18. Dezember 2014 2 Likes

Ein Wimpernschlag von der Realität entfernt

Kultregisseur David Cronenberg legt einen Roman vor, der sein bester Film seit Jahren ist

Lesezeit: 4 min.

Bestimmt das Verlangen nach einem bestimmten Objekt das menschliche Denken? Sind die Bedienungsanleitungen dieser Produkte  daher die einzig zeitgemäße Literatur? Mit Fragestellungen wie diesen beschäftigt sich das Ehepaar Célestine und Aristide Arosteguy, die die Theorie des „Evolutionären Konsumismus“ bekannt gemacht haben. Die beiden französischen Philosophen sind Medienstars und vielumschwärmte Intellektuelle, die ihre Überlegungen zur Allgegenwart der Begierde auch praktisch umsetzen – zum Beispiel, indem sie immer wieder Verhältnisse mit ihren Studentinnen und Studenten eingehen. Dabei macht auch Célestine eine gute Figur, da sie es geschafft hat, sich trotz ihrer zweiundsechzig Jahre eine aufregende Präsenz zu bewahren. David Cronenberg: VerzehrtDoch nun ist die attraktive Frau tot und ihr Körper liegt zerstückelt im Appartement des Paares in Paris; es besteht der Verdacht, dass Teile davon verzehrt wurden. Die junge Fotoreporterin Naomi Seberg ist eigentümlich fasziniert von dem Fall und macht sich auf die Suche nach Aristide, der wenige Tage zuvor nach Asien gereist ist. Nachdem ein ehemaliger Schüler den Kontakt hergestellt hat, willigt der Philosoph zu Naomis Überraschung ein, sie zu sehen. Mehr noch: Die beiden beginnen in Tokio eine Affäre, und Naomi zieht schließlich sogar zu dem charismatischen, aber undurchschaubaren Gelehrten, der weiterhin offen lässt, ob er Célestine getötet hat oder nicht.

Doch Naomi hat ihrerseits einen Partner, den sie selten sieht und mit dem sie in erster Linie auf elektronischem Wege Kontakt hält: Er heißt Nathan Math und geht in Budapest eigenen Recherchen nach. Der auf medizinische Fälle spezialisierte Journalist will in der Klinik von Dr. Molnár eine ungewöhnliche Krebstherapie an der Slowenin Dunja dokumentieren, zeigt sich aber schnell von der überraschend lasziven Patientin fasziniert. Nachdem die beiden zusammen im Bett gewesen sind, stellt Nathan fest, dass er sich mit einer harmlosen, aber weitgehend in Vergessenheit geratenen Geschlechtskrankheit infiziert hat. Er macht deren Entdecker in Toronto ausfindig und verabredet sich mit ihm; kurz darauf beschließen beide, zusammen an einem Buch zu arbeiten. Aber Dr. Roiphe hat auch eine Tochter – und eines Nachts wird Nathan Zeuge, wie sie sich kleine Hautstückchen abtrennt, diese auf Tellerchen aus Plastik legt und schließlich mit einem Kinderbesteck verspeist …

David CronenbergDass David Cronenberg seit einigen Jahren von seiner Obsession abgerückt ist, in erster Linie irritierende bis verstörende Filme zu drehen, hat sich inzwischen herumgesprochen. Entsprechend überrascht es umso mehr, wenn der nunmehr einundsiebzigjährige Kanadier nicht nur seinen ersten Roman vorlegt, sondern mit diesem mühelos an seine kraftvollen Hauptwerke wie Parasiten-Mörder (1975), Videodrome (1983) oder eXistenZ (1999) anknüpfen kann. Insbesondere seine Verfilmung von Crash, dem 1973 veröffentlichten Ausnahmeroman von James Graham Ballard, lädt zum Vergleich ein.

Ballard, der nicht nur einer der größten Stilisten der Science-Fiction ist, sondern auch als einer ihrer eindrücklichsten Visionäre gilt, schildert in „Crash“ eine Gruppe von Figuren, deren Sexleben immer manischer an ihre Fahrzeuge gekoppelt wird, wobei Autounfälle zusätzliche Stimulation verheißen. Dabei hat Ballard sein Buch in einer betont sachlichen Sprache gehalten, die zwar explizit, aber völlig unerotisch ist. Umso leichter fällt es, hinter den mit dokumentarischer Genauigkeit geschilderten Obsessionen ein Zerrbild jener fetischistischen Aufladung des Autos zu erkennen, die heute nicht weniger aktuell ist als vor vierzig Jahren. Dies gilt auch für Cronenbergs Verfilmung, die der Romanhandlung werkgetreu folgt. „Crash“ mag überspannt wirken, nutzt das Mittel der Zuspitzung jedoch virtuos, um schlaglichtartig eine mentale Landschaft auszuleuchten, die sonst weitgehend im Dunkeln liegt.

„Verzehrt“ ist von vergleichbarer Konsequenz. Der Roman knüpft an Ballards kritische Perspektive an und schildert in ähnlich distanzierter Weise eine Welt, die von extremer Verwertbarkeit bestimmt wird. Aus diesem Grund ist über kurz oder lang alles auf irgendeine Weise „konsumierbar“; die Lehre der Arosteguys bringt dies gleich zu Beginn auf den Punkt. Entsprechend verhalten sich auch Naomi und Nathan, die nicht nur technikverblendet und markenaffin sind, sondern deren Beziehung starke Entfremdungserscheinungen aufweist. Dass die Kommunikationsgeräte, derer sich das Paar bedient, diesen Zustand eher befördern als korrigieren, liegt auf der Hand.

Dennoch: Ein moralinsaures Traktat hat niemand zu befürchten. Cronenberg beobachtet, aber er wertet nicht. Und natürlich ist sein Roman voller bizarrer Gedankenspiele und Ideen. Da wird beispielsweise über entomologische Kriegsführung nachgedacht oder die Frage aufgeworfen, ob es analog zum „Heroin-Chic“ eine „Ästhetik des Krebses“ gibt: Würde die Schönheitsindustrie hierauf mit Lymphknotenimplantaten reagieren? Das technische Inventar wiederum zeigt sich um jene Winzigkeit weiterentwickelt, die es zum Beispiel ermöglicht, menschliches Gewebe mittels 3D-Druckverfahren zu replizieren. Der Autor setzt diese Verfremdungssignale allerdings erheblich ökonomischer ein als beispielsweise William Gibson, da er seine Geschichte offenbar nur einen Wimpernschlag von unserer Realität entfernt erzählen möchte. Und das ist ihm mehr als gelungen.

David Cronenberg hat mit „Verzehrt“ einen beunruhigenden Thriller mit Science-Fiction-Elementen abgeliefert, der die abweisende und kalte Welt, durch die sich die Figuren bewegen, mittels dokumentarischer Distanz und filmisch anmutender Schnitte umsetzt. Wenn sich seine nächste Regiearbeit nicht mit diesem Romandebüt messen kann, sollte er es beim Schreiben belassen.
 

David Cronenberg: VerzehrtÜbersetzt von Tobias Schnettler Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014 397 S. € 22,99

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