Qualität statt Quantität
Endlich liegt das Schaffen des US-Science-Fiction-Autors Ted Chiang in zwei Bänden komplett auf Deutsch vor
Muss man den ambitionierten Berliner Szenepublisher Golkonda eigentlich dafür beglückwünschen, Ted Chiang besser spät als nie nach Deutschland gebracht zu haben? Oder muss man die deutschsprachige Leserschaft viel mehr dafür bedauern, dass es so lange gedauert hat, bis Chiang hierzulande angekommen ist? Immerhin: Dadurch, dass Denis Scheck Chiangs „Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes“ in druckfrisch kürzlich eine wohlwollende Empfehlung aussprach, dürfte sich der Bekanntheitsgrad des US-Autors passend zur Veröffentlichung der zweiten Sammlung mit ins Deutsche übertragenen Geschichten definitiv verbessert haben.
Trotzdem war das ein ganz schön mühsamer Weg. Schließlich ist der 1967 geborene Chiang in den letzten gut 20 Jahren im englischsprachigen Raum mit jedem wichtigen Genre-Preis ausgezeichnet worden, egal ob Hugo oder Nebula; und unter Berücksichtigung seines schmalen Portfolios, in dem sich seit 1990 keine zwei Dutzend Kurzgeschichten und Novellen angehäuft haben, ist Chiangs Trophäenschrank gleich doppelt beeindruckend. Diese Relation zeigt zudem recht deutlich: Der studierte Informatiker, der als technischer Autor in der Software-Industrie arbeitet, schreibt nur dann eine Geschichte, wenn sie es ihm auch wirklich wert scheint, geschrieben zu werden – und denkt seine Ideen gründlich und bis ganz zum Ende durch, ehe er sie ausführt.
So konnte er in der ersten Zusammenstellung seiner Erzählungen für den deutschen Markt selbst dem biblischen Turmbau zu Babel, dem Erstkontakt mit Außerirdischen, Engelserscheinungen oder einer Zeitreisegeschichte mit dem märchenhaft-weisen Charme aus Tausendundeiner Nacht noch Neues abgewinnen.
Nun ist als „Das wahre Wesen der Dinge“ die zweite Sammlung mit Chiangs kurzer und geradezu rarer, aber umso lohnenswerterer Prosa erschienen. Das Spektrum der Erzählungen reicht diesmal von Medizin über Mathematik bis hin zu Fragen nach dem freien Willen oder dem korrekten Umgang mit digitalem Leben ein paar Dutzend Evolutionsstufen über dem Tamagotchi – von einer Daniel-Keyes-Hommage über eine Golem/Automaten-Alternativwelt-Historie mit einem Fruchtbarkeitsproblem bis hin zu einer Uni, an der Attraktivität als sozialer Faktor dank künstlicher Wahrnehmungsregulierung ausgehebelt werden soll.
Dabei beweist Chiang wie gewohnt ein Händchen für faszinierende Ideen und glaubhafte Charaktere, die keineswegs in den tiefreichenden, oft stark wissenschaftlichen und fachspezifischen Details seiner erstaunlich variablen und vielfältigen Erzählungen und Gedankenspiele untergehen. Nichtsdestotrotz kommt der stilistisch absolut unaufgeregte Chiang erneut gnadenlos logisch und zuweilen gefährlich klug daher. Hier und da sogar etwas zu klug – Chiang liest man nicht einfach so weg, die Lektüre ist zwischendurch schon mal Arbeit. Arbeit, die lohnt. Nach der ersten Golkonda-Klappenbroschur, die ebenfalls schon ein vorbildliches Quellenverzeichnis im Anhang hatte, kommt das freilich nicht mehr überraschend, genauso wenig wie die Qualität der Geschichten, die jede Mühe und alle Arbeit wert sind; Geschichten, die als echte Stimulation dienen, und nicht zuletzt als Aushängeschild für tolle, moderne, zeitgemäße Science-Fiction.
Die Alternative wäre ja auch bloß, Chiang ausgerechnet jetzt, da sein bisheriges Werk endlich komplett auf Deutsch vorliegt, wieder bzw. weiter zu ignorieren. Und für den Freund anspruchsvoller SF – im Grunde anspruchsvoller Literatur jedweder Art – wäre Ted Chiangs fortdauernde Abwesenheit aus dem heimischen Buchregal wirklich vergleichbar mit dem wahren Wesen der Hölle.
Ted Chiang: Das wahre Wesen der Dinge • Golkonda, Berlin 2014 • 284 Seiten • € 16,90
Kommentare