13. November 2012

Über Venedig schreiben?

„Perversion“ – Satte Postmoderne aus der Ukraine

Lesezeit: 2 min.

Als der Roman schon zu drei Vierteln rum ist, äußert sich die Hauptfigur Stanislaus Perfezki folgendermaßen: »Über Venedig schreiben? Was gibt es noch über Venedig zu schreiben? Nach Tausenden und Abertausenden schon geschriebenen Seiten? Nein, so blöd bin ich nicht!« Was den Autor, der sich in Perfezki ein überdrehtes Alter Ego geschaffen hat, jedoch nicht davon abhält, fröhlich weiter über Venedig zu schreiben – als habe es Thomas Mann, Elke Heidenreich, Casanova und Donna Leon nie gegeben. Nein, das stimmt nicht ganz: Die Abenteuer des Musikers und Lebenskünstlers »Stach« Perfezki trudeln vor den Augen des Lesers nur so dahin, aber hinter ihnen steht weniger echtes Venedig als ein Kaleidoskop euro­päischer Kultur mit Anspie­lungen, Karikaturen und so schwermütiger wie leichtfertiger Ironie.

Fette, satte Postmoderne also. Keineswegs eine Sammlung von Bildungsfrüchten, sondern ein Sortiment unterhaltsamer Genres: Liebesschmöker, Agententhriller, Geistergeschichte und Kongressbericht. Unterhaltsam? Ja, denn der Bericht vom internationalen Seminar »Post-karnevalistischer Irrsinn der Welt: Was dräut am Horizont?« überzeichnet eine stolze Reihe spinnerter Typen in ihren Ansprachen an die Welt, vom verschnörkelten Franzosen über die US-Feministin und einen tief im Gras ver­sunkenen Jamaikaner bis hin zum Ukrainer Perfezki. Der versucht, der quasi-intellektuellen Elite sein Heimatland beinahe poetisch nahezubringen.

Für das Phantasmagorische ist neben dem jahrhundertealten Ur-Venezianer und Großmeister irgendwelcher Geheimlogen Casallegra ein gewisser Dr. Dapertutto zuständig, der das Event or­ganisiert hat. Er scheint dabei viel gelernt zu haben von Michail Bulgakow, dessen »Meister und Margarita« Andruchowytschs »Musterbuch« ist.

Kurzum, nach echter oder eingebildeter Verfolgung durch Spione, nach einer intensiven Liebesgeschichte, die eigentlich nur ausgedacht sein kann, nach einem nächtlichen Empfang bei Casallegra anlässlich dessen Ablebens, nach genügend Hochwasser, um im Markusdom Boot zu fahren und die Sintflutmosaiken an der Decke aus der Nähe zu betrachten, und nach dem Beschreiben von Stapeln Papier unterschiedlichster Genres und von disparaten Verfassern verschwindet Perfezki. Das Hotelfenster zum Kanal steht offen.

Mord, Selbstmord, Inszenierung? Andruchowytsch hat da seine eigene Theorie. Zum Glück ist er es, dem der von ihm erfundene Perfezki alle seine Papiere hinterlassen hat, nebst Abschiedsbrief und sämtlicher Spitzelberichte über ihn (aus dem Ukrai­nischen von Sabine Stöhr – keine leichte Aufgabe, das Gemisch von Stilen und Spielereien zu übersetzen). Auch wenn unklar ist, warum das Buch so heißt, denn »Perversion« reimt sich selbst im Ukrainischen nicht auf »Venedig«, wie der Klappentext behauptet.

Zwar reicht der 1960 im ukrainischen Iwano-Frankiwsk geborene Romancier (»Zwölf Ringe«) und Essayist (»Das letzte Territorium«) Andruchowytsch mit dem im Original bereits 1999 erschienenen »Perversion« nicht ganz an Bulgakow heran, doch er hat einen furiosen, geistreichen und welthaltigen Roman verfasst. Seinem Helden, falls er denn ein neues Leben angefangen hat, würde man durchaus gerne über den Weg laufen, auch auf die Gefahr hin, dadurch in Gedichte, Untergrundmusik oder Lügengeschichten verwickelt zu werden.

Juri Andruchowytsch: Perversion • Roman · Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr · Suhrkamp Verlag, Berlin 2011 · 332 Seiten · 22,90

 

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