25. August 2016 1 Likes

Riesige Roboter

Eine exklusive Leseprobe aus „Giants“, dem Debütroman des franko-kanadischen Autors Sylvain Neuvel

Lesezeit: 14 min.

Anfang August hatten wir im Rahmen der Neuerscheinungen schon kurz über den großen Erfolg von Sylvain Neuvels Debütroman „Giants“ (im Shop) berichtet. Ein Erfolg, der absolut berechtigt ist, denn Neuvel hat mit seinem Science-Thriller eine Pageturner der Extraklasse geschrieben.

Als die elfjährige Rose eines Abends beim Spielen im Wald eine gewaltige Metallhand entdeckt, ahnt sie noch nicht, dass dieser Fund ihr ganzes Leben verändern wird. Siebzehn Jahre später ist Rose eine der besten Wissenschaftlerinnen ihrer Zeit und Leiterin einer streng geheimen Operation, die das Rätsel um die Riesenhand lösen soll. Wer hat sie gebaut? Was bedeuten die seltsamen Zeichen auf dem Metall? Und wo ist der Rest des Körpers?

Für alle, die sich erst mal einen kleinen Einblick in diesen faszinierenden Roman gönnen wollen, gibt es hier eine exklusive Leseprobe.

 

 

Erster Teil

Körperteile

 

FILE 003

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GESPRÄCH MIT DR. ROSE FRANKLIN, PH.D.,

LEITENDE WISSENSCHAFTLERIN

AM ENRICO FERMI INSTITUTE

ORT: UNIVERSITY OF CHICAGO, CHICAGO, ILLINOIS

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Wie groß war die Hand?

— 6,9 Meter, auch wenn sie mir mit elf Jahren wesentlich größer vorkam.

Was haben Sie nach dem Vorfall getan?

— Nichts. Meine Eltern und ich sprachen kaum darüber. Wie alle Kinder in meinem Alter ging ich ganz normal weiter jeden Tag zur Schule. In meiner Familie hat niemand studiert, deshalb bestanden meine Eltern darauf, dass ich das College besuchte. Ich hatte Physik als Hauptfach. Ich weiß, was Sie denken. Ich wünschte, ich könnte Ihnen sagen, dass ich wegen der Hand Wissenschaftlerin geworden bin, aber ich war schon immer gut in den Naturwissenschaften. Meine Eltern haben meine Begabung schon früh erkannt und gefördert. Mit vier bekam ich meinen ersten Experimentierkasten zu Weihnachten, einen von diesen Elektronikbaukästen. Man konnte damit zum Beispiel einen Telegrafen bauen, indem man Kabel in kleine Metallklemmen steckte. Ich glaube nicht, dass ich etwas anderes studiert hätte, wenn ich an jenem Tag auf meinen Vater gehört und zu Hause geblieben wäre. Jedenfalls schloss ich das College ab und ging an die Uni. Sie hätten meinen Vater sehen sollen, als er erfuhr, dass ich an der University of Chicago angenommen wurde. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so stolz war. Hätte er eine Million Dollar gewonnen, wäre er auch nicht glücklicher gewesen. Nachdem ich meinen Doktor in der Tasche hatte, bekam ich eine Anstellung an der Universität.

Wann haben Sie die Hand wiedergefunden?

— Gar nicht, denn ich habe nicht nach ihr gesucht. Es hat siebzehn Jahre gedauert, aber man könnte wohl sagen, die Hand hat mich gefunden.

Was ist passiert?

— Mit der Hand? Das Militär hatte damals die Fundstelle gesichert, nachdem die Hand entdeckt worden war.

Wann war das?

— Kurz nachdem ich in das Loch gefallen war. Ungefähr acht Stunden später schaltete sich das Militär ein, und Colonel Hudson – so hieß er, glaube ich – übernahm das Kommando über das Projekt. Er kam aus der Gegend, deshalb kannte er die Einheimischen. Ich kann mich nicht erinnern, ihm mal begegnet zu sein, aber jeder, der ihn kennt, sagt nur Gutes über ihn. Ich habe die wenigen Aufzeichnungen gelesen, die von ihm noch erhalten sind – das meiste wurde vom Militär zensiert. Während der drei Jahre, in denen er das Kommando innehatte, versuchte er vor allem herauszufinden, was die Inschriften an den Wänden bedeuten. Die Hand selbst, meistens als »das Fundstück« bezeichnet, erwähnte er nur am Rande und sah in ihr einen Hinweis darauf, dass ihre Erbauer an ein komplexes religiöses System glaubten. Ich glaube, Colonel Hudson hat sich da in etwas hineingesteigert.

