Lazarus hat keine Lust mehr
Robert A. Heinleins später Klassiker „Die Leben des Lazarus Long“ widmet sich der Liebe und kontroversen Fantasien
Lazarus Long will seinen Selbstmordhebel zurück. Nach über zweitausend Jahren ist er des Lebens müde, und so freut es ihn wenig, dass seine Nachkommen nicht nur seinen ersehnten Tod verhindern wollen, sondern dass er zudem einer weiteren Verjüngungskur unterzogen werden soll. Nein, Lazarus Long alias Wilson Woodrow Smith, geboren vor über zweitausend Jahren in der fernen Vergangenheit des zwanzigsten Jahrhunderts, der älteste Mensch der Galaxie und Senior der Howard-Familien, will nicht noch einmal von den Toten auferstehen.
Oder vielleicht doch? Seine Familie, zu der auf genetischer Ebene inzwischen über achtzig Prozent der Menschheit gehören, oder besser gesagt der Planet der Howard-Familien braucht seine Hilfe: seine Weisheit, seine Lebenserfahrung – eben alles, was man in zweitausend Jahren lernt. Das Ziel: Die Welt soll aufhören, immer dieselben Fehler zu begehen. Deshalb will Ira Weatheral, derzeitiger Präsident der langlebigen Howard-Familien, Lazarus’ Memoiren vervollständigen. Der lässt sich darauf jedoch nur unter einer Bedingung ein: Ira muss etwas finden, das Lazarus seine verlorene Lust am Leben zurückgibt.
Innerhalb dieser Rahmenhandlung lässt Robert A. Heinlein (im Shop), neben Isaac Asimov (im Shop) und Arthur C. Clarke (im Shop) einer der drei Großen des goldenen Zeitalters der Science-Fiction, in „Die Leben des Lazarus Long“ (im Shop) diesen aus seinem zwei Millennia umspannenden Leben erzählen: von der fleißigen Faulheit seines Freundes im zweiten Weltkrieg über seine Eskapaden mit zwei Zwillingen, die nicht miteinander verwandt waren, bis zur Ehe mit seiner Adoptivtochter. Währenddessen folgt die Rahmenhandlung seiner Genesung und dem wahrhaft einzigartigen Plan, den sich Ira für seinen Ahnherren einfallen lässt.
Ob sich Lazarus dabei an seinen Teil der Abmachung hält, nämlich die Zivilisation seiner Nachkommen mit seiner Weisheit zu befruchten, muss der Leser für sich entscheiden. Denn Heinlein nutzt dieses über sechshundert Seiten lange Spätwerk – er ist zum Zeitpunkt der Abfassung bereits sechsundsechzig Jahre alt – in erster Linie dazu, Lazarus Long seine Sicht auf Alles und Jeden an seine Nachfahren weitergeben zu lassen, wobei sich die Romanfigur häufig nur allzusehr wie ein Sprachrohr für Heinleins eigene Meinungen anhört – er hört wenig Widerspruch und wird so gut wie nie widerlegt. Vor allem seine Meinung dazu, ab wann sich sein lebenslang kräftig gebliebener Fortpflanzungstrieb anderen Kriterien als rein genetischen zu unterwerfen hat, wird dabei in allen Varianten, die ein zweitausend Jahre währendes Leben eröffnet, mit stets demselben Ergebnis erörtert: Solange die Gene stimmen, sieht Lazarus keinen Grund, sich die Weitergabe seines spektakulären Erbguts verbieten zu lassen.
Was auf den ersten Blick wie ein dünn verhülltes Manifest der libertären Ideen eines für seine kontroversen Ansichten durchaus berüchtigten Autors wirkt (Heinlein hatte sich schon 1961 mit „Fremder in einer fremden Welt“ (im Shop), seinem Loblied auf die freie Liebe, nicht nur Freunde gemacht), behandelt weit mehr als nur Spekulationen über die angeblich grundlose moralische Verwerfung des Inzests. Heinlein geht hier – neben vielen anderen Themen – vor allem der Frage nach: Was ist Liebe, wie weit darf sie gehen, und kann ein Mensch sie mehr als nur einer Person – und in mehr als nur dem sexuellen Sinn – schenken?
Das Buch heißt deshalb in seinem englischen Original auch nicht umsonst „Time Enough For Love“. Lazarus hat „schon vor Jahrhunderten festgestellt, was für ihn Tragischste an der kurzen Lebensdauer gewöhnlicher Menschen“ ist: „Sie hatten selten genug Zeit für die Liebe.“
Wir Kurzlebigen können wohl nur hoffen, dass er Unrecht hat.
Robert A. Heinlein: Die Leben des Lazarus Long ∙ Aus dem Amerikanischen von Birgit Reß-Bohusch ∙ Erstmals ungekürzte, bearbeitete Neuausgabe ∙ Wilhelm Heyne Verlag ∙ E-Book: 9,99 Euro (im Shop)
Kommentare