6. März 2014 2 Likes

Horizonterweiterung

„Upstream Color“ – Ein filmischer Monolith

Lesezeit: 5 min.

„This needed to feel universal.” Würde man aufgefordert, einen derzeit aktiven Filmemacher zu erraten, der die Erzähl- und Darstellungsabsichten eines seiner Werke in ebenjenem Satz artikuliert haben könnte, müsste sich als fast ironisch-obszön naheliegende und alternativlose Lösung eigentlich Terrence Malick aufdrängen, spätestens seit The Tree of Life (2011) und dessen Quasi-Fortsetzung To the Wonder (2012) der offensivste Groß-Esoteriker des amerikanischen Gegenwartskinos. Tatsächlich stammt die Äußerung von Shane Carruth und bezieht sich auf Upstream Color, den nach Primer (2004) zweiten Film, den Carruth als unter anderem Regisseur, Drehbuchautor, Produzent, Kameramann, Score-Komponist und Hauptdarsteller verantwortet. Ein Auteur also, wie er in dieser Rundum-Konsequenz selten im Buche steht.

Upstream Color feierte seine Premiere beim Sundance Film Festival 2013 und erntete so euphorisch-verzückte wie einer glückseligen Überforderung geschuldete perplexe Publikums- und Kritikerreaktionen. Zwar ertönten auch einige wenige Stimmen, die – wie es üblich und berechenbar ist, wenn ein Film daherkommt, der sich Erwartungen und Konventionen verweigert – den Vorwurf der im Rätselhaften und Unzugänglichen schwelgenden Prätention erhoben; beispielhaft sind jedoch eher die Worte, mit denen der seine Tätigkeit angemessen beendende Filmrezensent Jonathan Romney seine Besprechung in The Independent anlässlich des britischen Starts von Upstream Color einleitet: „I’ve been reviewing films on these pages for 12 years, and this is my last column in this slot – but in all that time, I don’t think I’ve seen anything as gloriously perplexing as this week’s release.“

Und da dem Film eine deutsche Kino- oder wenigstens Heimkino-Auswertung bislang verwehrt blieb und wohl frustrierenderweise auch bleiben wird, ist dem Himmel sei Dank Dietmar Dath bei der Franfurter Allgemeinen Zeitung mit einem angemessen ausführlichen Artikel (des Titels „Liebe stromaufwärts“) zur Stelle und attestiert Carruths Werk darin, „einer der besten Science-Fiction-Filme, die je gedreht wurden“, zu sein. Das ist eine ordentliche Ansage. Und nichts als die Wahrheit.

Ein Film wie Upstream Color kommt nur alle 10 oder 15 Jahre einmal daher, wie aus dem Nichts, gänzlich unverdorben und einflussfrei von den ausdrücklichen oder stillschweigenden kulturindustriellen Vereinbarungen bezüglich dessen, wie und was ein Film zu sein hat, und stattdessen ausschließlich den Notwendigkeiten und der Immanenz des eigenen künstlerischen Entwurfs und des Mediums selbst verpflichtet. Betreffs des Inhalts oder Themas der Geschichte, die Upstream Color erzählt (denn die Bilder des Films konstruieren, so sehr sie sich auch von der mehr oder weniger redundanten Bildsprache des durchschnittlichen Erzählkinos entfernen mögen, sehr wohl ein Narrativ), sollte man sich im schlechteren Fall vorab den zahlreichen im Netz verfügbaren, heiter scheiternden Versuchen einer Paraphrase zuwenden und im besseren vor dem Anschauen gar nicht groß darum kümmern.

Es geht um einen parabiologischen Parasiten, der das Leben von Flora, Fauna und menschlicher Art miteinander verknüpft; um einen neuen und im emphatischen Sinn universalen, weltumfassenden Blick auf das Leben; um den drogeninduzierten Verlust von Identität; um gleichermaßen organisch wie transzendent evozierte Modifikationen von Identität; um Henry David Thoreaus sowohl als innerfilmischer, der Handlung eingespeister Geheimcode wie auch als Schlüssel zum Geheimcode namens Upstream Color fungierendes Buch Walden (1854), dessen Kapitelüberschriften wie „Ökonomie“, „Art und Zweck meines Lebens“, „Lesen“, „Laute“, „Einsamkeit“, „Gäste“ oder „Nachbar Tier“ durchaus dazu taugen, den Weg durch das poetische Dickicht des Films zu kartografieren; und es geht zuallererst um die Liebe zwischen einer Frau und einem Mann bzw. die Buchstäblichkeit der Metapher des Einswerdens von Liebenden.

