Wenn die Katze auf die Zeitmaschine starrt
Ein Essayband macht den Menschen hinter der Autorin Ursula K. Le Guin sichtbar
Sie gehört zu den ganz wenigen Autorinnen, die auch jenseits des Genres anerkannt werden: Ursula K. Le Guin. Romane wie „The Left Hand of Darkness“ (1969; dt. „Die linke Hand der Dunkelheit“, im Shop) oder „The Dispossessed“ (1974; dt. zuletzt als „Freie Geister“) erhielten nicht nur beide den Hugo und den Nebula Award, sondern haben die Möglichkeiten der SF einzigartig erweitert; ihr „Earthsea“-Zyklus gilt außerdem als bedeutender Beitrag zur Fantasy. Nun macht der autobiographisch grundierte Band „Keine Zeit verlieren. Über Alter, Kunst Kultur und Katzen“ („No Time to Spare: Thinking About what Matters“, 2017) den Menschen hinter der Autorin sichtbar. Es ist das letzte Buch, das zu Lebzeiten von Le Guin (1929–2018) erscheinen konnte, und sammelt die Einträge aus ihrem von dem Literaten José Saramago inspiriertem Blog.
Bei „Keine Zeit verlieren“ handelt es um eine bunte und abwechslungsreiche Revue durch all das, was einen freien Geist bewegt. Es geht beispielsweise um die Fragwürdigkeit von ökonomischem Wachstum, um die Unvereinbarkeit von Glauben und Wissen sowie um die Kompromittiertheit von Literaturpreisen. Über Alter und Körperlichkeit macht sie sich ebenfalls Gedanken. Dabei spart Le Guin nicht an Ironie, wenn sie in Sachen Ernährung vorschlägt, die Menschen mögen sich – um nicht nur das Leid von Tieren, sondern auch das von Pflanzen zu verhindern – als „Oganer“ bloß noch von Luft ernähren. Dann würden sie „stolz ihren Glauben predigen, solange es ihnen möglich ist. Das könnten in manchen Fällen mehrere Wochen sein.“ Spitzen wie diese können jedoch kaum darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei Le Guin um eine überzeugte Humanistin handelt.
Natürlich ist in dem Buch auch von Literatur die Rede, wenngleich eher nebenbei. So macht Le Guin sich Gedanken über die Grundlagen der Phantastik und führt aus: „Eine vollständig erdachte imaginäre Welt ist ein geistiges Konstrukt, das in vielerlei Hinsicht einer religiösen oder einer anderen Kosmologie ähnelt. Diese Ähnlichkeit kann, wenn sie bemerkt wird, für einen orthodoxen Geist zutiefst beunruhigend sein.“ Und über die – überraschende – Ähnlichkeit von Fantasy und Naturwissenschaft: „Beide beruhen in so hohem Maße auf dem Eingeständnis von Ungewissheit, der offenen, akzeptierenden Haltung gegenüber unbeantworteten Fragen.“ In einem anderen Text betont sie die Prozesshaftigkeit von Utopie und Dystopie, indem sie deren Konzept mit dem Yin-Yang-Symbol koppelt: „Es sind große und gleichrangige Kräfte, keine der beiden kann für sich allein existieren, und jede von ihnen ist fortwährend dabei, sich in die andere umzuwandeln.“ Wer Anregungen sucht, wird sie in genau solchen unkonventionellen Ideen finden; gleichwohl wäre es schön gewesen, wenn sich deutlich mehr von ihnen mit Science-Fiction beschäftigt hätten.
Am meisten ist Le Guin aber bei sich, wenn sie von ihrem Kater Purd schreibt, der in ihrer externen Festplatte eine veritable Zeitmaschine vermutet – was vielleicht erklärt, warum er mitunter nirgendwo anzutreffen ist. „Vielleicht benützt er sie, um Lücken in der Zeit zu öffnen“, sinniert sie; vielleicht besucht Purd im Licht der Sterne „das geheimnisvolle Reich, dieses größere ‚Draußen‘, wo er sicher ist und vollkommen zu Hause“. Freundliche Nachtgedanken einer großen Schriftstellerin, nicht immer weltbewegend, aber ein würdiges Abschiedsgeschenk an ihre Leserschaft.
Ursula K. Le Guin: Keine Zeit verlieren. Über Alter, Kunst, Kultur und Katzen • Golkonda • 256 S. • € 18 • E-Book • € 9,99
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