Und was, glauben Sie, war das?

— Ich habe keine Ahnung. Hudson war Berufssoldat, kein Physiker. Auch kein Archäologe. Er hat weder Anthropologie noch Linguistik oder ein anderes Fach studiert, das ihm in dieser Situation hätte weiterhelfen können. Wahrscheinlich hatte er zu viele Indiana-Jones-Filme gesehen, die sein Urteilsvermögen beeinflusst haben. Glücklicherweise hatte er kompetente Unterstützung – trotzdem muss es für ihn peinlich gewesen sein, die Verantwortung für ein Projekt zu tragen, ohne genau zu wissen, womit er es eigentlich zu tun hatte. Es ist faszinierend, welch große Mühe sich das Projektteam gegeben hat, die eigenen Erkenntnisse zu widerlegen. Die ersten Analysen deuteten darauf hin, dass der Raum, in dem die Hand gefunden wurde, vor ungefähr dreitausend Jahren erbaut wurde. Weil das jedoch kaum möglich zu sein schien, wurden Proben organischen Materials, das man auf der Hand entdeckt hatte, mit der Radiokarbonmethode untersucht. Mit dem verblüffenden Ergebnis, dass die Proben sogar noch viel älter waren als zunächst angenommen: zwischen fünf- und sechstausend Jahren.

War das eine Überraschung?

— Das kann man wohl sagen. Diese Daten stellen alles infrage, was wir über die Frühgeschichte Amerikas zu wissen glaubten. Bisher ging man davon aus, dass die Norte-Chico-Kultur in Peru die älteste uns bekannte Steinzeitkultur Amerikas ist – die Hand ist jedoch ungefähr tausend Jahre älter. Und selbst wenn man sie mit Norte Chico in Verbindung bringen könnte, wird wohl kaum jemand eine riesige Hand von Südamerika nach South Dakota transportiert haben. Aus Nordamerika selbst kann die Hand nicht stammen, denn dort gab es ähnlich hoch entwickelte Kulturen erst sehr viel später. Nach einigen Jahren sporadischer Forschung behauptete Hudsons Team, die Proben der Radiokarbonuntersuchung seien kontaminiert gewesen, und stufte die Fundstelle kurzerhand als zwölfhundert Jahre alte Kultstätte eines Ablegers der Mississippi-Kultur ein. Ich bin die Akten zigmal durchgegangen. Es gibt nichts, was diese Theorie stützt, außer dass sie vernünftiger klingt als alles, was die Daten hergeben. Ich vermute, dass Hudson der Fundstätte keine militärische Bedeutung beigemessen hat. Vielleicht befürchtete er auch, das unterirdische Forschungslabor könne seiner Karriere schaden, und wollte, nur um da rauszukommen, so schnell wie möglich Ergebnisse präsentieren, wie absurd sie auch sein mochten.

Ist ihm das gelungen?

— Rauszukommen? Ja. Es hat drei Jahre gedauert, aber schließlich wurde sein Wunsch erfüllt. Als er mit seinem Hund Gassi ging, hatte er einen Schlaganfall und fiel ins Koma. Ein paar Wochen später ist er gestorben.

Was wurde nach seinem Tod aus dem Projekt?

— Nichts. Die Hand und die Wandtafeln verstaubten vierzehn Jahre lang in einem Lagerhaus, bis das Militär das Projekt freigab. Dann übernahm die University of Chicago mit finanzieller Unterstützung der NSA die Forschung, und mir wurde die Leitung der Untersuchung übertragen. Man könnte fast von Schicksal sprechen, obwohl ich eigentlich nicht an so etwas wie Vorsehung glaube.

Warum sollte sich die NSA in einem archäologischen Projekt

engagieren?

