Meta-Psychologie: „Monster auf der Couch“
Jenny Jägerfeld & Mats Strandberg schicken viktorianische Ikonen in Therapie
Eine freischaffende Psychologin aus Stockholm hat einige ungewöhnliche Patientinnen und Patienten: Dank der Zeitreise-Technologie nach H. G. Wells kommen nämlich Dr. Jekyll und der ungezügelte Mr. Hyde, Laura und Herzensvampirin Carmilla, Viktor Frankenstein, Elisabeth Lavenza und Frankensteins Kreatur (bzw. Wesen) sowie der verführerische Dorian Gray zu ihr in die Gegenwart und ihre Praxis, um sich bei ihren jeweiligen Problemen helfen zu lassen. Dabei kollidieren die chauvinistisch geprägten viktorianischen Weltanschauungen und Werte mit einer lesbischen Wissenschaftlerin und Ärztin von Heute. Trotz allem verhilft die Psychologin ihren Patientinnen und Patienten zu manch einem Durchbruch. So weit die Prämisse des Buches „Monster auf der Couch“ von Jenny Jägerfeld und Mats Strandberg (im Shop), sie Psychologin und preisgekrönte Schriftstellerin („Der Schmerz, die Zukunft, meine Irrtümer und ich“), er Fantastik- und Spiegel-Bestsellerautor („Die Überfahrt“).
Das Werk des schwedischen Duos, in dem der Name der fiktiven Psychologin übrigens durchgehend geschwärzt wurde, spielt auf charmante Weise mit den Figuren aus „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ von Robert Louis Stevenson (1886), „Carmilla“ von Sheridan Le Fanu (1872), „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ von Mary Shelley (1818) und „Das Bildnis des Dorian Gray“ von Oscar Wilde (1890). Dabei setzt sich „Monster auf der Couch“ aus transkribierten Videoaufnahmen der Treffen mit Carmilla, Frankenstein und Co., Portrait-Illustrationen, von der Psychologin zusammengetragenem Recherchematerial, ihren im Anschluss an jede Sitzung erstellten Gedanken und Fallnotizen, Mails ihrer Mentorin und anderem zusammen. Die Abschriften sind außerdem mit handschriftlichen Anmerkungen der Therapeutin versehen – und bei den Fachartikeln wird das Ganze sogar etwas meta, weil im Frankenstein-Kontext ein Artikel von Jenny Jägerfeld über das Uncanny Valley in der Robotik abgedruckt ist. Das alles präsentiert sich typografisch abwechslungsreich gestaltet und auch sonst sehr schön aufgemacht.
Was darüber hinweg tröstet, dass Jägerfeld und Strandberg hier und da ein bisschen tricksen: Zum Fall Dorian Gray findet die Psychologin im Internet etwas, über Vampire im Allgemeinen weiß sie ebenfalls Bescheid, die Geschichten von Frankenstein und den anderen scheinen ihr jedoch gänzlich unbekannt. Es funktioniert trotzdem, weil wir natürlich diese Klassiker der Weltliteratur und der fantastischen Genres kennen – und weil wir die Beziehung zwischen literarischen Archetypen, viktorianischem Subtext und moderner Psychologie gerne aufgearbeitet sehen. Obendrein erweist es sich als cleverer Schachzug, statt auf Dracula auf Carmilla zu setzen, und so mehr Vielfalt und eine wesentlich spannendere Dynamik ins Buch zu kriegen. Im Übrigen erinnern einen die vier dezent verknüpfen Episoden strukturell und konzeptionell an einen Podcast, der wegen der Materialien in Buchform nur besser aufgehoben war. Am Ende gibt es zudem noch einen Kniff, der die Einleitung der besorgten Ehefrau unserer Ärztin und den Cover-Zusatz „Der rätselhafte Fall der verschwundenen Psychologin“ aufgreift.
Kein Roman im eigentlichen Sinn, nicht bis ins letzte Detail perfekt, aber sehr liebevoll gemacht und definitiv interessant, insofern man eine Vorliebe für die viktorianischen Ikonen der Weltliteratur hat und gerne erleben möchte, wie sie auf eine post-freudianische Therapie anschlagen – oder allein schon mit einer modernen Frau und Ärztin konfrontiert werden.
Mats Strandberg, Jenny Jägerfeld: Monster auf der Couch • Roman • Aus dem Schwedischen von Leena Flegler • 464 Seiten • Penhaligon, München 2022 • Erhältlich als Hardcover • € 20,00 • im Shop
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