22. Oktober 2013

Pflicht und Kür

Die Strugatzki-Werkausgabe 4 und „Atomvulkan Golkonda“

Lesezeit: 7 min.

Das Erscheinen des vierten Bandes der Werkausgabe (im Shop ansehen) hat Boris Strugatzki wohl noch erlebt; auch die Neuausgabe des Erstlingsromanes der Gebrüder kam noch vor seinem Tod heraus. Beide Bände passen hervorragend zusammen, gehören die Texte darin doch alle zur »Welt des Mittags«, wie die Reihe im Golkonda-Verlag heißt, deren erster Band nun vorliegt und die Werkausgabe ergänzt.



Obwohl die Strugatzki-Ausgabe bei Heyne auf sechs, wenn auch außerordentlich voluminöse Bände ausgelegt ist, kann sie unmöglich das Gesamtwerk der beiden russischen Science-Fiction-Schriftsteller enthalten und nur eine Auswahl bringen. Deswegen will Golkonda-Verleger Hannes Riffel nach und nach die dort nicht berücksichtigten Texte in ähnlich editorisch betreuten Neuausgaben herausbringen – und was liegt da näher, als mit jenem Buch zu beginnen, nach dem er seinen Verlag benannt hat?

Der Roman mit dem Originaltitel »Das Land der Purpurwolken« erschien erstmals 1959, und natürlich merkt man dem Text seine Entstehungszeit an. Das beginnt bei der beiläufig erwähnten sowjetisch-chinesischen Zusammenarbeit (erst 1960 kam es zum offenen Bruch und 1969 zum Mini-Krieg zwischen der Sowjetunion und China am Ussuri) und hört noch lange nicht auf bei der Unbekümmertheit, mit der die Protagonisten des Romans mit nuklearbetriebener Ausrüstung herumhantieren. Die Strugatzkis wussten damals auch noch nicht, dass die Venus in Wirklichkeit keine erdähnliche Welt mit ein paar seltsamen Eigenheiten, sondern ein wahrer Glutofen ist, auf dessen Oberfläche selbst Metalle wie Blei, Zink und Zinn nur in flüssiger Form vorkommen können, und dass dort Drücke herrschen wie in über 900 Meter Meerestiefe; ganz zu schweigen davon, dass ein Tag auf der Venus ganze acht Erdmonate dauert und nicht bloß 57 Stunden. All das haben Raumsonden erst später herausgefunden, beginnend mit Mariner 5 im Jahre 1967.

Aber die Protagonisten des Romans sind erstaunlich frisch geblieben, und wenn auch heute die Staffage des Buches gelegentlich ein wenig antiquiert und auch amüsant erscheint, so sind die menschlichen Geschichten rund um die tragisch verlaufende Expedition auf die Venus doch immer noch bewegend. Natürlich darf man von dem Debütroman der Brüder Strugatzki keine raffinierten Handlungsbögen erwarten.

Zunächst wird die Auswahl der Mannschaft geschildert, was angesichts der Tatsache, dass bereits mehrere Expeditionen zur Venus gescheitert sind, mit besonderer Sorgfalt erfolgen soll; dem Leser werden hier die späteren Protagonisten ausführlich vorgestellt. Aus heutiger Sicht ist der bürokratische Apparat beeindruckend, der dabei ständig im Hintergrund steht; in späteren Werken sollten die Gebrüder dieses Thema noch ausführlicher und sarkastischer behandeln. Ziel der Expedition ist es, die industrielle Ausbeutung des Atomvulkans Golkonda vorzubereiten – dabei handelt es sich um eine Art permanenten, atomaren Vulkanausbruch. Man will dort die Nebenprodukte des Vulkans abbauen und für allerlei gute Werke verwenden.

Dann und teilweise parallel wird die Technik des neuartigen Raumschiffs Chius geschildert – immerhin ein Photonenraumschiff, das in etwa die Form einer Schildkröte hat und damit ein für 1959 ausgesprochen originelles Design aufweist. Es folgt der Flug zur Venus, natürlich zeittypisch mit gefährlichen Zwischenfällen auf dem Weg, und die Landung der Chius. Das Raumschiff klatscht mehr oder weniger zufällig in einen Sumpf voller Urzeitviecher und -gewächse. Danach folgen (im verbliebenen letzten Drittel des Romans) die üblichen aufreibenden Abenteuer auf einem fremden Planeten, und die Verfasser scheuen sich nicht, ihre Personnage recht drastisch zu dezimieren. Am Schluss ist es der ursprünglich als Anfänger und bloßer Chauffeur eingeführte Hauptcharakter Bykow, der nach und nach zum Helden der Chius-Besatzung avanciert ist.

