Zeitverschlingendes Ödland
Bethesda Softworks Rollenspielhit „Fallout 4“.
„Krieg. Krieg bleibt immer gleich.“ Fünf Jahre sind vergangen, seit Fans weltweit diese bekannten Einleitungsworte zuletzt vernehmen durften. Wieder am Steuer sind die Mannen von Bethesda selbst und haben seit Mitte November das Mega-Rollenspiel Fallout 4 auf den Markt gebracht. Ob denn auch alles in der Fallout-Welt gleich geblieben ist, oder was sich in den fünf Jahren geändert hat, das wollen wir hier in unserem Test klären.
Entwickler Bethesda hat gleich zu Beginn einiges richtig gemacht: Zwischen der offiziellen Ankündigung und dem Erscheinen des Spiels vergingen lediglich fünf Monate. Zwar wurde über Fallout 4 lange gemunkelt, handfeste Details gab es dann doch erst am 3. Juni 2015. Und trotz der vermeintlich geringen Werbezeit verkaufte sich das Spiel wie geschnitten Brot. Innerhalb der ersten 24 Stunden wurden über 12 Millionen Exemplare an den Handel ausgeliefert, was einem Umsatz von gut 750 Millionen US-Dollar entspricht.
Wie bereits aus anderen Teilen der Reihe bekannt, schlüpfen wir in die Rolle eines Vault-Bewohners. Diesmal setzt die Handlung jedoch direkt vor dem Atomkrieg ein, der die Welt in jenes von Spielern seit Jahrzehnten so geliebte Ödland verwandeln wird. Wir befinden uns an der Ostküste der USA, im sogenannten „Common Wealth“, einer Gegend bestehend aus vier Staaten, dessen größte Stadt des Spiels Boston ist.
Im Intro ist alles noch heile, während wir unsere Spielfigur minutiös modellieren, von dem Winkel unseres Nasenrückens bis zur toupierten Haarpracht auf dem Kopf. Stück für Stück werden uns die Feinheiten des Gameplays nahegelegt, wie das Dialogsystem, Entscheidungsfreiheiten oder auch die grundlegende Steuerung. Ebenso müssen wir uns für unsere Attributwerte im – Serienveteranen bereits bekannten – S.P.E.C.I.A.L.-System entscheiden. Diese sieben Attribute wie Stärke, Glück oder Ausdauer, bestimmen unsere spätere Skillverteilung und sind entscheidend für die Wahl der sogenannten Perks.
Perks sind einzigartige Charaktereigenschaften, die dem Spieler besondere Vorteile verschaffen. Darunter fallen maximierte Tragkapazität, größerer Schaden für die diversen Waffenklassen oder erhöhte Munitionsvorräte in Kisten. Ein besonders beliebtes Perk seit Fallout 3 ist der „Mysteriöse Fremde“, welcher uns auch in diesem Teil erneut die Ehre gibt. Es besteht während eines Kampfes beim Nutzen des VATS-Modus die geringe Wahrscheinlichkeit des Erscheinens des besagten Fremden, der dann schnurstracks den anvisierten Gegner per Pistolenkugel ins Jenseits befördert – unabhängig des Levels oder noch vorhandenen Lebensenergie des Feindes.
Auch der soeben erwähnte VATS-Modus ist wieder mit von der Partie. Sobald es denn nach der Eröffnungssequenz und dem daraus folgenden Gefriertiefschlaf per Cryostase ans Tageslicht des zerstörten Ödlandes (hunderte Jahre später!) geht, muss sich der geneigte Spieler schon sehr bald gegen zahlreiche Widersacher und Bestien der Wildnis zu wehren wissen. Auf Knopfdruck wird das Spielgeschehen fast zum Stillstand gebracht und es leuchten Trefferzonen am anvisierten Gegner auf – mit diversen Trefferwahrscheinlichkeiten und Schadensmodifikatoren. Kopfschüsse richten beispielsweise mehr Schaden an als Beintreffer. Beintreffer können jedoch eben jenen Körperteil lahm legen, was dazu führt, dass Gegner nicht mehr auf uns zustürmen – oder flüchten – können. Durch Hand- und Armtreffer werden Waffen fallengelassen und so weiter… Die taktischen Möglichkeiten sind groß und werden oft dann auch noch mit einer morbid angehauchten Todessequenz untermalt, während getroffene Körperteile bei ausreichend akkumuliertem Schaden in Zeitlupe durch die Gegend fliegen. Anders jedoch als bei bisherigen Teilen wird das Geschehen nicht komplett in der Zeit eingefroren, sondern nur sehr verlangsamt. Chefentwickler Todd Howard nach bringe das etwas mehr Nervenkitzel und Dynamik ins Spiel.
