22. Juni 2013

Polymorph-Pervers

Paul Di Filippos „ Mund voll Zungen“

Lesezeit: 6 min.

In ihrem Essay »Die pornografische Phantasie« untersucht die Autorin und Kulturkritikerin Susan Sontag die Genres der Pornografie und der Science Fiction auf ihre Gemeinsamkeiten. Schauplatz der Handlung sei jeweils eine »ahistorische, traumwelthafte Landschaft«: »Solche Abkehr vom realen Zeitablauf, vom dreidimensionalen Raum, von der konkreten Persönlichkeit und eine derart ›fantastische‹ Übersteigerung der menschlichen Energie sind vielmehr Elemente einer anderen Art von Literatur, die auf einer anderen Bewusstseinsform basiert. Die Pornografie ist – genau wie die SF – ein Zweig der Literatur, der auf Desorientierung, auf psychische Verwirrung, ausgerichtet ist.« Dazu lässt sich ergänzen, dass die ausgereifte Pornografie genauso wenig wie die elaborierte Science Fiction ob ihrer ontologischen Radikalität umstandslos in andere Genres integrierbar ist. Den Versuch einer Symbiose aus beiden stellt Di Filippos Buch dar, das aber nur in manchen Passagen gelungen ist.

2011 publizierte Paul Di Filippo ein E-Book, dessen vollständiger Titel lautet: »How to write wild-eyed, overstuffed, multiplex, maximalist, recomplicated, high-bandwidth Science Fiction.« Dieses Ideal eines maximalistischen SF-Romans, vollgepackt mit Ideen und Material, hält er für den zeitgemäßen Höhepunkt des Genres. Als Beispiele nennt er »Accelerando« von Charles Stross und einen SF-Klassiker schon älteren Datums: »Ringwelt« von Larry Niven. Sein Werk »Mund voll Zungen«, das zuerst 2002 in den USA erschienen ist, beweist aber, dass ein extrem ausgereizter Anspruch auch ins Absurde und sogar ins Lächerliche kippen kann.

Das Buch ist als zweiter Band der von Dietmar Dath herausgegebenen Reihe »New Gothic« veröffentlicht worden. Der Klappentext macht gespannt: »Eine neue Stufe der Science Fiction, ein Kreuzzug der Libido gegen eine korrupte und abgestumpfte Weltordnung.« Dath schreibt in seinem Vorwort: »Erotische Literatur handelt davon, dass Überschreitung und Zucht, Chaos und Ritual, Orgie und Treue einander wie alle Gegensatzpaare, die überhaupt etwas taugen, nicht nur berühren und ergänzen (…), sondern im tiefsten Grund sogar bedingen.« Bei Di Filippo sei dieser paradoxe Genre-Grundzug allgegenwärtig. Nun ist ein solches zweiwertiges Interpretationsschema bezogen auf die Erotik nicht selten. Die Erotik, die Sinnlichkeit steigere sich in dem Maße, schreibt Georges Bataille, wie die Zerstörung, der Tod fühlbar werde. »Mund voll Zungen« passt aber nicht in ein solches Schema.

Schauplatz ist eine nordamerikanische Stadt im Jahre 2015. Kerry Hackett ist persönliche Assistentin des Geschäftsführers der Firma DIAVERDE PARABIOLOGICALS, die auf biotechnologische Innovationen spezialisiert ist. Sie lebt bescheiden mit ihrem kranken Freund zusammen, der teure Medikamente benötigt. Armut und Verelendung sind im öffentlichen Raum überall anzutreffen, Nationalgardisten patrouillieren in den Straßen. Überfälle sind an der Tagesordnung; so sollte man nicht auf offener Straße in ein Auto einsteigen. Als eine Delegation von Senatoren die Firma besucht, hat Kerry zum ersten Mal Zugang zum Sicherheitstrakt, in dem unter anderem das Benthos-Projekt unter Verschluss gehalten wird. Das Benthos ist eine Kreatur, die aus »echtzeit-totipotenten Zellen« besteht und sich beliebig in andere Organe verwandeln kann. Kerry ist von diesem Wesen sehr beeindruckt und hält es für ein »lebendiges Kunstwerk«. Abends soll sie den Geschäftsführer zu einem Abendessen mit den Politikern begleiten.

Dieses entpuppt sich als Dinner zu zweit. Ihr Gastgeber nimmt Kerry danach mit in seine Wohnung, und es kommt zu einer sexuellen Annäherung seinerseits. Kerry geht zuerst darauf ein, bricht den Sex aber nach einer Unterbrechung ab. Sie lässt sich nach Hause bringen. Dort beginnt für sie ein wahrer Albtraum. Ihr Freund verdächtigt sie fremdgegangen zu sein, vergewaltigt sie anal und schmeißt sie aus der Wohnung. Unterwegs auf den unsicheren Straßen begegnet sie einem Soldaten, der sich nicht um ihren Schutz kümmert, sondern sie in einer dunklen Ecke zum Oralverkehr zwingt. Gedemütigt, verletzt, ihre Kleidung beschmutzt, macht sie sich zu Fuß auf den Weg zu DIAVERDE PARABIOLOGICALS. Dank ihrer gerade erhaltenen Legitimation hat sie Zugang zum Sicherheitstrakt. Sie befreit das Benthos aus seinem Hightech-Gefängnis und nimmt das Wesen in sich auf – der Beginn ihrer grundlegenden Verwandlung: »eine Umwandlung des Fleisches in mehr als nur Fleisch, in fremde Pracht, Schöpfung der Nymphenmacht«. Durch diese »totipotente Evolution« weist ihr Körper neue Fähigkeiten auf. Eine »verführerische Lebenskraft« geht von ihm aus. Ihre Zunge wird zu einer Waffe, die in die Kehlen der Wachleute eindringt und sie außer Gefecht setzt. Ihr Ziel ist der Flughafen; dort nimmt die den Körper einer Hispanoamerikanerin an und fliegt nach Bahia in Brasilien. Damit endet der erste Teil.