— Das habe ich mich auch gefragt. Die NSA finanziert verschiedene Forschungsprojekte, aber das liegt außerhalb ihres üblichen Interessengebiets. Vielleicht wollte sie die fremden Zeichen als Verschlüsselungstechnik nutzen; vielleicht interessierte sie das Material, aus dem die Hand besteht. Die NSA stattete uns jedenfalls mit einem ziemlich großen Budget aus, deshalb habe ich nicht groß nachgefragt. Mir wurde ein kleines Team zugeteilt, um die naturwissenschaftlichen Fakten zu klären, bevor das Projekt an die anthropologische Fakultät übergeben werden sollte. Das Projekt war immer noch als streng geheim eingestuft, und wie Hudson musste auch ich in ein unterirdisches Labor umziehen. Ich glaube, Sie haben meinen Bericht gelesen und wissen über den Rest Bescheid.

Ja, ich habe ihn gelesen. Sie haben ihn schon nach vier Monaten abgeliefert. Das könnte man für ein wenig überstürzt halten.

— Es war nur ein vorläufiger Bericht. Ich glaube nicht, dass er verfrüht kam. In Ordnung, vielleicht ein bisschen, aber ich hatte wichtige Entdeckungen gemacht und dachte, dass ich aus den vorhandenen naturwissenschaftlichen Daten nicht viel mehr herausholen konnte. Warum also noch warten? Es gibt in diesem unterirdischen Raum genug Rätsel, um mehrere Generationen von Wissenschaftlern darüber spekulieren zu lassen. Ich glaube, wir wissen nicht genug, um ohne weitere Datenerhebungen viel mehr über die Hand herauszufinden.

Wer ist wir?

— Wir. Ich. Sie. Die Menschheit. Wer auch immer. Es gibt in diesem Labor Dinge, die unser Verständnis übersteigen.

In Ordnung, dann erzählen Sie mir das, was Sie verstanden haben. Erzählen Sie mir von den Tafeln.

— Das steht alles in meinem Bericht. Es gibt sechzehn Stück. Sie sind ungefähr drei mal zehn Meter groß und weniger als drei Zentimeter dick. Alle sechzehn Tafeln wurden in derselben Periode hergestellt, schätzungsweise vor dreitausend Jahren. Wir …

Entschuldigung. Gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie die Kontaminationstheorie nicht unterstützen?

— Es gibt keinen Grund, an der Radiokarbondatierung zu zweifeln. Und es ist, ehrlich gesagt, unser geringstes Problem, wie alt die Fundstücke sind. Hatte ich erwähnt, dass die Symbole auf den Tafeln seit siebzehn Jahren leuchten, ohne dass eine Energiequelle gefunden wurde? Jede Wand besteht aus vier Tafeln, in die jeweils ein Dutzend Reihen aus achtzehn bis zwanzig Zeichen eingeritzt sind. Die Zeilen sind in Abschnitte aus sechs oder sieben Symbolen unterteilt. Insgesamt gibt es fünfzehn verschiedene Zeichen. Die meisten davon tauchen mehrmals auf, manche nur einmal. Sieben sind rund mit einem Punkt in der Mitte, sieben bestehen aus geraden Linien, und eines ist nur ein Punkt. Sie sind einfach, aber sehr elegant gestaltet.

Konnten Ihre Vorgänger einige der Schriftzeichen entschlüsseln?

— Zu den wenigen Teilen von Hudsons Bericht, die das Militär nicht zensiert hat, gehört die linguistische Analyse. Die Sprachwissenschaftler haben die Symbole mit jeder uns bekannten Schrift der Vergangenheit und Gegenwart verglichen, konnten aber keine Übereinstimmung finden. Man vermutete, dass jede Sequenz von Symbolen einen Satz darstellt, so wie im Englischen, aber ohne konkreten Bezugsrahmen konnte man über den Inhalt nicht mal spekulieren. Die Arbeit war gründlich, jeder Schritt wurde dokumentiert. Ich sah keinen Grund, dieselbe Analyse noch einmal durchführen zu lassen, und lehnte das Angebot, einen Linguisten hinzuzuziehen, ab. Ohne vergleichbares Sprachsystem konnten wir die Bedeutung der Zeichen unmöglich entschlüsseln. Mein Bauchgefühl sagte mir außerdem, dass die Hand selbst das Wichtigste war. Ich konnte es nicht erklären – vielleicht war ich voreingenommen, schließlich bin ich als Kind in dieses Loch gefallen –, aber ich fühlte mich wie magisch von ihr angezogen.