Auch zur ambivalenten Gewalt, die stets einen satirischen und kathartischen Effekt in der Fallout-Reihe einnahm, sei gesagt, dass sie noch cartoon-artiger wirkt als etwa bei Fallout 3 oder dem von Obsidian Entertainment entwickelten Fallout: New Vegas. Das Rot ist übersättigter, und auch die regelrechten Fontänen verdecken mehr vom Geschehen, als dass sie offenbaren. Das könnte auch der Grund sein, wieso dies das erste Fallout-Spiel der Hauptreihe ist, welches bereits bei der Erstveröffentlichung komplett ungeschnitten in Deutschland auf den Markt kam.
Weitere Neuerungen sind unter anderem der Basisbau, der dem geneigten Spieler viele Boni, wie zusätzliche Händler und Rohstoffe bescheren soll. Glücklicherweise kann das gesamte Spiel jedoch durchgespielt werden, ohne auch nur eine Sekunde mit dem äußerst umständlichen Siedlungsbau verbringen zu müssen. Die Steuerung ist zu Teilen sehr unpräzise und kann zu akutem Haarausfall führen, während man bloß versucht, zwei Wände zu einer vermeintlich simplen Hausecke an der richtigen Stelle zusammenzuführen. Beim Überspringen des Siedlungsbaus geht uns jedoch auch nichts Essentielles verloren und er nimmt keinerlei Einfluss auf die Story oder gar das Endgame des Spiels.
Das große Highlight des Spiels ist jedoch etwas völlig simples und bescherte uns deutlich mehr Spaß und verschlungene Stunden als erwartet: Waffen- und Rüstungsmodifikationen! Wie schon in den Vorgängern finden sich in jeder Ecke des Ödlandes zahllose Utensilien, von Kochtöpfen, über (wertvolle) Kleberüberreste bis hin zu Aluminiumdosen. Der Spieler wird zunächst erschlagen von der Vielfalt an Gegenständen, wovon alle wiederum an einer Werkbank in andere Einzelteile zerlegt werden können. Welche davon für Waffenbau oder Siedlungsbau nützlich sind, muss leider jeder selbst für sich herausfinden. Wenn man sich jedoch einmal einen Überblick verschafft hat, kann der Spaß an den Werkbänken beginnen.
Jede noch so kleine Pistole bis hin zum großen Lasergewehr kann auf unsere völlig individuelle Spielweise angepasst und umgebaut werden. Ebenso die neuen „einzigartigen Waffen“, welche von, ebenfalls neuen, „legendären“ Gegnertypen fallengelassen werden. Von der kleinen Kakerlake zur großen Todeskralle: Es besteht stets eine geringe Wahrscheinlichkeit (abhängig vom Schwierigkeitsgrad), dass jener Gegner sich in eine besonders starke legendäre Version verwandelt. Und diese aufgepumpte Version lässt nach dem Ableben Waffen oder Rüstungen fallen, ausgestattet mit einzigartigen Eigenschaften, wie beispielsweise explodierenden Kugeln oder 50% mehr Schaden gegen humanoide Gegner. Auch diese einzigartigen Waffen lassen sich modifizieren, wie jede beliebige Waffe und Rüstung auch. Man hat einen immensen Vorrat von einer bestimmten Munition? Dann baut man eben schnell eine Pistole mittels größerem Lauf und verlängertem Schaft in ein Scharfschützengewehr um. Je nach Lust und Laune auch mal mit Schnellfeuer, oder eher langsam, dafür aber mit ordentlichem Wumms dahinter. Die Möglichkeiten sind fast grenzenlos. Und das lässt sich für jede Art von Waffe anwenden, sei es bloß ein Baseballschläger, der dann mit Aluminium verstärkt wird und noch eine Spule Stacheldraht umwickelt bekommt. Im späteren Verlauf des Spiels suchen wir dann mit geübtem Auge alle Winkel ab und finden die passenden Schätze unter dem Geröll – und freuen uns unerwartet, wenn sich doch noch mal eine Aluminiumdose oder etwas Kupferversetztes auffinden lässt. Damit rückt wieder die nächste Modifikation in greifbare Nähe!