Für einen Science-Fiction-Film gehören Bilder und Motive wie Fadenwürmer, im Erdreich wühlende oder vorsichtig Dinge und Körper betastende Hände, Herbstbäume im Wind, ihre Farbe wechselnde Orchideenblüten, durch Flüssigkeiten wabernde Farbschlieren, sich in Wassergläsern drehende Eiswürfel, melancholisch blickende Ferkelaugen und an die Imaginary Landscapes John Cages erinnernde Ton-, Geräusch-, Musik- und Sampling-Experimente nicht unbedingt zum zwangsläufigen Inventar. Doch was Upstream Color uns zeigt, ist eben erwachsene, ernstgemeinte Science-Fiction. Ideen und Phantasmen lassen sich hier nicht auf ihre metaphorische oder bebildernde Zweckmäßigkeit rückrechnen. Metaphern und andere Tropen sind hier immer auch ihr antirhetorisch Bezeichnetes, die Abstraktionen immer auch handfeste Konkretionen.

Dass man so schwer (formulierbar) zwischen der evidenten Präsenz der filmischen Bilderzählung und ihrer Bedeutung trennen kann, darin liegt eine der sämtliche Rezeptionsfrustrationen wettmachenden Stärken des Films. Denn da versucht jemand erfolgreich, von den Universalien und der Liebe zu erzählen, ohne auch nur den kleinsten Baustein der tradierten, klischeebelasteten und sattsam bekannten Erzählungen von Universalien und Liebe einzumörteln. Das wäre künstlerisch unaufrichtig. Von vorn anfangen, ganz neu und vorausschauend Neues imaginierend und ausgestaltend, das Alte hinter sich lassend: Science Fiction. Shane Carruth hat damit nicht nur diesem Genre gezeigt, was es heißt, es wirklich ernst zu nehmen, sondern auch der Kunstform Film, was es heißt, deren Möglichkeiten auszuschöpfen. Allein die virtuose, den zunehmend spärlich gesetzten Dialogen als im Zweifelsfall wichtigerer Bedeutungs- und Erzählanschub übergeordnete Ton- und Musikdramaturgie vermag es, das Geschehen trotz seiner alles andere als eindeutigen Erklärbarkeit im Fluss zu halten. Und nicht zuletzt wird Upstream Color, auch darin auf die Kraft des genuin Filmischen setzend, von Gesichtern, Körperlichkeit und Mimik, kurz: starker Schauspielerei zusammengehalten.

Daher ist Shane Carruth für das Erzählkino, den Autorenfilm, die Science-Fiction-Fantasie und die Gegenwartskunst insgesamt ein Terrence Malick ohne dessen metaphysische Demut, ein Ingmar Bergman ohne dessen psychologischen Existenzialismus, ein Andrei Tarkowski ohne dessen mystische Verbissenheit, ein Stanley Kubrick (des Finales von 2001: Odyssee im Weltraum) ohne dessen formalgenialische Verspieltheit, ein Werner Herzog ohne dessen ästhetisierte Authentizität und ein Matthew Barney (The Cremaster Cycle) ohne dessen ausstattungsorgiastisch-surrealen Kunsthallen-Pomp.

Natürlich ist Upstream Color der Bildenden Kunst oder der Gattung der Lyrik bisweilen näher als dem populären Kino, aber auf eine – entgegen der entsprechenden anderslautenden Stimmen – gänzlich unprätentiöse, weil schlicht zwingende und immer auch im Dienst der Erzählung stehende Weise. Der Film ist nicht weniger, sondern mehr Film als die meisten anderen Filme, und Carruth will nicht protzen oder die Horizontenge des Publikums vorführen, sondern sein Publikum als mündiges und kluges ernstnehmen, wie es sich für einen Künstler gehört. Science-Fiction ist eben keine Wissenschaft, sondern Kunst, und es ist sehr, sehr selten, sich angesichts eines Science-Fiction-Kunstwerks derart horizonterweiternd dumm zu fühlen wie bei Upstream Color.

Was wird Carruth bloß mit seinem nächsten, als 224-Seiten-Drehbuch bereits für lautes Raunen sorgenden Projekt A Topiary abliefern? Der Regisseur jedenfalls ist ein sehr auskunfts- und erläuterungsfreudiger sowie insgesamt reizender Mann, der wenig darauf gibt, die im Fall von Upstream Color zwangsläufig drängenden Fragen mit auratischer Bockigkeit zu kontern, wie diverse Podiumsgespräche und Talkrunden (z.B. hier oder dort) oder das Interview mit Empire zeigen.

Upstream Color • USA 2013 · Regie: Shane Carruth · Darsteller: Amy Seimetz, Shane Carruth, Andrew Sensenig

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