5. Februar 2015 6 Likes 1

Postapokalyptische Mega-Maulwurf-Jagd

China Miévilles endzeitlicher Abenteuer-Roman „Das Gleismeer“

Lesezeit: 4 min.

An China Miévilles neuestem auf Deutsch erschienenen Roman „Das Gleismeer“ (im Shop) ist – wieder einmal – vieles anders, um nicht zu sagen, besonders.

Das fängt schon damit an, dass sich im Text kein einziges „Und“ findet – Miéville nutzt stattdessen konsequent das „&“, das in seiner überzeugenden Weltenschöpfung die allgegenwärtige Verschlungenheit & Verbundenheit des titelgebenden Gleismeers repräsentiert.

Jenes Gleismeer ist das Verkehrs- & Adernetzwerk einer postapokalyptischen Welt, in der unsere Gegenwart lediglich in Form von Artefakten nachhallt, da sie von Gier zerstört & überdies von außerirdischen Kurzbesuchern als Müllhalde missbraucht wurde. Jetzt erstreckt sich ein Gewirr aus Schienen & Weichen in der öden Weite zwischen den Gebirgs-Inselstaaten einer neuen Zivilisation. Darüber fliegen tentakelbewehrte Flügelwesen, die vom giftigen Brodem halb verborgen werden & gelegentlich tot auf das Gleismeer stürzen. Darin bzw. darauf wiederum rattern Züge aller Art, betrieben von Dampf oder Benzin oder Wind oder Muskelkraft, bestückt mit Maulwurffängern, Händlern, Artefaktern, Entdeckern & Piraten. Unter dem Gleismeer lauern indessen die großen & noch viel größeren Biester, gewaltige Maulwürfe, blutgierige Säbelzahn-Nacktmulle, riesige Ameisenlöwen & anderes Gezücht, das sich durch die Erde wühlt & immer zum Zuschnappen nach oben kommen kann.

Dieses subterrane Wild jagt die Besatzung des Medes, wegen Fleisch & Tran & Pelz & aufgrund der Philosophie – der Obsession – von Zug-Kapitänin Naphi, die den Maulwurf-Leviathan Mocker-Jack hetzt, einen besonders mächtigen & verschlagenen, leichenfarbenen Vertreter seiner grabenden Art. Auf Naphis Maulwurffänger-Zug mit seiner bunt zusammengewürfelten Schar arbeitet der Waisenjunge Sham als ungeschickter Lehrling des Schiffsarztes. Doch eigentlich träumt der gutmütige Sham, der unterwegs eine Fledermaus mit verletztem Flügel adoptiert, von einem Leben als Artefakter, um zu erforschen & zu entdecken. So oder so, am Ende landet Sham infolge mehrerer Verkettungen & Verwicklungen nicht nur im größten & gefährlichsten Abenteuer seines Lebens, sondern jagt sogar dem größten Geheimnis des Gleismeeres hinterher …

Miévilles „Das Gleismeer“ vereint auf gewisse Weise das Beste aus Herman Melvilles einst u. a. von Ray Bradbury (im Shop) als Film adaptiertem literarischen Klassiker „Moby Dick“ & dem Schaffen der Gebrüder Strugatzki (im Shop), wenn man denn unbedingt nach großen, namhaften Vergleichsmöglichkeiten suchen möchte. Gleichzeitig würde ein solcher Vergleich viel zu sehr den Eindruck erwecken, dass China Miéville nach Ausnahmewerken wie seinem jüngsten Roman „Stadt der Fremden“ & natürlich dem kürzlich neu aufgelegten „Perdido Street Station“ (im Shop) hier eine ziemlich gute, aber eben doch bloß eine Hommage geschaffen hat. Doch Miéville ist Miéville, & ihn zeichnet vor allem anderen Originalität aus, & das ist im Fall seiner Meta-Hommage „Das Gleismeer“ nicht anders als in seinen bisherigen Romanen, wenngleich der preisgekrönte Mr. Miéville sich diesmal mit der Selbstbeweihräucherung angenehm zurückhält.