Im dritten Kapitel verbreiten sich Elemente des Benthos-Wesens in der ganzen Stadt. Viele metamorphe Verwandlungen sind im Stadtbild zu beobachten, die nicht mehr zu kontrollieren sind. Kerry wird offiziell beerdigt. Sie taucht aber wieder auf, bestraft ihre Peiniger und (ver)führt ihre Freunde und Helfer zu einer neuen Existenzform. Es kommt zu einer allmählichen Transformation der Umwelt, zu einer »Ökopoeisis«. Die moderne Welt geht in einen Dschungel über …

Diese beiden Teile nehmen zusammen knapp sechzig Seiten ein und wären für sich eine lesenswerte Novelle, wenn es, ja, wenn es diesen merkwürdigen Mittelteil nicht gäbe, der den größten Raum in dem Buch einnimmt. Er beginnt mit der Ankunft der mutierten Kerry im abgelegenen Nordosten Brasiliens. Von der Stimmung her verwandelt sich das Werk jetzt in ein klischeebehaftetes Werk des magischen Realismus aus Südamerika, das ohne Referenzen zur SF auskommt und seltsam aus der Zeit gefallen ist. Technik kommt nur noch in Gestalt von Radio oder Schreibmaschine vor. Schnauzbarttragende müßiggängerische Machos, stoisch ihr Schicksal tragende Indios und sexuell allseits bereite weibliche Angestellte bevölkern plötzlich die Geschichte. Kerry wird zum »She-Beast«, welches bald für lokale Aufmerksamkeit in der Provinz sorgt. Es kann mit seiner Zunge einen Schlauch bilden und so beim Oralverkehr einem Hotelbesitzer ungeahntes Vergnügen bereiten. Auch seine Vagina ist merklich flexibler geworden. Nebenbei erzeugt es einen neuen Arm bei seinem Liebhaber. Es ist auch in der Lage, Männer in Frauen umzuformen und vice versa. Eine Leiche wird von ihm zur Ejakulation gebracht. Ein Höhepunkt des immer formloser werdenden Treibens ist, als She-Beast sich in den Körper der minderjährigen Tochter des ortsansässigen Tycoons transferiert und ein Bordell aufsucht. Es befriedigt fünf Männer gleichzeitig, während fünfzig weitere warten – also ein Gangbang besonderer Art. Die Männer verlieren sich in einem Delirium der Lust und schließlich verschmelzen ihre Körper mit She-Beast zu einem »Fleischberg«. Am Ende gebietet ein Indio-Schamane dem Tun des Benthos Einhalt und führt es auf den Pfad der Weisheit.

Ein anderer Liebhaber des sexuell unersättlichen Wesens ist Schriftsteller und schreibt an einem Text mit dem Titel »She-Beast«. Ist also der Mittelteil vielleicht das fiktive Werk dieser Figur? Oder handelt es sich also bloß um einen fiebrigen »Traumtext« aus dem Bewusstsein der sich verwandelnden jungen Frau? Das Buch beginnt mit einem Traum der schlafenden Kerry, in dem sie von einem Jaguar überwältigt und penetriert wird. Das Jaguar-Motiv taucht an anderen Stellen im Text wieder auf. In diesem Abschnitt ufert das Buch aus in »explosionsartigen Anfällen von zügellosem Gerammel, ein Tornado der Gliedmaßen und ein Monsun spritzender Flüssigkeiten«. Das von Dath beschriebene Ordnungsprinzip kommt nicht zum Zuge, es gibt keine Korrektur durch einen Gegenwert (es sei denn, man sieht die mystisch-schamanistische Weisheit als einen solchen). Das Werk überschreitet jedes Maß und wird zu einer unausgegorenen Fantasmagorie, die je nach Sensibilität des Lesers stellenweise ins Horror-Genre umschlägt oder einfach nur absurd-grotesk wirkt.

Di Filippo gehörte in den Achtzigern zu den Randfiguren der Cyberpunk-Szene, und später arbeitete er an seinem biotechnologisch orientierten »Ribofunk«-Konzept (eine Wortschöpfung aus Ribosomen plus Funk). Die Rahmenhandlung des Buches liest sich denn auch wie eine interessante Mischung aus Greg Bears »Blutmusik« und J. G. Ballards »Freiflüge«. Die Weltordnung wird langsam durch eine andere ersetzt, die neue biotechnoide Freiheiten des sinnlichen Erlebens und der Selbstbestimmung bereithält. Eine Welt, in der die Erfüllung sexueller Bedürfnisse einfach geworden sein wird. Das Polymorph-Perverse der menschlichen Sexualität wird verbildlicht und übersetzt in ein fantasieanregendes literarisches Spiel, das inhaltlich eine Balance hält.

Paul di Filippo: Mund voll Zungen • Roman · Mit einem Vorwort von Dietmar Dath · Aus dem Amerikanischen von Katja Bendels und Dietmar Dath · Suhrkamp, Berlin 2010 · 245 Seiten ·  € 10,–

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