Ganz im Gegensatz zu Ihrem Vorgänger. Also, was können Sie mir über die Hand sagen?

— Sie ist atemberaubend schön – dunkelgrau mit einigen Bronzetönen, und sie schillert untergründig –, aber ich nehme an, dass Sie sich nicht für die ästhetischen Aspekte interessieren. Vom Handgelenk bis zur Spitze des Mittelfingers misst sie, wie schon gesagt, 6,9 Meter. Sie ist massiv und scheint aus dem gleichen Metall zu bestehen wie die Wandtafeln, ist aber mindestens zweitausend Jahre älter. Die Handfläche deutet nach oben, und die Finger sind aneinandergedrückt und leicht gebogen, als würden sie etwas Wertvolles halten. Es gibt Rillen, die den Lebenslinien einer menschlichen Hand nachempfunden sind, aber auch welche, die nur der Zierde dienen. Auch sie leuchten in demselben hellen Türkis, das das Metall schillern lässt. Die Hand wirkt stark, aber zugleich … filigran ist das einzige Wort, das mir dazu einfällt. Ich glaube, es ist eine Frauenhand.

Im Moment interessiere ich mich mehr für die Fakten. Woraus besteht diese starke, aber filigrane Hand?

— Es ist nahezu unmöglich, in das Material hineinzuschneiden oder es mit konventionellen Mitteln auf andere Art zu verändern. Um auch nur eine kleine Probe aus einer der Wandtafeln zu entnehmen, brauchten wir mehrere Versuche. Die Massenspektrografie hat ergeben, dass Hand und Tafeln aus einer Legierung aus verschiedenen Schwermetallen bestehen, hauptsächlich Iridium, mit einem Anteil von zehn Prozent Eisen und geringeren Konzentrationen von Osmium, Ruthenium und anderen Metallen aus der Platingruppe.

Die Hand muss ihr Gewicht in Gold wert sein, richtig?

— Komisch, dass Sie das ansprechen. Sie wiegt nicht so viel, wie sie sollte, deshalb würde ich sagen, sie ist mehr wert als ihr Gewicht, egal in was.

Wie viel wiegt sie?

— Zweiunddreißig Tonnen … Ich weiß, das ist ein ordentliches Gewicht, aber gemessen an der Zusammensetzung der Schwermetalle ist sie viel zu leicht. Iridium ist eines der Elemente mit der höchsten Dichte, und trotz des Eisenanteils sollte die Hand mindestens zehnmal so schwer sein.

Wie erklären Sie sich das?

— Gar nicht. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie das möglich ist. Aber das Gewicht irritiert mich weniger als die schiere Menge des Iridiums. Iridium ist nicht nur eines der dichtesten Elemente, es ist auch eines der seltensten. Metalle der Platingruppe verbinden sich gern mit Eisen. Und genau das hat der Großteil des Iridiums vor Milliarden von Jahren getan, als die Erdoberfläche noch geschmolzen war. Und weil es so schwer ist, ist es zum Erdkern gesunken, Tausende Kilometer tief. Das bisschen Iridium, das in der Erdkruste zurückblieb, verband sich meistens mit anderen Metallen und lässt sich nur mit einem aufwendigen chemischen Verfahren trennen.

Wie selten ist Iridium im Vergleich zu anderen Metallen?

— Ausgesprochen selten. Wenn man das ganze Iridium zusammennimmt, das auf der Erde im Verlauf eines Jahres abgebaut wird, kommt man auf nicht mehr als ein paar Tonnen. Das ist ungefähr ein großer Koffer voll. Beim heutigen Stand der Technik würde es Jahrzehnte dauern, genug Iridium zusammenzukratzen, um die Hand und die Tafeln zu bauen. Auf der Erde gibt es schlicht zu wenig davon, und es liegen nicht genug Chondrite herum.

Ich kann Ihnen nicht folgen.