Miéville steht seit Jahren für den Mut &, noch wichtiger, den bewussten Drang, neuartige Geschichten zu erzählen. Beseelt vom New-Wave-Gedanken der Genre-Neuerer um Michael Moorcock, wollte Miéville die Fantasy & die Science Fiction – & alles dazwischen, darin & darüber – in jedem seiner Werke schon immer von Schubladen & von Genre-Gepflogenheiten abbringen & befreien. Mit „Das Gleismeer“ stellt er zudem unter Beweis, dass gute Science Fiction – per Definition Ideenliteratur – nicht zwingend visionär sein muss, ja dass selbst ein unterhaltsamer, postapokalyptischer All-Age-Abenteuerroman voller Referenzen herausragend sein kann, wenn er ideenreich & wortgewaltig aufbereitet ist. Shams Gleismeer-Abenteuer ist ein richtig gutes Garn – eine gute Geschichte, die ebenso gut erzählt wie erdacht ist, & in der Miéville alte Erzähltugenden aufgreift & den Leser gelegentlich sogar daran erinnert, dass er ein Buch liest, & ihn anspricht & involviert. & dann ist da selbstverständlich noch Miévilles herrliche Sprache, die Dank Übersetzerin Eva Bauche-Eppers auch die stilechte, bravouröse, kongeniale deutsche Fassung der Gleismeer-Bahnfahrt im Paperback & E-Book auszeichnet & ferner einmalig macht.

Lange musste man auf eine Übertragung von „Railsea“ warten, das im englischsprachigen Original bereits im Sommer 2012 erschienen ist – noch vor dem bereits erwähnten SF-Highlight „Stadt der Fremden“ & der kaum zu kartografierenden & katalogisierenden DC-Comicserie „Dial H – Bei Anruf Held“, die Miéville anschließend verfasst hat. Das Warten auf diesen in jederlei Hinsicht fantastischen Standalone-Coming-Of-Age-Roman auf dem Schienennetz einer sehr speziellen endzeitlichen Welt hat sich jedoch definitiv gelohnt. „Das Gleismeer“, übrigens mit den Original-Illustrationen des Autors angereichert, zeigt einmal mehr, dass der in London lebende Miéville eine der wichtigsten Stimmen der modernen Fantastik ist, & eine einzigartige obendrein – & dass Vorstellungskraft & Sprache ausschließlich von müden Konventionen & trägem Konformitätsdenken beschränkt werden.

Zum Glück gibt es China Miéville, der uns mit seinen Roman-Wundertüten immer wieder von Neuem daran erinnert, dass diese Grenzen hausgemacht sind & quasi jederzeit überwunden werden können. Besonders gut geht das mit der Unterstützung seiner ungezügelten Fantasie & Sprachgewalt & einem großartigen postapokalyptischen Abenteuer-Roman wie „Das Gleismeer“.

(ps.: Vielleicht wäre „China sucht den Mega-Maulwurf“ doch die richtige Headline für diesen Text gewesen …)

China Miéville: Das Gleismeer • Heyne, München 2015 • 400 Seiten • € 10,99

Kommentare

Bild des Benutzers Shrike

Hab ihn gestern ausgelesen - deshalb stören mich die & in diesem Artikel auch nicht mehr. Daran muss man sich wirklich gewöhnen, das geb ich zu. Aber die Story ist es wert und man gewöhnt sich sehr schnell daran.
Wie in Perdido Street Station finde ich die exakte, detailgenaue Art und Weise schön, in der Miéville seine Welten zeichnet. Seine manchmal gewaltige, immer treffende und vielschichtig erzählende Sprache macht ihn aus.
Und wenn andere Romane nach einer Fortsetzung schreien, fängt er im letzten Kapitel gleich mal damit an. Lesens- und empfehlenswert.

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