Was den Band für den Strugatzki-Leser unverzichtbar macht (auch wenn er sich längst in irgendeinem Antiquariat eine Ausgabe besorgt hat), ist seine editorische Ausstattung. Er enthält nicht nur den für die erste deutsche Ausgabe aus unerfindlichen Gründen gestrichenen (und nie wieder aufgenommenen) Epilog des Buches, sondern auch ein komplettes Kapitel, das die Gebrüder selbst gestrichen haben: »Die Kantine der Raumfahrer«. Außerdem hat Erik Simon den Text mit der 1993 in Russland publizierten, von jeglichen Eingriffen der Zensur befreiten Fassung verglichen – die sich laut Golkonda-Verlag mehr als eine viertel Million Mal verkauft hat – und alles ergänzt, was den bisher verfügbaren deutschen Fassungen infolgedessen fehlte. Hinzu kommt ein Kommentar von Boris Strugatzki und ein Aufsatz von Erik Simon, der die Hintergründe des Romans und seiner Publikationsgeschichte beleuchtet. Beeindruckend dabei die hier dokumentierte Wankelmütigkeit und Unberechenbarkeit der sowjetischen Zensur; mal waren ihnen zu viele tote Kosmonauten im Buch, dann erweckte ein bestimmter Name unliebsame Assoziationen, plötzlich störten die militärischen Dienstgrade, während der gelegentlich doch sehr militärische Tonfall zwischen den Charakteren nicht beanstandet wurde. Ein paar im Originaltext zitierte russische Gedichte wurden vom deutschen Verlag in den alten Fassungen einfach weggelassen, weil wohl niemand Lust hatte, sie nachzudichten.

Geradezu überbordend mutet die Energie an, die der Verlag der grafischen Gestaltung des Buches angedeihen ließ. Da werden die Buchteile mit Vignetten eingeleitet, deren Motive auf jeder Seite dieser Teile (und teilweise auf dem Cover) wiederkehren, da werden Absätze von Kapitelanfängen mit Initialen geschmückt, und wer will, kann an der Färbung der Fußzeilen am Buchblock ablesen, wo welcher Teil zu finden ist. Und obwohl das Layout mit dem Platz niemals verschwenderisch umgeht, ist es eine Wonne, das Buch zu lesen: So geht Buchgestaltung.

In der nun zum vierten Band fortgeschrittenen Werkausgabe der Brüder Strugatzki ist derlei grafischer Übermut natürlich nicht zu finden, stattdessen das gewohnte professionell-gediegene Layout. Der wieder sehr seitenreiche Band (knapp neunhundert Seiten für knapp dreizehn Euro – ja, ist denn jetzt schon Weihnachten?) enthält fast ausschließlich Texte, die von den Gebrüdern später zu jenem Mittags-Universum hinzugefügt wurden, das in »Atomvulkan Golkonda« seine Wurzeln hat.

»Fluchtversuch« ist ein Kurzroman (diese speziell russische Form der Powest), in dem die heile Welt des Mittags mit einem Planeten konfrontiert wird, auf dem sich gerade die Barbarei durchsetzt. Menschen werden gefoltert und willkürlich ausgelöscht, und das alles vor dem Hintergrund einer unbegreiflichen, furchteinflößenden Maschinerie auf dem Planeten, die offensichtlich außerirdisch ist und nichts tut als … ja, was eigentlich? Es bleibt ungewiss. Die Protagonisten sind hin- und hergerissen zwischen dem Drang, sich einzumischen und zu helfen, und der Gewissheit, dass ein einzelner Eingriff am Ende gar nichts bewirken würde. Hier bauen die Strugatzkis eine Menge von starken Bildern auf, lassen die Powest aber enden in einem Rücksturz eines der Helden in die Gräuel des Zweiten Weltkrieges: Aus denen war er nach eigenen Worten desertiert in die Welt des Mittags.