— Entschuldigung. Chondrite sind Steinmeteoriten. Iridium ist im irdischen Gestein so selten, dass es oft nicht nachweisbar ist. Das meiste Iridium wird aus Meteoriten gewonnen, die beim Eintritt in die Erdatmosphäre nicht völlig verglüht sind. Um die Tafeln und die Hand zu bauen – und die Vermutung liegt nahe, dass es nicht das Einzige ist, was deren Schöpfer gebaut haben –, muss man das Iridium von dort herholen, wo es mehr davon gibt als auf der Erdoberfläche.

Eine Reise zum Mittelpunkt der Erde?

— Jules Verne ist eine Möglichkeit. Um Iridium in großen Mengen abzubauen, müsste man entweder Tausende von Kilometern tief schürfen oder man holt es sich im Weltraum. Bei allem Respekt vor Monsieur Verne, aber wir sind weit davon entfernt, tief genug graben zu können, um bis zum Erdkern vorzudringen. Unsere tiefsten Minenschächte sehen im Vergleich dazu aus wie Schlaglöcher. Da scheint mir die zweite Variante schon realistischer. Es gibt bereits Unternehmen, die hoffen, in naher Zukunft Wasser und wertvolle Mineralien im Weltraum zu gewinnen, aber diese Projekte sind alle noch in der Planungsphase. Trotzdem, wenn man im Weltall Meteoriten »ernten« könnte, wäre die Ausbeute an Iridium wesentlich höher.

Was können Sie mir sonst noch sagen?

— Das war’s im Wesentlichen. Nachdem wir die Hand genauestens untersucht hatten, hatte ich das Gefühl, dass wir nicht weiterkommen. Ich wusste, dass wir die falschen Fragen stellen, aber ich kannte die richtigen nicht. Ich habe einen vorläufigen Bericht abgeliefert und meine Freistellung beantragt.

Frischen Sie mein Gedächtnis auf. Was war das Fazit Ihres Berichts?

— Wir haben die Hand nicht gebaut.

Interessant. Wie war die Reaktion?

— Antrag auf Freistellung bewilligt.

Das war alles?

— Ja. Sie hofften wohl, dass ich nicht zurückkomme. Ich habe das Wort Alien nie benutzt, aber darauf hat die NSA den Bericht wahrscheinlich reduziert.

Und das meinten Sie nicht?

— Nicht unbedingt. Es könnte auch eine »irdische« Erklärung dafür geben, eine, die mir nicht in den Sinn kam. Als Wissenschaftlerin kann ich nur sagen, dass wir Menschen weder die Ressourcen noch das Wissen oder die Technologie haben, um so etwas zu bauen. Es ist durchaus möglich, dass eine alte Zivilisation mehr von Metallurgie verstanden hat als wir, aber auch damals – egal ob vor fünftausend, zehntausend oder zwanzigtausend Jahren – gab es in der Erdkruste nicht mehr Iridium als heute. Also, um Ihre Frage zu beantworten: Ich glaube nicht, dass Menschen die Tafeln und die Hand gebaut haben. Ziehen Sie Ihre eigenen Schlüsse daraus, wenn Sie wollen. Ich bin nicht blöd; ich wusste, dass ich meine Karriere damit aufs Spiel setzte. Auf jeden Fall habe ich meine Glaubwürdigkeit verloren, aber was blieb mir anderes übrig? Hätte ich lügen sollen?

Was taten Sie, nachdem Sie den Bericht abgeschickt hatten?

— Ich ging nach Hause. Dorthin, wo alles angefangen hat. Seit dem Tod meines Vaters bin ich fast vier Jahre lang nicht mehr zu Hause gewesen.

Wo ist Ihr Zuhause?

— Ich komme aus einem kleinen Ort namens Deadwood, ungefähr eine Stunde nordwestlich von Rapid City.

Ich kenne mich in diesem Teil des Mittleren Westens nicht aus.

— Es ist ein Städtchen, das während des Goldrauschs gegründet wurde. Ein wilder Ort wie im Film. Die letzten Bordelle wurden geschlossen, als ich noch ein Kind war. Abgesehen von einer kurzlebigen Fernsehserie auf HBO erlangten wir eine gewisse Berühmtheit, weil Wild Bill Hickok in Deadwood ermordet wurde. Nach dem Ende des Goldrauschs und mehreren großen Bränden schrumpfte die Bevölkerung auf ungefähr zwölfhundert Einwohner zusammen. Deadwood floriert also nicht gerade, aber es existiert noch. Und die Landschaft ist atemberaubend. Es liegt direkt am Rand des Black Hills National Forest mit seinen unheimlichen Felsformationen, herrlichen Kiefernwäldern, kargen Steinlandschaften, Tälern und Bächen. Ich weiß nicht, ob es einen schöneren Ort auf der Welt gibt. Ich kann verstehen, warum jemand dort etwas bauen will.

