22. Mai 2013

Plagegeister

„Indigo“ von Clemens J. Setz

Lesezeit: 4 min.

Clemens Johann Setz, geboren 1982 in Graz, ist shortgelistet wie kaum ein zweiter deutschsprachiger Autor: Sein Debütroman »Söhne und Planeten« schaffte es anno 2008 auf die Shortlist des Aspekte-Literaturpreises; im nämlichen Jahr ereilte ihn der Ruf zum Ingeborg-Bachmann-Wettlesen, wo ihm seine Novelle »Die Waage« den Ernst-Willner-Preis bescherte; im folgenden Jahr stand »Die Frequenzen«, sein zweiter Roman, auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, und für seinen Erzählband »Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes« erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse.

Und die Preiswürdigkeit all dieser Werke soll hier keinesfalls bestritten werden. Schließlich sitzen dort lesekundige Damen und Herren, die mit wachem Verstand prämieren.

Setz begann im Jahr 2011 in seiner Geburtsstadt Graz ein Lehramtsstudium der Germanistik und Mathematik, und ein wenig – man möge mir verzeihen – schimmert das Doppelgesicht des lustigen Pädagogenstandes in seinen Texten durch: Halb Oberlehrer, halb Kinderverwirronkel, hat er nun den Roman »Indigo« geschrieben.

»Irgendwann gewöhnt man sich gegen alles« – so spricht irgendwann Dr. Rudolph, Leiter des Helianau-Instituts. Dr. Rudolph bezieht sich auf die sogenannten »Indigo-Kinder«. Es sind weder die Hochbegabten noch Kinder mit Entwicklungsverzögerungen, die an diesem Institut in der Steiermark unterrichtet werden, sondern Menschennachwuchs, der auf mirakulös-unheimliche Weise ansteckend ist, ansteckend mit den absonderlichsten Krankheiten, Unwohlseinarten, Körper- und Geistverstimmungen.

»Indigokinder« heißen die malefaktösen Geschöpfe, weil, wer Auren zu schauen versteht, an ihnen eine indigoblaue Aura bemerkt. Solcherart Indigo-Kinder also werden in Dr. Rudolphs Institut gehalten, observiert, erforscht und im Übrigen betreut und unterrichtet. Ihr Mathematiktutor heißt Herr Setz und ist ein angehender Mathematiklehrer, den es auf der Suche nach einem Praktikumsplatz an das Institut verschlagen hat. Seitdem wird er so von Kopfschmerzen, Übelkeit und Konzentrationsschwäche geplagt, dass man als Leser besorgt ist, er würde, was Lehrern ja nicht selten geschieht, alsbald outgeburnt sein.

Die sonderbaren Verhältnisse an dieser sonderbaren Schule (als gäbe es Schulen, die nicht sonderbar sind, sind doch alle Schulen ein Hort der Sonderbarkeit nicht nur ihres zur Schrulligkeit neigenden und von den Possen der pädagogischen Ministerialverwaltung zur Schrulligkeit erzogenen Stammpersonals wegen) – besagte sonderbaren Verhältnisse also machen ihm mehr und mehr zu schaffen, und der immer besorgtere Leser fragt: Taugt Herr Setz vielleicht gar nicht zum Lehrer (wie ja die meisten Lehrer nicht zum Lehrer taugen), sollte er vielleicht lieber Romane schreiben (was ja der Wunschtraum der meisten Lehrer ist)?

Was Herrn Setz jedenfalls besonders zu schaffen macht, sind die Kinder (auch dies ein Gedanke, der manchem Lehrer vertraut ist: Wie schön wäre die Schule ohne diese Plagegeister!). Sie zeigen ein eigenartig-vertracktes Territorialverhalten; sie bewegen sich in einer Art Schwarmformation über das Gelände der Helianau, wobei sie die immer gleiche Individualdistanz zueinander einhalten: »Wie Drahtmodelle von Molekülen bewegten sich die Schüler dann durch den Hof, die Abstände zwischen ihnen stets gleich haltend, als hingen sie an Verbindungsrohren aus Stahl. Ein menschliches Mobile. Manchmal werde einem da allein schon vom Zuschauen schwindlig, so Dr. Rudolph. Von seinem Fenster aus könne er das Mysterium fast den ganzen Oktober über betrachten und es erinnere ihn sogar an die herbstlichen Starenschwärme auf Jütland.«

Die Erziehungsmethoden sind – nun ja: romanangemessen-suspekt: Zur Strafe für regelwidriges Verhalten müssen sich die Kinder beispielsweise verkleiden; andere Zöglinge werden von einem ominösen Wagen abgeholt. Unter den Kindern des Instituts ist ein gewisser Robert Tätzel, dessen Sein und Werdegang dem Publikum erzählt werden, seine Beziehung zu seiner Freundin, sein Erfolg als Maler vor allem gequälter Tiere.

Nach einem Streit mit dem Institutsleiter verlässt der geistig angeschlagene Autor und sein Namensvetter oder Alter Ego das Institut. Doch es bleiben Fragen, Fragen über Fragen, die den Mathematiklehrer im pädagogischen Exil – der sich nun als Autor versucht – nicht mehr loslassen. Setz sucht nach Informationen über die Indigokinder; er redet mit einer Mutter, deren Kind eine Osterinselmaske tragen muss; und wird schließlich eines grausamen Verbrechens angeklagt …

Genug, ich gebe zu: Ich habe den Faden verloren: Woher kommen diese Indigo-Kinder gleich? Wohin verschwinden sie automobil? Warum reagiert, wer unter Indigokindereinfluss stand, so überempfindlich auf Tiere, ja auf Tierbilder? Warum muss der Leser auch noch nach Brüssel verschleppt werden, was hat es mit Herrn Ferenz (und allem anderen) auf sich und was hat das eine (alles) mit dem (und allem) anderen zu tun? Man springt als Leser von dem einen Erzählfragment zum anderen und landet am Ende – allez hopp! – im Leeren.

Natürlich ist es fabelhaft, wenn man ein Künstler ist und etwas zu erzählen hat. Man kennt sich aus im Spannungsbogenbau, im Vexierspiegel mit Namen und Identitäten, man weiß, wie man Erwartungen weckt und wie man sie mit großem Hallo enttäuscht, weil man kein Allerweltsromancier sein will, der am Ende des erzählten Tages die Rätsel schnöde löst und eitel Klartext spricht. Natürlich ist es auch eine große Kunst, Äpfel, Birnen und Bananen aus Wachs und Pappmaschee zu formen, dergestalt, dass einem das Wasser im Mund zusammenläuft: große Kunst, ganz große Kunst.

In diesem Sinne sieht »Indigo« ganz wie ein Roman aus. Der Einband ist solide, ebenso der Preis. Nur die Spannung entpuppt sich als Wachs und Pappmaschee.

Clemens J. Setz: Indigo • Roman · Suhrkamp Verlag, Berlin 2012 · 477 Seiten · € 22,95

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