»Es ist schwer, ein Gott zu sein« zählt wohl zu den bekanntesten Romanen der Strugatzkis und wurde auf Deutsch auch unter leicht abweichenden Titeln veröffentlicht (die alle nicht die Eleganz des nur aus drei Worten bestehenden Originaltitels »Trudbo byt’ bogom« erreichen). Er greift die Frage nach dem erlaubten oder sinnlosen Eingreifen der überlegenen in die Belange der primitiveren Zivilisation wieder auf, die schon »Fluchtversuch« prägte, und gestaltet sie diesmal nicht als Rätsel, sondern als packendes Drama. Nach wie vor einer der besten Texte der beiden Autoren.

»Unruhe« ist kein neuentdeckter unveröffentlichter Roman, sondern eine erste Fassung von einem der beiden Handlungsstränge, die später zu »Die Schnecke am Hang« wurden. Diese Version ist noch tief verwurzelt in der »Welt des Mittags« und hat mit der späteren Version wenig zu tun – eigentlich ein komplett eigenständiger Roman.

»Die dritte Zivilisation« beschreibt, wie ein Kind gefunden wird. Es ist mit seinen Eltern auf einem unbewohnten Planeten abgestürzt – aber als es gefunden wird, hat es nicht nur den Absturz, sondern auch seine Babyzeit überlebt, verfügt über unheimliche Fähigkeiten und hatte offenbar Kontakt zu einer Alien-Zivilisation, die es aufgezogen hat. Wieder einmal stehen die Helden vor der Wahl, ob sie sich einmischen sollen, also das Kind aus der offenkundig lebensfeindlichen Umgebung retten, oder die Einheimischen respektieren.

»Der Junge aus der Hölle« ist schließlich so etwas wie eine Kombination von Ideen aus den anderen Romanen – die Welt, aus der der titelgebende Junge kommt, könnte die aus »Fluchtversuch« sein; er ist so fremd in der neuen Welt wie das Findelkind aus »Die dritte Zivilisation«; und sein Charakter wirkt, je weiter die Powest voranschreitet, mehr und mehr wie eine alternative Variante von Rumata, dem Protagonisten aus »Es ist schwer, ein Gott zu sein«. Das Thema der Einmischung in fremde Verhältnisse, die Rumatas Hauptkonflikt ist, wird in »Der Junge aus der Hölle« sozusagen herumgedreht – der Kampfkater Gagh (den Boris Strugatzki als einen seiner Lieblingshelden bezeichnet) steht vor der Frage, ob er sich die Einmischung durch eine komplett andere Welt in die Angelegenheiten seiner eigenen Seele gefallen lassen muss.

Wie schon bei den anderen Bänden der Werkausgabe hält der Anhang den Kommentar Boris Strugatzkis und die erhellenden Anmerkungen Erik Simons bereit. Während man die Anspielungen der Gebrüder auf Kipling und das Dschungelbuch vielleicht noch selbst hätte herausfinden können, muss man dankbar sein für die Verweise zu Marx, Gorki und Gogol. Und dass sich der Titel »Es ist schwer, ein Gott zu sein« von einem alten japanischen Haiku ableitet (genauer gesagt, einem Senryu), wäre ohne diese Anmerkungen unbemerkt geblieben.

Wie auch die anderen Bände der Werkausgabe ist auch der vierte ein Pflichtkauf für Science-Fiction-Leser. Außerdem ist es derjenige Band, den man einem Leser als Einstieg in das Universum der Gebrüder Strugatzki am ehesten empfehlen kann, denn er enthält noch die eingängigsten Texte. Wer als Strugatzki-Anfänger diesen Band gelesen hat, kann sich danach an den ersten Band der Werkausgabe machen (der die Maxim-Kammerer-Trilogie enthält); er ist dann gewappnet für Band 2 und 3; und irgendwann wird er auch die Neuausgabe von »Atomvulkan Golkonda« lesen wollen.

Arkadi & Boris Strugatzki: Atomvulkan Golkonda • Aus dem Russischen von Willi Berger und Erik Simon · Golkonda Verlag, Berlin 2012 · 376 Seiten · € 16,90

Arkadi & Boris Strugatzki: Werkausgabe - Vierter Band • Aus dem Russischen von Dieter Pommerenke, Arno Specht, David Drevs, Aljonna Möckel, Erika Pietraß und Erik Simon · Heyne Verlag, München 2012 · 880 Seiten · € 11,99 (im Shop ansehen)

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.