Sie bezeichnen es immer noch als Ihr Zuhause?

— Ja, natürlich. Deadwood ist ein Teil von mir, auch wenn meine Mutter da wahrscheinlich anderer Meinung ist. Nach dem Tod meines Vaters haben wir kaum miteinander gesprochen. Ich spürte, dass sie es mir übel nahm, dass ich nicht mal zur Beerdigung meines Vaters nach Hause gekommen bin und sie in ihrem Schmerz alleine gelassen habe. Wir gehen alle anders mit Trauer um, und ich vermute, meine Mutter wusste tief in ihrem Inneren, dass ich den Abstand brauchte, um den Verlust meines Vaters zu verarbeiten. Aber ich merkte, dass sie wütend war, und es gab Dinge, die unsere Beziehung getrübt hatten – auch wenn meine Mutter das nie zugeben würde. Ich konnte das verstehen. Sie hatte genug gelitten; sie hatte das Recht, wütend zu sein. An den ersten Tagen zu Hause haben wir nicht viel miteinander gesprochen, doch dann stellte sich bald Normalität ein. In meinem alten Zimmer zu schlafen hat Erinnerungen wachgerufen. Als Kind schlich ich mich oft nachts aus dem Bett und setzte mich ans Fenster, um zuzusehen, wie mein Vater zum Bergwerk ging. Er kam vor jeder Nachtschicht in mein Zimmer und ließ mich ein Spielzeug aussuchen, das ich in seine Brotbüchse legen durfte. Er sagte, er würde an mich denken, wenn er sie aufmacht, und dann seine Pause mit mir in meinen Träumen verbringen. Er hat nie viel mit mir oder meiner Mutter gesprochen, aber er wusste, wie wichtig die kleinen Dinge für ein Kind sind, und er nahm sich immer Zeit, mich ins Bett zu bringen, bevor er zur Arbeit ging. Ich wünschte mir so sehr, er wäre da gewesen, damit ich ihm von der Hand hätte erzählen können. Er war zwar kein Wissenschaftler, aber er hatte einen klaren Blick auf die Dinge. Mit meiner Mutter konnte ich nicht darüber sprechen. Wir hatten mehrere kurze, aber angenehme Unterhaltungen, die eine willkommene Abwechslung zu den höflichen Bemerkungen über das Essen waren, auf die wir uns nach meiner Ankunft beschränkt hatten. Aber meine Arbeit war geheim, und ich gab mein Bestes, nichts von dem, was mir durch den Kopf ging, auszusprechen. Es wurde von Woche zu Woche einfacher, je mehr Zeit ich damit verbrachte, über meine Kindheit nachzudenken statt über die Hand. Es dauerte fast einen Monat, bis ich zu der Stelle wanderte, an der ich sie zum ersten Mal gesehen hatte. Das Loch war längst wieder aufgefüllt worden. Aus der Erde wuchsen kleine Bäume zwischen den Steinen. Es gab nichts mehr zu sehen. Ich lief ziellos herum, bis es dunkel wurde. Warum hatte ausgerechnet ich die Hand gefunden? Es musste noch andere Konstruktionen geben wie die, auf die ich gestoßen war. Warum hatte sie niemand entdeckt? Was war an diesem Tag passiert? Die Hand war mehrere Tausend Jahre lang inaktiv gewesen. Warum hatte sie ausgerechnet an diesem Tag angefangen zu leuchten? Was war an diesem Tag vor zwanzig Jahren anders als all die Jahrtausende davor? Da wurde es mir schlagartig klar. Das war die Frage, die ich stellen musste. Ich musste herausfinden, was die Hand aktiviert hatte.

 

Sylvain Neuvel: „Giants“ ∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Marcel Häußler∙ Heyne Verlag, München 2016 ∙ 416 Seiten ∙ E-Book: € 11,99 (im Shop)

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