Existenz prophezeit? Folgen wir einem unerbittlichen Schicksal, oder führen menschliche Kreativität und Kooperation zu einem Ausweg? Offensichtlich »benutzt« Brin die alte SF-Idee des »First Contact« hierbei nur, um sich die in sechzig Lebensjahren angesammelten Erkenntnisse, Ängste und Hoffnungen von der Seele zu schreiben – ganz als wäre »Existenz« der Abschluss seines Schaffens, eine Summe seiner Arbeit. Wir erleben einen Autor, der skeptischer geworden ist und viele Illusionen aufgegeben hat, der uns warnt mit einer Intensität wie sonst nur John Brunner (aber ohne dessen Fatalität), und der doch in all dem sich abzeichnenden Chaos der nächsten Jahrzehnte noch immer einen schwachen Hoffnungsschimmer sieht. Warum existiert etwas und nicht nichts? Diese Frage beantwortet Brin zwar nicht, aber er bringt die Science Fiction mit seinem Buch (das übrigens von Andreas Brandhorst wirklich sehr gut übersetzt wurde) immerhin ein Stück weiter zu einer neuen »existenziellen Literatur«. Wer die ersten hundert Seiten übersteht, wird von dieser Geschichte bereichert sein.

David Brin: Existenz · Roman · Aus dem Amerikanischen von Andreas Brandhorst · Wilhelm Heyne Verlag, München 2012 · 893 Seiten · € 11,99 (E-Book, im Shop ansehen)

Kommentare

Bild des Benutzers Johann Seidl

Danke für die Rezension!
Zur ewigen Frage: »Warum existiert überhaupt etwas und nicht nichts?«:
IMHO hat die Frage zum ersten mal Leibnitz aufgeworfen in der Form:
"Warum gibt es eher etwas als nichts"
Das geistert seitdem durch die (Natur)Philosophie bis u.a. auch zu Stephen Hawking und Weinberg.

Grüße
Johann

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