13. November 2020 1 Likes 1

„Vergeltung“: Der neue Roman von Robert Harris

Der „Vaterland“-Autor schreibt über die V2-Raketen im Zweiten Weltkrieg

Lesezeit: 3 min.

Seine Karriere begann Robert Harris (im Shop) als Journalist. In den 1980ern veröffentlichte der 1957 geborene Engländer einige Sachbücher (u. a. über die Hitler-Tagebücher und biologische/chemische Kriegsführung), 1992 folgte sein erster Roman „Vaterland“ – eines der besten Alternativwelt-Werke überhaupt und ein düsterer Krimi über ein nationalsozialistisches Deutschland, das den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat. Es folgten Bestseller wie „Pompeji“, „Enigma“ oder die „Cicero“-Trilogie, zuletzt legte Harris mit „Der zweite Schlaf“ (ab Anfang Dezember erstmals im Taschenbuch erhältlich) sogar einen großartigen, weil eigensinnigen postapokalyptischen Roman vor. Harris’ neuestes Buch „Vergeltung“ (im Shop) ist nun einmal mehr ein historischer Thriller, der in der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs einsetzt.

Im Mittelpunkt stehen die V2-Raketen, die Deutschland von der niederländischen Küste aus in den Himmel und in Richtung All abschießt, um am Ende der berechneten Raketenflugbahn London mit dem fortschrittlichen Zerstörungswaffen zu treffen. Entwickelt wird der Raketentyp durch eine Gruppe um den berühmten Wernher von Braun, der mit anderen jungen Männern eigentlich vom Flug zu Mond und Mars träumt, Kurd Laßwitz’ „Auf zwei Planeten“ liest, selbst Science-Fiction-Geschichten schreibt und einen Raumfahrt-Club gründet. Als sich die Gelegenheit bietet, ihre Raketen mit den Mitteln von Hitlers Militärapparat zu bauen, werden Skrupel wegen Ideologie und Kriegsverbrechen schnell überwunden, nimmt man die SS und alles anderes als notwendiges Übel in Kauf. Der fiktive Ingenieur und von Braun-Wegbegleiter Rudi Graf, einer von Harris zwei Protagonisten in „Vergeltung“, findet sich nie mit den Gräueltaten der Nazis ab, die seine Forschung finanzieren. Trotzdem schaut er lange und oft genug weg und hilft dabei, die Raketen gen England auf die Reise zu schicken. Dort erlebt Kay Caton-Walsh, eine junge Offizierin im Frauenhilfsdienst der britischen Luftwaffe und Harris’ zweite Hauptfigur, den Einschlag einer V2-Rakete hautnah in einer Londoner Wohnung. Das und ihr kompliziertes Privatleben treiben Kay förmlich an die Front nach Belgien, wo sie dazu beitragen soll, die Abschussorte der deutschen Raketen aufzuspüren und von britischen Bombern zerstören zu lassen …


Robert Harris. Foto © Bernd Hoppmann

Im Nachwort erzählt Robert Harris, dass er den ersten Lockdown der Covid-19-Pandemie nutzte, um sich jeden Tag vier Stunden in sein Arbeitszimmer zu sperren und innerhalb dieses Lockdowns im Lockdown „Vergeltung“ – „V2“ im Original – zu schreiben. Dazu inspiriert wurde er allerdings schon 2016, als ihn ein Nachruf in der Zeitung auf die Memoiren einer englischen Offizierin der RAF brachte. Im Anhang seines Romans listet Harris noch viele weitere Bücher als Quellen, die ihm bei der Recherche und Verwirklichung seiner aus zwei Perspektiven inszenierten Geschichte halfen, die Ende 1944 einsetzt, als die Niederlage Deutschlands schon weitgehend feststand. „Vergeltung“ ist also gewohnt und spürbar stark recherchiert, aber auch mit viel Routine und Können komponiert sowie geschmeidig geschrieben, was den Plot und die Protagonisten angeht. Dass Harris letztlich nur eine Momentaufnahme, ja, einen späten und isolierten Teilabschnitt des Zweiten Weltkrieges und der Leben seiner Charaktere anreißt, fällt wegen der Intensität, der soliden Fakten und der glaubhaften Stimmung nicht weiter ins Gewicht. Außerdem zündet Harris Gedanken zu Propaganda, Fake News, Gräueln und sinnlosen Opfer eines Krieges an passender Stelle seiner Story.

Wenn Erfahrung auf Können trifft: Ohne Verwunderung, aber mit gewohnt viel Vergnügen liest man auch diesen neuen Roman von Robert Harris, eines erwiesenen Meisters seines Faches. Und weil es diese Zeit des Jahres ist, merkt man sich „Vergeltung“ genauso als potenzielles Weihnachtspräsent vor wie den direkten Vorgänger „Der lange Schlaf“ oder den Evergreen „Vaterland“ – je nachdem, wer beschenkt werden soll.

Robert Harris: Vergeltung • Heyne, München 2020 • 367 Seiten • E-Book: 16,99 (im Shop)

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"Der zweite Schlaf" gibt es derzeit auch als Hörspielversion vom Hessischen Rundfunk.

https://www.hr1.de/programm/hoerspiel-premiere-in-hr1-der-zweite-schlaf,hoerspiel-der-zweite-schlaf-100.html

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