Das Ödland ist gewaltig. Streifen wir zunächst alleine durch die Gegend, so finden wir schnell, neben allerlei Waffen, Quests und Gegnern, auch unsere ersten Mitstreiter. Von Serienveteran Dogmeat, des Menschens bester vierbeiniger Freund, über die hitzköpfige aber reizende Reporterin Piper, weiter zum verqueren Supermutanten Strong bis hin zum Roboter-Detektiven Nick Valentine. 13 rekrutierbare Mitstreiter gibt es, wovon jedoch stets nur einer mit sich geführt werden kann. Und je nach Spielweise passt auch nicht jeder Begleiter zu jedem Spieler. Ist man stets freundlich, trägt gerne Powerrüstungen und verlangt kein Geld für erledigte Aufträge, so wird man beispielsweise schnell schlecht auf Strong zu sprechen sein. Bei den KI-gesteuerten Begleitern haben sich die Entwickler von Bethesda doch richtig Mühe gegeben. Jeder weist eine individuelle Persönlichkeit aus und überrascht dann doch mit der einen oder anderen persönlichen Sidequest, wenn man sie etwas näher kennenlernt.
Und jetzt kommen wir auch schon zu den weniger schönen Dingen, die Fallout 4 ausmachen: Gerade Serienveteranen liegt die behäbige Hauptstory schwer im Magen. Dass Bethesda nicht die talentiertesten Entwickler darin sind, packende Handlungen zu schreiben, bewiesen sie leider bereits in Fallout 3 oder auch bei Skyrim. Trotz der einen oder anderen unerwarteten Wendung lässt sich das ganze Geplänkel um den „Einzigen Überlebenden“, wie die Spielfigur intern genannt wird, in drei Sätzen erzählen. Und trotz scheinbar immenser Entscheidungsfreiheiten ist das Ende des Spiels – mit seinen vier unterschiedlichen Szenarien, je nach angeschlossener Fraktion – faktisch immer dasselbe. In der Abschlusssequenz werden nur hier und da ein paar Wortfetzen ausgetauscht. Bloß der Weg dorthin ist ein gänzlich anderer.
Was Obsidian Entertainment noch eindeutig besser machte mit Fallout: New Vegas (an dem übrigens auch Veteranen des Klassikers Fallout 2 mitarbeiteten), wird im vierten Teil wieder komplett fallengelassen: Attributwerte, die immensen Einfluss auf Dialoge und Spielweise ausüben? Fehlanzeige, denn das Dialogsystem wurde komplett überarbeitet. Statt diverser Antwortmöglichkeiten bleiben uns nur noch vier, die grob eine tendenzielle Richtung angeben, ähnlich wie bei Mass Effect 3. Charmante Sidequests wie in Fallout 2? Da sieht die Ernte trotz der gigantischen Auswahl an Sidequests eher mau aus. Bis auf wenige Ausnahmen blieben uns kaum welche im Gedächtnis hängen. Weitreichende Entscheidungen, mit spürbaren Effekten auf das Ende? Nada. Oder gar das Spiel, wie schon Urgesteine Fallout 1 und 2, komplett pazifistisch durchspielen? Dazu sagt Gamedirector Todd Howard: „Dies ist kein Ziel unseres Spiels“. So artet gerade das Endgame stets in einer gigantischen Schlacht aus, in der wir die Konkurrenz komplett vernichten müssen – egal, wie man sich vorher verhalten hat, oder welcher Fraktion man sich anschloss.
Waschechten Rollenspielfans wird Fallout 4 mit Wahrscheinlichkeit nicht das geben, was sie sich wünschen. Dafür wurden zu viele Rückschritte seit New Vegas getan. New Vegas war damals das, was sich die Spieler vom ursprünglichen Fallout 3 gewünscht hatten. Und Spiele wie The Witcher 3: The Wild Hunt zeigten im letzten Jahr, wie man vieles um einiges besser machen kann als das später erschienene Fallout 4. Auch die inzwischen über zehn Jahre alte Grafikengine, die noch bei The Elder Scrolls: Oblivion zum Tragen kam, ist lange überholt und altbacken. Da hilft auch kein farbenprächtigeres Ödland, um das zu vertuschen.
Und doch hat Fallout 4 trotz der erheblich sichtbaren Mängel einen Charme, den man nicht von der Hand weisen kann: Die stets Sucht erzeugende Hatz nach weiteren Gegenständen, besseren Waffen und Rüstungen. Das Erkunden „nur noch dieses einen Hauses“. Oder auch bloß das Erreichen der nächsten Levelstufe. Trotz der zahllosen Flüche über die hinderliche KI, oder die spürbare Casualisierung des Gameplays konnten wir das Gamepad bis zum Schluss der 60-100 Stunden Kampagne nicht aus der Hand legen und dachten auch lange nach den Sitzungen noch über dieses Perk oder jene noch uns fehlende Gegend auf der Spielkarte nach.
Noch ist ja nicht aller Tage Abend. Bethesda hat schließlich mit den kommenden DLCs noch einiges im Ofen und genug Möglichkeiten einige Schwächen des Hauptspiels auszubügeln.
Fallout 4 • Bethesda Softworks • Action-RPG • PC, Xbox One, Playstation 4
Abb. © Bethesda Softworks
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